Anlässlich der Verbotsdrohung gegen die Solidaritätsorganisation Urgence Palestine in Frankreich befragte Antoine Larrache am 8. Juli 2025, also noch vor dem Einmarsch in Gaza Stadt, den französisch-palästinensischen Aktivisten Salah Hamouri zum Aufbau des palästinensischen Widerstands vor Ort und weltweit.
Interview mit Salah Hamouri
| Warum will [der frz. Innenminister] Retailleau Urgence Palestine und Jeune Garde (Junge Garde) auflösen? |
Ich denke, dass Urgence Palestine und Jeune Garde, jeweils in ihrem Aktionsfeld, ein sehr aktives Umfeld aufgebaut haben. Diese Organisationen haben eine andere Dimension, eine andere Denkweise, eine neue Art von politischer Analyse und Engagement eröffnet. Sie haben neue Leute rekrutiert, eine neue Generation von Aktivist:innen, und konnten so einen Teil der französischen Gesellschaft erreichen. Urgence Palestine hat es geschafft, die politische Debatte in Frankreich in Bezug auf Palästina zu beeinflussen. [1]
Ich denke, Retailleau steht dabei nicht allein; hinter dieser Offensive steckt auch israelischer Druck. Konkret: Retailleau folgte einer Aufforderung rechter Abgeordneter mit Verbindungen zu Israel, Urgence Palestine aufzulösen. Dasselbe gilt für Palestine Action in Großbritannien, deren Berufung am 5. Juli abgelehnt wurde. [2]
Es gibt einen gesellschaftlichen Druck, weiterhin humanitäre Unterstützung zu leisten, ohne sich politisch für Widerstand und internationalistische Belange zu engagieren.
| Was unterscheidet Urgence Palestine von der traditionellen pro-palästinensischen Bewegung? |
Ich denke, der Hauptunterschied liegt in der Position und dem Stellenwert, die einige Palästinenser:innen dort eingenommen haben. In Frankreich, wie auch anderswo, waren sie lange quasi unsichtbar. Wir glauben, dass die palästinensische Diaspora in Zukunft eine sehr wichtige politische Rolle im Kampf und im Widerstand spielen wird.
Wir müssen uns politisch wieder stärker organisieren, um wieder die Position einzunehmen, die uns die Osloer Abkommen in den letzten 30 Jahren nach 1994 nehmen wollten. Inzwischen ist überall – in Frankreich, aber auch in den USA, London und Barcelona – eine palästinensische Generation erwacht, die als treibende Kraft hinter allen Ereignissen nach dem 7. Oktober bis heute fungiert.
In London spielen gleich mehrere palästinensische Bewegungen eine Schlüsselrolle. Es gibt eine aktive palästinensische Generation in Frankreich, im „Beitna“ [3] in Belgien und unter den Palästinenser:innen in Barcelona, die schon vor dem 7. Oktober sehr aktiv waren. Unsere Diaspora ist aufgewacht und schickt sich an, die politische Kontrolle zurückzugewinnen.
| Innerhalb der Bewegung ändert sich derzeit die Einschätzung der Oslo-Abkommen. |
Viele Palästinenser:innen sehen die Oslo-Abkommen als eine Katastrophe, die „dritte Nakba“, bloß diesmal mit Billigung von palästinensischer Seite. Damals wollten es die Menschen nicht wahrhaben; vor allem diejenigen, die gesehen hatten, wie Arafat und Rabin einander die Hand gaben. Überall hieß es, dies sei das Ende des Konflikts, Israelis und Palästinenser würden in Frieden leben, ohne die grundlegenden Fragen – Kolonisierung, Besatzung – anzusprechen und ohne die unterzeichneten Abkommen näher zu analysieren. Das zweite Abkommen, das Pariser Abkommen von 1996 über die wirtschaftlichen Fragen, ist das schlimmste.
Insofern war es ein Abkommen, das den Anspruch erhob, ein Friedensabkommen zu sein, ohne dem besetzten Volk irgendwelche Rechte zurückzugeben. Durch Oslo erhielten die Palästinenserinnen keine grundlegenden Rechte zurück.
| Ganz zu schweigen von der Palästinensischen Autonomiebehörde … |
Ja. Wenn man die Situation akzeptiert, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man ist politisch naiv, oder man möchte sich einer potentiell aufwendigen politischen Verpflichtung entziehen.
