Nahost

Auszüge aus Reden vor dem Internationalen Gerichtshof

Auszüge aus der Öffentlichen Anhörung des Internationalen Gerichtshofs (Den Haag) vom 28. April 2025 über die Verpflichtungen Israels in Bezug auf die Präsenz und die Aktivitäten der Vereinten Nationen, anderer internationaler Organisationen und von Drittstaaten in dem besetzten palästinensischen Gebiet.

Ammar Hijazi (Botschafter Palästinas bei internationalen Organisationen in den Niederlanden):

Der UN-Generalsekretär hat Gaza als „Todesfeld, in dem Zivilisten in einer endlosen Todesspirale gefangen sind“ [1] beschrieben. […]

Am 21. November 2024 stellte der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle für den israelischen Premierminister und nun seinen ehemaligen Kriegsminister aus, unter anderem, weil sie der Zivilbevölkerung in Gaza vorsätzlich Nahrungsmittel, Wasser, Medizin und andere Lebensgrundlagen vorenthalten haben [2]. […]

Zusammenfassend lässt sich sagen: Israel ist eine unrechtmäßige Besatzungsmacht, die wegen Völkermordes vor Gericht steht; sein Premierminister wird vom IStGH gesucht. [3]

[Israel] versucht, das palästinensische Volk zu vernichten und Palästina auszulöschen, unter anderem durch die Behinderung und Blockade humanitärer Organisationen, und verstößt damit auch gegen seine Verpflichtungen aus der Charta der Vereinten Nationen und anderen völkerrechtlichen Instrumenten. […]

Herr Präsident, Mitglieder des Gerichtshofs, laut UNICEF hat der israelische Angriff seit dem 18. März 2025 [4] täglich 100 palästinensische Kinder in Gaza getötet und verletzt. Dies ist zusätzlich zu den mehr als 15 000 Kindern, die Israel seit dem Beginn des Völkermords getötet hat, und den Tausenden, die noch unter Tonnen von Schutt von dem, was einst ihre Schulen und Häuser waren, vermisst werden.

Israels Völkermordkampagne hat Gaza in die Heimat der größten Gruppe von amputierten Kindern pro Kopf in der Welt verwandelt. Ihre Gliedmaßen werden ohne angemessene Medizin oder Pflege amputiert – manchmal sogar ohne Betäubungsmittel. Viele überleben nicht, wie das Baby Sham Muhareb, dessen Arm nach einem Bombenschlag auf ihr Haus 18 Tage zuvor amputiert wurde.

Die Völkermordkampagne Israels richtet sich auch gegen Mitarbeiter und Organisationen der Vereinten Nationen und anderer humanitärer Organisationen in Gaza. Dabei wurden über 408 UN-Mitarbeiter getötet, darunter fast 300 Mitarbeiter des UNRWA. [Israel hat] auch 27 palästinensische Sanitäter des Roten Halbmonds in Gaza und 113 zivile Notfallhelfer getötet. Diese Tötungen sind vorsätzlich und nicht zufällig.

Ní Ghrálaigh [5] führte ebenfalls am 28.4.2025 aus:

Die Entscheidung [des Generalsekretärs der Vereinen Nationen am 24. März 2025, die Präsenz der UNRWA im Gazastreifen zu verringern] erinnert an frühere Völkermorde in Ruanda und Bosnien. Sie folgte auf Israels Bruch des Waffenstillstands­abkommens am 18. März 2025 und die Wiederaufnahme der Belagerung und auf den Großangriff auf Gaza. Wie vom israelischen Verteidigungsminister Israel Katz angedroht, „schlossen sich die Tore von Gaza ... und die Tore der Hölle ... öffneten sich wieder“. Israel tötete fast 500 Menschen, darunter mehr als 180 Kinder, in den tödlichsten 24 Stunden in Gaza seit Oktober 2023. […]

Die letzten 18 Monate waren die schlimmsten in der Geschichte der Vereinten Nationen. [6] Von den über 418 in Gaza getöteten Hilfskräften waren 295 Mitarbeiter der Vereinten Nationen. Die meisten von ihnen – Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern, Ingenieure, Betriebspersonal – waren Palästinenser:innen. Die meisten palästinensischen Mitarbeiter:innen bleiben in Gaza. Ihre eigene Präsenz verringert sich ebenfalls jeden Tag, da sie verletzt und getötet werden. Wie Ärzte ohne Grenzen feststellten, „wurde Gaza in ein Massengrab für Palästinenser und für diejenigen, die ihnen zu Hilfe kommen, verwandelt“. […]

Wie kürzlich von dem israelischen Finanzminister Smotrich bestätigt: „Für 75 % der Bevölkerung Gazas ist es nicht ihre Heimat. Wissen Sie, was ihre Heimat ist? Haifa, Tiberias, Akko, Jaffa .... Dies ist eine Flüchtlings­bevölkerung, die seit 1948 [in Gaza] lebt.“ [7] […]

Auch im Westjordanland – einschließlich Ostjerusalem – unterwirft Israel dieselbe Flüchtlings­bevölkerung zusammen mit anderen Palästinenser:innen, darunter auch diejenigen, die seit Beginn der israelischen Besatzung im Jahr 1967 gewaltsam vertrieben wurden, anhaltenden und sich verschärfenden Angriffen. Israels anhaltende Massenvertreibungen, die Zerstörung von Häusern, ganzen Flüchtlingslagern und notwendiger Infrastruktur sowie die immer wiederkehrenden Tötungen palästinensischer Männer, Frauen und Kinder drohen, in den Worten des UN-Generalsekretärs, die Westbank in „ein weiteres Gaza“ zu verwandeln.

