Nach der Darstellung der historischen Dahatte vor 1914 geht unser Autor im zweiten Teil seines Beitrags auf die praktischen Erfahrungen mit Nationalitätenkonflikten in der jungen Sowjetunion ein.
Andreas Kloke
Die Ereignisse des Ersten Weltkriegs, die Russische Revolution mit der Auflösung des zaristischen Reiches und der Zusammenbruch Osterreich-Ungarns führten 1918-20 zur Gründung neuer kleinerer Staaten (Finnland, Polen, CSR, baltische Staaten, Ungarn, Jugoslawien) in Osteuropa und widerlegten alle früheren Theorien über „geschichtslose Völker" und den „nationalen Nihilismus" der polnischen Sozialdemokratie und anderer sowie den deutschfreundlichen Opportunismus des Austromarxismus.
Es bestätigte sich, dass Lenins Analysen aus der Zeit vor 1917, die stets den engen Zusammenhang der Forderungen der Arbeiterbewegung, der Agrarfrage und der nationalen Frage betont hatten, zutrafen.
Der Verlauf der russischen Revolution und die folgenden Bürgerkriegsiahre illustrieren in einer Kette fortlaufender Ereignisse, wie die Unterschätzung oder die Ignorierung der Bedeutung der nationalen Frage den Fortschritt der sozialen Revolution entscheidend hemmen und schließlich zur bürokratischen Entartung beitragen können.
Die Politik des Februarregimes
Die Februarrevolution brachte alle nationalen Gegensätze des zaristischen „Völkergefängnisses“, die sich endlich frei äußern konnten. zum Ausbruch. wobei die Auseinandersetzungen – dem Revolutionsverlauf entsprechend – an Schärfe nichts zu wünschen übrig ließen. Trotzki analysierte die nationale Frage in seinem Werk über die Russische Revolution zusammengefasst wie folgt:
Der zaristische Vielvölkerstaat bestand aus 70 Mio. Großrussen (43 % der Bevölkerung), während 90 Mio. anderen Nationalitäten angehörten (17 % Ukrainer, 6 % Polen, 4,5 % Weißrussen u.a.). Das Februarregime verfolgte eine Politik der formalen juristischen Gleichstellung der Staatsbürger – unter anderem wurden 650 (!) Bestimmungen aufgehoben, die die Rechte der Juden beschränkt hatten – und versuchte so, den Konfliktherd unter Kontrolle zu halten. Im Übrigen ließ es nichts unversucht, um eine wirkliche Gleichstellung der Nationen zu verhindern. Als Finnland als erste Nation seine Unabhängigkeit von Russland erklärte, setzte Kerenski die finnische Regierung eigenmächtig ab. Erst 2 Tage vor ihrem Sturz erkannte die Kerenski-Regierung die staatliche Unabhängigkeit Finnlands an.
Die neu errungenen demokratischen Freiheiten seit dem Februar 1917 und die formale nationale Gleichheit erzeugten innerhalb weniger Wochen und Monate das nationale Erwachen vieler Völker und erstmals betraten die bäuerlichen Massen als selbständige Akteure die Bühne der geschichtlichen Ereignisse. Das plötzliche Auftauchen und die Formulierung ihrer Forderungen – in der Ukraine, in Estland, Lettland, in vielen asiatischen Gebieten etc. – war direkt mit der beschleunigten Herausbildung ihres Nationalbewusstseins verbunden. Die Gewährung der formalen Gleichheit verstärkte das schmerzliche Gefühl, dass in Wirklichkeit keine Gleichheit erreicht worden war, und trug so zur Verschärfung der Krise in den sozialen und nationalen Beziehungen bei.
Die politischen Kräfte der russischen Bourgeoisie – vor allem die Kadetten–verurteilten alle nationalen Ambitionen der unterdrückten Völker als vom äußeren Feind, d. h. dem deutschen und österreichischen Generalstab, gesteuert. Im September 1917 erklärte die Regierung schließlich die Anerkennung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung, aber es bestand keinerlei. Vertrauen mehr in die Ernsthaftigkeit ihrer Deklarationen. In Wahrheit waren weder die „demokratische" russische Rechte noch die regierenden Menschewiki auch nur im Entferntesten bereit, die Ukraine, wo gewaltige ökonomische Interessen, ihr Getreide, die Kohle des Donez-Beckens und die Eisenindustrie von Kriwoi Rog auf dem Spiel standen, in die Unabhängigkeit zu entlassen.