Aber heute kann niemand naiv sein und die Realität nicht erkennen. Diejenigen, die an der Zweistaatenfrage und den Oslo-Abkommen festhalten, wollen sich der politischen Verantwortung entziehen und schweigen – sowohl über die Palästinensische Autonomiebehörde als auch über die Realität des anhaltenden Völkermords.
| Hast Du Informationen darüber, wie die Bevölkerung, insbesondere im Westjordanland, vorgeht und Widerstand leistet? |
Es gibt mehrere miteinander zusammenhängende Probleme. In den letzten Monaten haben wir ein neues Phänomen beobachtet: die Entstehung neuer bewaffneter Gruppen mit Verbindungen zu den Israelis. Sie verfolgen die gleiche Strategie wie seinerzeit die Südlibanesische Armee [4] und haben im südlichen Gazastreifen zwei Milizen gegründet: die von Abu Shabab in Rafah und eine weitere in Khan Younis. In einem Interview mit der israelischen Zeitung Yedioth Ahronoth erklärte Yasser Abu Shabab unmissverständlich, dass seine kollaborierenden Milizen von der Palästinensischen Autonomiebehörde, der israelischen Armee und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützt werden. Sie koordinieren den Aufbau bewaffneter Milizen mit Verbindungen zu den Besatzern im Gazastreifen. Es handelt sich um dieselben Gruppen, die humanitäre Hilfsgüter gestohlen und die Bevölkerung angegriffen haben.
Auch im Westjordanland gibt es eine neue Entwicklung: Obwohl die Palästinensische Autonomiebehörde schwach ist, will sie die Lage wieder politisch bestimmen. Prominente Persönlichkeiten und Familien mit Beziehungen zu den Besatzern versuchen, Hebron zu einem unabhängigen Staat mit direkten Verbindungen zu den israelischen Besatzern zu erklären. Das ist nichts Neues. 1978 gab es ein israelisches Projekt namens Rawābit al-Qurā („Dörferbund“), dessen Ziel es war, bestimmte Bürgermeister zu umgehen und mit anderen, insbesondere in den großen Städten, zusammenzuarbeiten. Sie waren Kollaborateure; das Ziel war, die PLO [5] durch diese Bürgermeister zu ersetzen. Einige von ihnen wurden jedoch von im Westjordanland vertretenen Organisationen getötet.
Heute erleben wir das politische Ende der Palästinensischen Autonomiebehörde. Sie hat keine soziale Basis mehr. Die Israelis suchen daher nach einer Alternative zur Kontrolle der palästinensischen Gebiete. Sie wissen genau, dass das Vakuum gefüllt werden muss. Entweder gelingt es ihnen, neue Kollaborateure zu installieren – also halten sie Ausschau in alle Richtungen, zu den Clans oder in Wirtschaftskreise. Oder es entwickelt sich ein Widerstand, selbst wenn die politischen Parteien schwach sind. Sie wissen genau, dass im Westjordanland jederzeit eine Volksbewegung ausbrechen kann, daher versuchen die Israelis, dies zu verhindern. Sie wissen genau, dass das Westjordanland ein strategisch wichtiges Gebiet ist, das nicht verloren gehen darf, weil eine Bewegung dort ihnen tausendmal mehr Schaden zufügen kann als im Gazastreifen. Das haben wir während der ersten und der zweiten Intifada gesehen.
| Wir haben dort in den letzten Jahren auch Mobilisierungen unter der Jugend und neue Aktivistengruppen erlebt. |
2021 wurde versucht, Sheikh Jarrah, einen Stadtteil von Jerusalem, zu zerstören. Eine Offensive wurde daraufhin gestartet, und das alarmierte die Israelis. Die Bewegung brach in ganz Palästina aus: in den Gebieten von 1948 [6], in Jerusalem, im Westjordanland, im Gazastreifen und in der Diaspora. Es war das erste Mal seit 1948, dass in allen fünf Gebieten gleichzeitig gehandelt wurde. Ich denke, 2021 hat den Begriff „palästinensisches Volk“ wieder mit Leben gefüllt. Rund um den Widerstand entstand eine politische Einheit. Das alarmierte die Israelis, die erkannten, welche Gefahr das Erwachen von Millionen Palästinensern in Israel, Jerusalem und im Westjordanland für die gesamte israelische Kolonialisierung darstellt.
| Was ist von dieser Bewegung noch übrig? |
Die Israelis haben diese Bewegung unterdrückt: Tausende Verhaftungen, jahrelange Inhaftierungen und die anschließenden Zerstörungen im Westjordanland. Ich glaube, dass im Westjordanland und in Jerusalem bald wieder etwas passieren wird, dass es explodieren wird.
Wie wird es passieren? Was wird der Auslöser sein? Wir wissen es nicht. Aber die enorme Repression, der Vormarsch der Siedlungen, die Zerstörung werden unerträglich. Wir sehen die Flucht in das nördliche Westjordanland, die Flüchtlingslager im Norden, das, was die Armee Plan X [7] genannt hat.
Ich glaube, die Menschen sehen den Moment kommen, in dem es keine Zukunft mehr gibt, keine Perspektive mehr, keine Lösungen mehr, weder menschlich noch politisch. Der Moment, in dem nichts mehr übrig ist. Und ich denke, wir sind nicht weit vom Ausbruch einer großen Revolte entfernt.
| Hast Du Informationen darüber, wie der Widerstand in Gaza vonstattengeht? |
Wir befinden uns in einem Guerillakrieg, das ist klar. Aber es gibt kein organisiertes, zentrales Kommando. Überall gibt es erfahrene Widerstandskämpfer, die sich in den Städten und auf jeweils heimischem Boden bewegen.