Nachdem Israel 77 Jahre lang das Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr und das unabänderliche Recht der Palästinenser:innen auf Selbstbestimmung in Verletzung des Völkerrechts und der UN-Resolutionen [8] verweigert hat, strebt es nun danach, die Palästinenser:innen als Gruppe zu zerstören, einschließlich indem es ihnen Lebensbedingungen auferlegt, die auf ihre Zerstörung ausgerichtet sind, indem es immer mehr palästinensisches Territorium beansprucht [9] und indem es Gaza in ein unbewohnbares Ödland verwandelt, das nicht in der Lage ist, menschliches Leben aufrechtzuerhalten.

Nachdem Israel die Fähigkeit des palästinensischen Volkes, sich selbst zu versorgen, vorsätzlich zerstört hat, verstärkt es nun die „Instrumentalisierung“ der „Nahrungsmittel- und Hilfsgüter­lieferungen“, auf die so viele Palästinenser seit langem für ihr Überleben angewiesen sind. Außerdem versucht es, die UNRWA zu zerstören. Die UNRWA ist die von den Vereinten Nationen beauftragte Organisation, die den Menschen lebensnotwendige Hilfe und Unterstützung leisten muss, darunter auch „die Verhinderung von Hunger und Not“, bis eine gerechte und dauerhafte Lösung ihrer Notlage im Einklang mit dem Völkerrecht, einschließlich der Resolution 194 (III) der Generalversammlung von 1948, gefunden ist. […]

In Verletzung der Anordnung des Gerichtshofs zur „Erhaltung von Grenzübergängen im offenen Gelände“ hat Israel alle Grenzübergänge geschlossen, insbesondere den „Grenzübergang Rafah“, den zuvor der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen als „die symbolische Lebensader für 2,3 Millionen Menschen in Gaza“ beschrieben hat. Und es verwandelte Rafah selbst – einst ein Zufluchtsort für fast 1,5 Millionen vertriebene Palästinenser:innen – in ein postapokalyptisches Ödland.

Bereits am 11.1.2024 hatte Blinne Ní Ghrálaigh vor dem IGH die Sache der Palästinenser:innen vertreten, indem sie für den Antrag der Republik Südafrika sprach. [10]

      
Mehr dazu
Editorial: Israel als imperialistischer Stoßtrupp im Nahen Osten, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Samah Salaime: Die Rechte der Frauen sind teilbar, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Qassam Muaddi: Der Massenmord in Gaza, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Jodie Jones: Abschiebung wegen Palästinasolidarität, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Hermann Dierkes: Der Anfang vom Ende?, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Jakob Schäfer: Bankrott der „westlichen Wertegemeinschaft“, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Al-Mounadil-a: Solidarität in Marokko, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Gideon Levy: Geschichte als Feigenblatt, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Büro der Vierten Internationale: Schluss mit der Blockade von Gaza!, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025) (nur online). Auch bei intersoz.org.
DOSSIER: Palästina, die internationale Nr. 3/2025 (Mai/Juni 2025).
 

Sehr geehrte Vorsitzende, sehr geehrte Mitglieder des Gerichts,

es besteht dringender Handlungsbedarf für sofortige Maßnahmen, um Palästinenser:innen in Gaza vor den nicht wiedergut­zumachenden Schäden zu schützen, die Israel unter Verletzung der Völkermord­konvention begeht.

Der Generalsekretär der Vereinen Nationen und die Mitglieder des Sekretariats der UN beschreiben die Lage in Gaza […] als eine Krise der Menschheit, eine Hölle auf Erden, ein Blutbad, eine Situation extremen und sich ständig vertiefenden, beispiellosen Horrors, in der eine ganze Bevölkerung belagert und angegriffen wird und keinen Zugang zu lebensnotwendigen Gütern hat.

