Nahost

Bankrott der „westlichen Wertegemeinschaft“

Die Mitte Mai 2025 gestartete neue Offensive der israelischen Armee versetzt einige Regierungen des Westens zwar in Erklärungsnöte. Doch eine Änderung ihrer Politik ist nicht zu erwarten.

Jakob Schäfer

Am 16. Mai startete die IDF (israelische Armee) ihre „Gideon’s Chariots“ genannte Offensive. Neu daran ist, dass nun erstmals „regierungsoffiziell“ verlautbart wurde, was das Ziel ist, nämlich die dauerhafte Besetzung (Einnahme) des Gazastreifens (mindestens großer Teile desselben). Hier nun haben die meisten Regierungen des „freien Westens“ ihre Probleme, treten sie doch im Fall der Ukraine oder ähnlicher Konflikte für die „Einhaltung des Völkerrechts“ und die „Unverletzlichkeit von Grenzen“ ein.

 

Menschenrechte

Der Westen hatte nie ein Problem mit Menschenrechten, aber ein Problem damit zu identifizieren, wer ein Mensch ist (London 2023, Foto: Alisdare Hickson)

Dass seit dem 19. Oktober 2023 ein erbarmungsloser Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung geführt wird, hat die Regierungen der „westlichen Wertegemeinschaft“ nicht gekümmert und wurde gebetsmühlenartig mit dem „Recht auf Selbstverteidigung“ erklärt. Heuchlerisch daran war und ist, dass während der ganzen Zeit die Fakten klar sind und spätestens seit Bekanntwerden des „Plans der Generäle“ [1] deutlich war, dass die Herrschenden in Israel die Gelegenheit des Angriffs vom 7. Oktober 2023 und die Geiselnahme nutzen, dem Ziel eines Großisrael (Erez Israel) ein bedeutendes Stück näher zu kommen, und zwar mittels einer drastischen Verschärfung ihrer Politik der ethnischen Säuberung.

Es ist die spezifische Verbindung des langanhaltenden, völkermörderischen Kriegs im Gazastreifen mit der nicht mehr zu leugnenden Zielsetzung der israelischen Regierung (nämlich der dauerhaften Besetzung), was es den westlichen Regierungen seit kurzem so schwer macht, einfach nur zu schweigen. Dabei haben vorangegangene Grenzverletzungen vonseiten Israels im Libanon und in Syrien den Westen lediglich veranlasste, zur „Mäßigung“ aufzurufen. Die aktuellen Erklärungen der westlichen imperialistischen Regierungen zum Gazakrieg sollen nun die Bevölkerung im eigenen Land wie auch die Regierungen im Globalen Süden von der Werteorientierung mindestens der europäischen Regierungen überzeugen. Dabei wird aber verschwiegen:

Die „westliche Wertegemeinschaft“ hat trotz des bekannten Ausmaßes des Kriegs gegen die Bevölkerung im Gazastreifen der israelischen Regierung unablässig den Rücken gestärkt.

Die Kritiker in den eigenen Ländern wurden und werden weiterhin unterdrückt, vor allem in den USA und in Deutschland. Dass sich bei uns sogar Teile der Linken vor den Karren der „Deutschen Staatsräson“ spannen lassen, ist besonders traurig. [2]

Vor allem aber: Die westlichen imperialistischen Staaten haben ohne Unterlass Waffen (vor allem Unmengen an Munition) nach Israel geliefert, nicht zuletzt die 500-Pfund-Bomben, mit denen selbstredend keine „Terroristen“ ins Visier genommen werden können. Sie sind per se auf maximale Zerstörung ausgelegt.