Ein bedeutender Faktor war die Schwäche der Bourgeoisie in allen unterentwickelten und unterdrückten Nationen. Sie bestand im Wesentlichen aus ausländischen Oberschichten, die ihre Stellung der Ausbeutung der einheimischen, überwiegend bäuerlichen Massen verdankten. In der Ukraine und in Weißrussland dominierten russische, polnische und jüdische Bourgeois und Grundbesitzer, in den baltischen Ländern bildeten Deutsche, Russen und Juden die herrschende Klasse, in Georgien und Aserbaidschan eine russische und armenische Minderheit. Dem in den unteren Schichten aufkommenden Nationalismus der unterdrückten Völker setzten die Herrschenden einen arroganten und verlogenen Internationalismus entgegen.
Nationale Frage und Permanente Revolution
Die unmittelbaren Auswirkungen der nationalen Problematik in den revolutionären Ereignissen von 1917 waren verschiedenartig und oft widersprüchlich. Die „versöhnlerischen" kleinbürgerlichen Kräfte und die rechtsgerichteten Arbeiterparteien fühlten sich in den nichtrussischen Gebieten noch sicher, da diese in der Regel weniger entwickelt waren. Dies gilt z. B. für die Ukraine. Die bäuerlichen und proletarischen Schichten drängten die Führungen der unterdrückten Völker oft in Auseinandersetzungen mit dem Februarregime. Die asiatischen Nationalitäten, die in einem Zustand großer Rückständigkeit und Unterdrückung lebten, sahen keine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. Ihr nationales Erwachen vollzog sich häufig gleichzeitig mit dem Kampf gegen die fremden – russischen – Großgrundbesitzer. Enttäuscht von der Regierung Kerenski entwickelten sie oft Bolschewismus-freundliche Tendenzen. In Lettland und Weißrussland führten die nationalen Spannungen zu einer Verschärfung der sozialen Konflikte und damit zur Stärkung des Bolschewismus.
Im Allgemeinen ergab sich die Tendenz, dass die unterdrückten Nationen in unversöhnlichen Gegensatz zur russischen Bourgeoisie und den diese stützenden Parteien gerieten. Je bedrohlicher sich aber die Oktoberrevolution näherte, desto heftiger äußerten sich sezessionistische Tendenzen bei den herrschenden Klassen der nichtrussischen Länder. die zuvor beste Beziehungen zum Zarismus und danach zu den ..demokratischen" Vertretern der russischen Bourgeoisie gepflegt hatten. Dies wurde in den Unabhängigkeitserklärungen Georgiens und der baltischen Länder deutlich. Während die Kräfte der sozialistischen Revolution an Boden gewannen, wurde die nationale Frage immer mehr zur Bemäntelung der sozialen Gegensätze missbraucht. Charakteristisch für die einigermaßen verworrene Situation war die Haltung des allukrainischen Soldatenkongresses in Bezug auf den Oktoberaufstand in Petrograd: einerseits verweigerte er die Machtübergabe in der Ukraine. andererseits aber beschloss er. die russische Erhebung nicht als „antidemokratischen Akt" zu betrachten und keine Truppen zu ihrer Niederwerfung bereitzustellen.
Trotzki bemerkt dazu: „So zeigte neben den anderen Problemen auch das nationale der Provisorischen Regierung das Medusenhaupt. auf dem sich jedes Haar der März- und Aprilhoffnungen in eine Schlange von Hass und Empörung verwandelt hatte."
Russland war gerade wegen seiner historischen Rückständigkeit ein Nationalitätenstaat, gleichzeitig aber ein Land der komplizierten kombinierten Entwicklung. offen für die letzten technologischen Neuerungen und das moderne sozialpolitische Denken. Trotzki schreibt: „Um mit Rasputins Ideen und Methoden ein Ende zu machen, waren für Russland die Ideen und Methoden von Marx erforderlich. (...)
Der unabwendbare und unaufhaltsame Übergang der Massen von elementarsten Aufgaben der politischen, agrarischen und nationalen Entsklavung zur Herrschaft des Proletariats ergab sich nicht aus 'demagogischer' Agitation, nicht aus vorgefassten Schemen, nicht aus der Theorie der permanenten Revolution, wie die Liberalen und Versöhnler wähnten, sondern aus Russlands sozialer Struktur und den Bedingungen der internationalen Lage. Die Theorie der permanenten Revolution formulierte diesen komplizierten Entwicklungsprozess nur.