Wie der Generalsekretär für humanitäre Angelegenheiten letzten Freitag erklärte: „Der Gazastreifen ist zu einem Ort des Todes und der Verzweiflung geworden. Familien schlafen im Freien, während die Temperaturen sinken, und Gebiete, in die Zivilist:innen zu ihrer Sicherheit umgesiedelt werden sollten, werden unerbittlich bombardiert.“ […]

Es handelt sich um eine Bevölkerung, die Israel bereits durch 16 Jahre Militärblockade und lähmende Entwicklung verwundbar gemacht hatte. […]

Insbesondere in Bezug auf die Völkermord­konvention erinnerte der Gerichtshof in der Rechtssache Gambia-Myanmar daran, dass „die Vertragsstaaten ausdrücklich ihre Bereitschaft bekräftigt haben, Völkermord als ein Verbrechen nach dem Völkerrecht zu betrachten, das sie unabhängig vom Friedens- oder Kriegskontext, in dem es stattfindet, verhindern und bestrafen müssen.“

Manch einer mag sagen, dass der Ruf des Völkerrechts selbst, seine Fähigkeit und Bereitschaft, alle Völker gleichermaßen zu binden und zu schützen, auf dem Spiel steht, aber bei der Völkermordkonvention geht es um viel mehr als um einen juristischen Präzedenzfall. Der Gerichtshof erinnerte an die Resolution der Generalversammlung von 1946 zum Verbrechen des Völkermords, in der es heißt: „Völkermord ist die Verweigerung des Existenzrechts ganzer menschlicher Gruppen, so wie Mord die Verweigerung des Lebensrechts einzelner Menschen ist. Eine solche Verweigerung des Existenzrechts erschüttert das Gewissen der Menschheit und führt zu großen Verlusten für die Menschheit in Form von kulturellen und anderen Beiträgen, die diese menschlichen Gruppen darstellen, und steht im Widerspruch zum Sittengesetz sowie zum Geist und zu den Zielen der Vereinten Nationen.“

Obwohl in der Völkermord­konvention die Notwendigkeit anerkannt wird, die Welt von der abscheulichen Geißel des Völkermords zu befreien, hat die internationale Gemeinschaft wiederholt versagt. Sie hat das Volk von Ruanda im Stich gelassen, sie hat das bosnische Volk im Stich gelassen und sie hat die Rohinga im Stich gelassen, was dieses Gericht dazu veranlasst hat, Maßnahmen zu ergreifen, und sie hat erneut versagt, indem sie die frühzeitigen Warnungen internationaler Experten vor der ernsten Gefahr eines Völkermords am palästinensischen Volk seit dem 19. Oktober letzten Jahres ignoriert hat. Die internationale Gemeinschaft lässt das palästinensische Volk weiterhin im Stich, trotz der offenkundig entmenschlichenden völkermörderischen Rhetorik israelischer Regierungs- und Militärbeamter, die mit den Aktionen der israelischen Armee vor Ort einhergehen. Trotz des Schreckens des Völkermords am palästinensischen Volk, der live aus Gaza auf unsere Mobiltelefone, Computer und Fernsehbildschirme übertragen wird, ist dies der erste Völkermord in der Geschichte, bei dem die Opfer ihre eigene Zerstörung in Echtzeit übertragen, in der verzweifelten und bislang vergeblichen Hoffnung, dass die Welt etwas unternehmen könnte.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) bezeichnet den Gazastreifen als ein moralisches Versagen. Wie der Chef der Vereinten Nationen betonte, hat dieses Versagen „Auswirkungen nicht nur auf die Menschen in Gaza, sondern auch auf die kommenden Generationen, die diese mehr als 90 Tage der Hölle und die Angriffe auf die grundlegendsten Gebote der Menschlichkeit nie vergessen werden“. Es gibt keinen sicheren Raum in Gaza und die Welt sollte sich schämen. […]

Übersetzungen: J: S:



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] United Nations, Secretary-General’s Press Encounter, 8. April 2025

[2] International Criminal Court, “Situation in the State of Palestine: ICC Pre-Trial Chamber I rejects the State of Israel’s challenges to jurisdiction and issues warrants of arrest for Benjamin Netanyahu and Yoav Gallant”, Press Release, 21. November 2024.

[3] International Criminal Court, “Situation in the State of Palestine: ICC Pre-Trial Chamber I rejects the State of Israel’s challenges to jurisdiction and issues warrants of arrest for Benjamin Netanyahu and Yoav Gallant”, Press Release, 21. November 2024.

[4] Post of the Commissioner-General of UNRWA, Philippe Lazzarini, @UNLazzarini, 3:42 pm, 4 April 2025.

[5] Die irische Anwältin Blinne Ní Ghrálaigh, – die in Irland und England praktiziert – hat bereits für die südafrikanische Delegation für deren Klage gegen Israel vor dem IGH Stellung genommen und jetzt als Mitglied der palästinensischen Delegation zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen Israels.

[6] UN Secretary-General, António Guterres, @antonioguterres (10.20 p.m., 15 January 2024),; UN OCHA, Humanitarian Situation Update #278 | Gaza Strip (8 April 2025).

[7] Israelischer Finanzminister Bezalel Smotrich in einem Interview mit Israeli KAN 11 TV, verfügbar bei Middle East Monitor, @MiddleEastMnt (12.40 p.m., 2. März 2025).

[8] Siehe im Besonderen die Resolutionen der UN-Vollversammlung 194 (1948) und 302 (1949) sowie 3236 (1974) und die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats 237 (1967) und 608 (1988).

[9] Prime Minister Netanyahu’s statement (2. April 2025).

[10] https://www.youtube.com/watch?v=ZS6IYp0BErg – eigene Übersetzung.