„Die Zahlen sind unglaublich. Israel warf innerhalb eines Jahres mehr als 100 Tonnen Bomben auf Gaza ab. […] Den Angaben zufolge warf die israelische Armee innerhalb von sechs Monaten, zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 24. April 2024, etwa 70 Tonnen Bomben auf den Gazastreifen […] und ebenso viel in den darauf folgenden sechs Monaten, von Mai bis Oktober 2024. [3]“ Übrigens: Etwa 10 % der abgefeuerten Landmunition explodierten nicht und stellen eine dauerhafte Gefahr dar. Lancet, eine der weltweit führenden medizinischen Fachzeitschriften, schätzt die Zahl der Todesopfer auf 186 000. Die Zahl der Verletzten und für immer Verstümmelten beträgt ein Vielfaches davon.

Es sind nicht nur die menschlichen Opfer und die fehlenden (weil blockierten) Hilfslieferungen: Die gesamte Infrastruktur ist zerstört. Es gibt keine Wasserversorgung, keine Schulen, keine funktionierenden Krankenhäuser usw. All dies wissen die Regierungen in Washington, Berlin und anderswo und sie wissen, dass sie dafür mitverantwortlich sind. So ist ihr ganzes Gerede von der schwierigen humanitären Lage im Gazastreifen nur leeres Geschwätz.


Eine Frage der Geopolitik


Zurzeit existieren in der „westlichen Wertegemeinschaft“ zwei verschiedene Linien der Außenpolitik.

Die Mehrheit der europäischen Staaten verfolgt die Linie, das Verhängen von Sanktionen oder ihr direktes Eingreifen in andere Länder mit dem Schutz der Menschenrechte und der Unverletzlichkeit der Grenzen zu rechtfertigen. Bis zum Regierungswechsel in den USA war dies in groben Zügen auch dort die offizielle Linie, wobei man sich in der Wirklichkeit allerdings keinen Dreck darum scherte. Es war eben nur die nach außen (gegenüber dem Rest der Welt) genutzte „Erklärung“ ihrer Interventionspolitik. Schon immer waren die wirklichen ökonomischen und militärischen Interessen das Ausschlaggebende. Clinton zum Beispiel erklärte seinerzeit sein Nichteingreifen in den Kaschmirkonflikt damit, dass sein Land dort keine eigenen Interessen habe und sich deshalb ein Eingreifen nicht lohne.

Die neue US-Regierung erklärt ganz offen, dass sie Machtpolitik betreibt, weil sie die Interessen der USA (Make America Great Again, MAGA) verfolgt. In Wirklichkeit sind es natürlich die Interessen der Reichen und Mächtigen in den USA, nicht der breiten Bevölkerung.

Speziell die europäischen Regierungen haben (noch) Schwierigkeiten, auf diese Politikvariante umzuschwenken, schließlich haben sie lange Zeit – auch und gerade im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg – ihre Politik mit dem „Völkerrecht“ erklärt und wollen nun nicht in der eigenen Bevölkerung und gegenüber dem Globalen Süden noch mehr an Glaubwürdigkeit verlieren. Da sie allerdings unter dem Druck der Rechtspopulisten stehen (einige sind ja schon an der Regierung), kann sich auch in Europa in Zukunft eine weniger verschleierte, offenere Machtpolitik durchsetzen. Exponierte Vertreterin dieser Linie ist die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas.

Aufgrund dieser Tendenz und vor alle wegen der geopolitischen Zusammenhänge sollte klar sein, dass trotz der Erklärungen verschiedener europäischer Spitzenpolitiker:innen eine Änderung der EU-Politik gegenüber Israel völlig unrealistisch ist, besonders in der Frage der Waffenlieferungen (die USA stehen sowieso unverbrüchlich hinter der israelischen Politik). Denn wichtig ist ihnen die Rückendeckung für ihren engsten Verbündeten in der Region. Geopolitische Machtinteressen wiegen nun mal schwerer als die Bekenntnisse zum Völkerrecht. Schon in den 1950er Jahren bezeichnete die israelische Zeitung Haaretz Israel als den Kettenhund des Imperialismus.