Es handelt sich hier nicht allein um Russland. Die Eingliederung der verspäteten nationalen Revolutionen in die proletarische Revolution hat ihre internationale Gesetzmäßigkeit. Während im neunzehnten Jahrhundert die Hauptaufgabe der Kriege und Revolutionen noch immer darin bestand, den Produktivkräften den nationalen Markt zu sichern, besteht die Aufgabe unseres Jahrhunderts darin, die Produktivkräfte aus den nationalen Grenzen, die für sie eiserne Fesseln geworden sind, zu befreien."
Die Haltung der Bolschewiki
Rosa Luxemburg kritisierte die Bolschewiki in ihrer Schrift über die russische Revolution mit der Behauptung, der ukrainische Nationalismus habe im Grunde nur eine Erfindung einer Handvoll Intellektueller und der bolschewistischen Propaganda dargestellt.
In Wirklichkeit war das Erscheinen dieses Nationalismus ein notwendiges Stadium in der Herausbildung des Bewusstseins breitester, vor allem bäuerlicher Schichten, die nur so in den revolutionären Prozess eintreten konnten. Mit den Worten Trotzkis: "Das Hauptverdienst der Februarumwälzung, vielleicht das einzige, aber völlig hinreichende, bestand gerade darin, dass es den unterdrückten Klassen und Nationalitäten Russlands endlich die Möglichkeit gegeben hatte, laut ihre Stimme zu erheben. Das politische Erwachen der Bauernschaft konnte aber nicht anders vor sich gehen als vermittels der eigenen Sprache mit allen sich daraus ergebenden Folgerungen in Bezug auf Schule, Gericht, Selbstverwaltung. Sich dem zu widersetzen, hätte den Versuch bedeutet, die Bauernschaft in das Nichtsein zurückzustoßen."
Diese Auffassung ist mit der 2-Etappen-Theorie der Revolution, nach der erst eine gesonderte Phase der Durchführung der bürgerlich-demokratischen Aufgaben und der nationalen Befreiung erforderlich ist, unvereinbar. Sogar die bolschewistische Partei hatte nach dem Februar 1917 eine Zeit lang diese inkorrekte Haltung eingenommen. Stalin war der Meinung, die nationale Unterdrückung sei ein Merkmal des Absolutismus und könne durch die bürgerliche Demokratie überwunden werden. Erst mit dem Auftreten Lenins im. April fand die Partei die grundsätzlich richtige und revolutionäre Orientierung in der nationalen Frage.
Obwohl Lenin von allen Führerinnen der Arbeiterbewegung seiner Zeit wohl das tiefste Verständnis der nationalen Frage entwickelt hatte, zeigte sich nach der Oktoberrevolution, dass die bolschewistische Partei über kein klares strategisches Konzept verfügte, um die wichtigsten nationalen Probleme des jungen Sowjetstaats erfolgreich zu lösen. Von entscheidender Bedeutung war die ukrainische Frage, die auch international eine Rolle spielte, da ein Teil der Ukraine, der bis 1918 unter dem Namen „Galizien" zu Österreich-Ungarn gehört hatte, nach 1920 unter polnischer Oberhoheit verblieb und andere Gebiete von Rumänien und der Tschechoslowakei annektiert wurden.
Zum besseren Verständnis sollen hier einleitend einige grundsätzliche Informationen gegeben werden: „Als das zaristische Russland 1917 zusammenbrach, gründeten ukrainische Nationalisten eine Versammlung (‚Rada') und forderten die Unabhängigkeit der Ukraine. Nach der bolschewistischen Revolution rief die Versammlung die Ukrainische Volksrepublik aus. Obwohl die Bolschewiki anfangs die neue Republik anerkannten. setzten sie später eine andere Regierung ein und im Februar 1918 wurde die ganze Ukraine von sowjetischen Truppen besetzt. Einen Monat später aber wurde sie nach dem Frieden von Brest-Litowsk an die Deutschen abgetreten. Die Ukraine war in den nächsten beiden Jahren der Schauplatz der meisten Konflikte des Bürgerkriegs und schließlich wurde 1920 die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik gegründet.
Im Vertrag von Riga wurde 1921 die westliche Ukraine Polen, der Tschechoslowakei und Rumänien zugesprochen. während der östliche Teil eine der Gründungsrepubliken der Sowjetunion wurde. Die 20er Jahre waren eine Zeit der nationalen Entwicklung, der Förderung des Gebrauchs der ukrainischen Sprache und des relativen Wohlstands der bäuerlichen Bevölkerung. Das Einsetzen der Kollektivierung des Landes hatte schwerwiegende Folgen. darunter eine Hungersnot. in der Millionen Ukrainer umkamen. Die politische Unterdrückung in der Zeit des Stalinismus. die sich auch gegen die nationale Identität richtete, war in der Ukraine besonders drückend. Der Zweite Weltkrieg verursachte in der Ukraine gewaltige Zerstörungen mit dem Ergebnis, dass 6 Mio. Menschen ums Leben kamen."