Gestern fand beispielsweise eine Operation in Beit Hanoun im hohen Norden, nahe der Grenze, statt – einer Stadt, die zu Beginn des Krieges vor 20 Monaten dem Erdboden gleichgemacht wurde. Dennoch gab es auf Seiten der israelischen Armee fünf Tote und 15 Verletzte. Die Israelis wissen, dass sie umso mehr Verluste erleiden werden, je länger sie in Gaza bleiben.
Gaza ist praktisch unbewohnbar; zwei Drittel des Gebiets sind besetzt, nur das Zentrum ist noch unbesetzt. Die Israelis begründen ihre Nichtbesetzung damit, dass sich ihre Gefangenen in diesem Gebiet befinden und sie nicht riskieren sollten, getötet zu werden. In Wirklichkeit wissen sie, dass sie umso mehr Verluste erleiden werden, je länger sie vor Ort bleiben.
Heute gibt es Erklärungen von Yair Lapid – einem Kandidaten für das Amt des Premierministers – und ehemaligen Generälen, die besagen, dass die Präsenz in Gaza zu zahlreichen Verlusten in der israelischen Armee führen wird und dass sie sich aus Gaza zurückziehen, einen Gefangenenaustausch – mit palästinensischen politischen Gefangenen – anstreben und versuchen müssen, eine Lösung zu finden.
Ich denke, der Widerstand dort kann noch Jahre andauern; die Bewohner:innen sind gut organisiert, sie leisten Widerstand, und dieser Widerstand wird von der Bevölkerung getragen.
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| Allerdings mit enormen menschlichen Verlusten. Einige Studien sprechen von Hunderttausenden Todesopfern. Hast Du Informationen, wie das in Jordanien aufgenommen wird? |
Während der imperialistischen Invasion Israels und der USA im Iran half Jordanien Israel. Es beherbergt amerikanische, französische und britische Stützpunkte. Dreitausend US-amerikanische Soldaten sind dort stationiert.
Sie wissen, dass Jordanien auch für die Palästinenser strategisches Gebiet ist. Der Sturz des dortigen Regimes würde eine gewaltige politische Explosion in der Region und weltweit auslösen. Es hat die längste Grenze zu Palästina. Das Regime ist schwach, wird aber durch die Repression der Sicherheitskräfte an der Macht gehalten. Seit dem 7. Oktober kam es zu Tausenden von Verhaftungen in der Bevölkerung und auch in den palästinensischen Flüchtlingslagern.
Als das Rote Meer durch die Angriffe der Huthi blockiert war, diente Jordanien als Ausweichroute und öffnete die „Landbrücke“ zwischen Israel und Saudi-Arabien. Jordanien spielte somit eine wichtige Rolle bei der Lösung der israelischen Wirtschaftskrise. Dies ist seine Rolle seit 20 Monaten.
| Wie wird es mit der Mobilisierung weitergehen? |
Es ist schwer vorherzusagen, was passieren wird. Es könnte sehr schnell zu einem 60-tägigen Waffenstillstand kommen. Trump sagt, er sei entschlossen, den Krieg zu beenden, also werden wir sehen, was passiert.
In meinen Augen besteht die Herausforderung darin, die PLO auf der Grundlage revolutionärer Prinzipien zu erneuern und allen politischen Parteien den Beitritt zu ermöglichen. Wir brauchen ein langfristiges Kampfprogramm, denn es gibt heute keine politische Lösung. Wir müssen zunächst ein Kräftegleichgewicht schaffen, und da sind die Palästinenser:innen gefordert. Wir brauchen wieder ein Engagement, das auf Widerstand basiert, um dadurch essentielle Veränderungen herbeizuführen.
| Und wie muss sich die Solidaritätsbewegung entwickeln? |
Auch sie muss die politische Sprache ändern und sich dem Widerstand zuwenden. Und dann wird sich auch alles rund um die Palästinenser:innen ändern.
Was Urgence Palestine und die Palästinenser:innen im Allgemeinen angeht, besteht unsere politische Aufgabe darin, das aktive Engagement zu stärken und die politische Analyse über die Bedeutung des Widerstands und einer grundlegend politischen Solidarität zu vertiefen. Dies darf sich nicht auf humanitäre Unterstützung beschränken; wir müssen uns politisch und auf aktivistischer Ebene engagieren. Das ist unsere Rolle für die kommenden Monate und Jahre.
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Salah Hamouri ist ein frz.-palästinensischer Rechtsanwalt und Wissenschaftler, der über 10 Jahre als politischer Gefangener in israelischen Gefängnissen saß. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2025 (November/Dezember 2025). | Startseite | Impressum | Datenschutz