Ethnische Säuberung und Völkermord


Von Anfang an haben wir erklärt, dass es sich bei diesem Krieg um eine neue Stufe der ethnischen Säuberung handelt. Schon nach wenigen Wochen wurde klar, dass er dieses Mal die brutale Form des Völkermords annahm. Dies war und ist nur möglich, weil der jahrzehntelang „eingeübte“ und praktizierte Rassismus dieses Siedlerstaates gegenüber den Palästinenser:innen (und gegenüber anderen arabischen Menschen) so tief in der Gesellschaft verwurzelt ist, dass auch das Grauen dieses Kriegs nur wenig Widerstand unter jüdischen Israelis hervorruft. Auch unter denjenigen, die sich aktiv für ein Ende des Kriegs einsetzen, um auf diese Weise die Geiseln freizubekommen, empfinden nur die wenigsten Empathie mit der gemarterten palästinensischen Bevölkerung.

Mit dem Verlauf des aktuellen Gazakriegs und der Zuspitzung zum Völkermord erweist sich übrigens auch der völlige Bankrott der sogenannten Anti-Deutschen, die letztlich völkisch argumentieren. Für sie gibt es keine gleichen Rechte aller Menschen, keinen Universalismus.

All dies darf uns allerdings nicht dazu verleiten, die Überzeugungsarbeit gegenüber der Mehrheitsgesellschaft in Israel oder auch hierzulande gegenüber den Anhänger:innen der „Deutschen Staatsräson“ einzustellen. Mehreres gilt es unablässig zu analysieren und in unserem jeweiligen Umfeld in geeigneter Form zu vermitteln:

Erstens: Die Politik der israelischen Regierung hat nicht erst mit der jüngsten Offensive die Form des Völkermords angenommen, sondern schon wenige Wochen nach Beginn dieses neuen Gazakriegs; siehe dazu die Auszüge aus der Rede der irischen Anwältin Blinne Ní Ghrálaigh, am 11.1.2024 und vom 28. April 2025 vor dem IGH, die wir in diesem Heft (Auszüge aus Reden vor dem Internationalen Gerichtshof, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025)) dokumentieren.

      
Mehr dazu
Editorial: Israel als imperialistischer Stoßtrupp im Nahen Osten, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Büro der Vierten Internationale: Israel jetzt stoppen!, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025). Auch bei intersoz.org.
Erklärung aus der iranischen Opposition, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025). Auch bei intersoz.org.
Samah Salaime: Die Rechte der Frauen sind teilbar, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Qassam Muaddi: Der Massenmord in Gaza, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Jodie Jones: Abschiebung wegen Palästinasolidarität, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Hermann Dierkes: Der Anfang vom Ende?, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Auszüge aus Reden vor dem Internationalen Gerichtshof, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Al-Mounadil-a: Solidarität in Marokko, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Gideon Levy: Geschichte als Feigenblatt, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Büro der Vierten Internationale: Trump und Netanjahu: Todfeinde der Völker im Nahen Osten und weltweit! Hände weg vom Iran!, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025) (nur online). Auch bei intersoz.org.
 

Zweitens: Das, was seit über einem Jahr (und verschärft seit einigen Wochen) im Westjordanland geschieht, kann ebenfalls nicht mit „Selbstverteidigung“ Israels gerechtfertigt werden. Auch in diesem völkerrechtswidrig besetzten Gebiet, wo die palästinensische Bevölkerung seit Jahrzehnten unter extremen Bedingungen der Apartheid lebt und unterdrückt wird, finden unablässig Angriffe auf die einfache, unbewaffnete Bevölkerung statt. Vor allem rassistische israelische Siedler – oft unterstützt von der Armee – schikanieren und ermorden Menschen, die nur einen Fehler haben, nämlich Palästinenser:innen zu sein und das Land nicht freiwillig zu verlassen. Die Palästinenser:innen stehen dem Traum von einem ethnisch gesäuberten Großisrael im Weg.

Drittens: Auch ein Sieg über die Hamas (was immer das konkret bedeutet) würde nicht zu einer Lösung des Konflikts führen. Die Mehrheitsgesellschaft in Israel (also die dortige jüdische Bevölkerung) profitiert von der Apartheidpolitik (schließlich werden auch die in Israel lebenden 2 Millionen Palästinenser:innen unterdrückt). Der israelische Staat sorgt dafür, dass die jüdische Mehrheitsgesellschaft ihre privilegierte soziale Stellung gegenüber der palästinensischen Bevölkerung nicht verliert. Den Rassismus in Israel gilt es aufzubrechen, denn ohne eine Aussöhnung und die Durchsetzung gleicher Rechte und gleicher sozialer Verhältnisse wird der Konflikt nicht zu lösen sein.


„Gaza ist der moralische Kompass der Welt“


So urteilt Pfarrer Munther Isaac (Westjordanland) am 3.5.2025 auf dem Palästinatag in Hannover über das Verhalten der Regierungen in aller Welt, aber auch der Kirchen, die sich oft noch nicht einmal trauen, diesen Kritiker der israelischen Politik zu ihren Veranstaltungen einzuladen. Die evangelische Kirche hat noch nicht einmal zu einem Waffenstillstand aufgerufen.

Von Amnesty International bis Human Rights Watch sind die Urteile seit Beginn der massiven Bombardierung des Gazastreifens mehr als eindeutig. Seit Dezember 2024 sprachen mehr und mehr Organisationen und Personen von Völkermord. John J. Mearsheimer sprach in diesem Zusammenhang am 24.12.2024 und bezogen auf die aktive Hilfestellung des Westens von “The Moral Bankruptcy of the West.” [4]

Alex Lo, Kolumnist der South China Morning Post, kommt am 11. Mai 2025 zu dem Schluss: „Der Westen hat im Gaza-Krieg bereits sein eigenes Grab geschaufelt“. Er schreibt: „In vielen westlichen Ländern, aber vor allem in den Vereinigten Staaten und in Deutschland, wird eine außergewöhnliche Zensur ausgeübt, um jeden zum Schweigen zu bringen, der versucht, das auszusprechen, was in Palästina vor sich geht und was jeder bereits weiß. Es ist kein Zufall, dass die beiden Länder, die den Holocaust als universelle politische Bildung am meisten nutzen, die beiden Länder sind, die am aktivsten einen Völkermord in Echtzeit ermöglichen, der begangen und live auf unseren Computerbildschirmen und Social-Media-Seiten gezeigt wird. […] Der Westen kümmert sich mehr um die Gefühle der Schlächter als um das Leben und die Gliedmaßen der Opfer. Die westliche ‘Zivilisation’ klingt jetzt wie ein Widerspruch in sich selbst.“ [5]

Der UN-Menschenrechtsrat hat bereits bei seiner Tagung vom 26.2.–5.4.2024 einen Bericht unter dem Titel „Anatomie eines Völkermords“ vorgelegt. [6] Seitdem hat sich die Zahl der Opfer dramatisch erhöht. Und dennoch haben so manche Menschen (auch unter der Linken) Schwierigkeiten, von Völkermord zu sprechen. Weil man sich der „Deutschen Staatsräson“ beugt?


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Mehr dazu in: Jakob Schäfer, Michael Weis: Israels Krieg gegen eine ganze Bevölkerung, die internationale Nr. 6/2024 (November/Dezember 2024)

[2] Mehr zur „Deutschen Staatsräson“ unter: Jakob Schäfer, Michael Weis: Wider die deutsche Staatsräson, die internationale Nr. 4/2024 (Juli/August 2024)

[3] Mehr Details unter: https://euromedrights.org/fr/?s=gaza&lang=fr

[4] https://mearsheimer.substack.com/p/the-moral-bankruptcy-of-the-west

[5] The Western world has already dug its own grave in Gaza war

[6] Agenda item Human Rights situation in Palestine and other occupied Arab territories: Anatomy of a Genocide