Die umstrittene Gründung der ukrainischen KP 1918
Die Haltung der bolschewistischen Partei in der ukrainischen Frage blieb bis zum November 1919 unklar und widersprüchlich. Lenin war der Auffassung. dass die unterdrückten Nationen die Wahl hätten, entweder ihre staatliche Unabhängigkeit zu verwirklichen oder sich vollständig in den Sowjetstaat zu integrieren. Er unterschied zwischen herrschender und beherrschter Nation, glaubte aber, dass die Nationalismen in beiden Fällen grundsätzlich bürgerlicher Natur seien. In diesem Punkt war er noch ein Stück von der Auffassung der permanenten Revolution entfernt, derzufolge das nationale Erwachen und die Agrarrevolution eines zurückgebliebenen Landes in die sozialistische Revolution hinüberwachsen können und müssen.
Auch Trotzki hatte diesen Zusammenhang noch nicht vollständig verstanden. Er hatte als erster die Gesetze der permanenten Revolution in Russland entdeckt, war aber noch nicht in der Lage, alle Schlussfolgerungen aus seiner zutreffenden Theorie in Bezug auf den revolutionären Prozess in den unterdrückten Ländern des aufgelösten Zarenreichs zu ziehen.
Innerhalb der russischen KP (Bolschewiki) gab es außerdem eine starke Strömung, die Lenin als ..imperialistischen Ökonomismus" charakterisierte und die wenig Verständnis für die besonderen Probleme der unterdrückten Völker zeigte.
Die KP gebrauchte in ihrer Presse und Propaganda auch in der Ukraine ausschließlich das Russische. Erst nach dem Einmarsch der deutschen Besatzertruppen im Februar 1918 wurde eine unabhängige KP der Ukraine gegründet, in der mehrere verschiedene Tendenzen koexistierten. Eine betrachtete die ukrainische Frage als praktisch gegenstandslos und stützte sich auf die russische proletarische Minderheit der Industriegebiete, eine andere repräsentierte die russische Linke Bucharins, die den Frieden von Brest-Litowsk ablehnte (Strömung Pjatakow), eine dritte setzte sich den Aufbau einer völlig unabhängigen Partei und einer sozialistischen ukrainischen Republik zum Ziel (Strömung von Skrypnyk und Shakrai).
Die dritte Tendenz errang auf dem ersten Parteikongress im April 1918 für kurze Zeit die Mehrheit. als beschlossen wurde. die Partei solle unabhängig und als eigene Sektion in die Kommunistische Internationale aufgenommen werden. Kurze Zeit später wurde Kiew von der Armee erobert. deren Führung (Murawiew. Antonov-Owssejenko) sich aber äußerst chauvinistisch verhielt und versuchte. Gegenden mit hohem russischen Bevölkerungsanteil an Russland zu annektieren.
Die erste Konferenz der ukrainischen KP (B) in Moskau beschloss unter dem Einfluss Len ins, die Partei solle einfach eine regionale Abteilung der russischen KP werden und Skrypnyk schied aus der Parteiführung aus. Shakrai opponierte seitdem offen gegen die getroffenen Entscheidungen.
Das Scheitern der Regierung Rakowski
Nach dem Abzug der deutschen Truppen im November 1918, ergriff der Nationalist Petljura die Macht, dessen Regime einer Militärdiktatur gleichkam. Sofort bildete sich aber eine breite oppositionelle Massenbewegung gegen ihn. Die „Borotbisten", eine linke Strömung der Sozialrevolutionäre, die mit dem Bolschewismus sympathisierte, hatten Einfluss in dieser Bewegung. Die Dynamik der permanenten Revolution begann wirksam zu werden.
In diesem sowohl für die russische als auch die ukrainische Revolution günstigen Moment besetzte die Rote Armee wieder die Ukraine. Pjatakow, der bereit war, der ukrainischen Unabhängigkeit bestimmte Zugeständnisse zu machen, wurde nach Moskau abberufen und durch Rakowski ersetzt, der sich allerdings als völlig unfähig erwies, für die besonderen Probleme des Landes Verständnis aufzubringen. In einem Artikel der Regierungszeitung Iswestija bemerkte er, die nationalen Unterschiede zwischen Ukrainern und Russen seien bedeutungslos, die ukrainischen Bauern besäßen kein nationales Bewusstsein, das Nationalbewusstsein sei dabei, zu Gunsten des Klassenbewusstseins zu verschwinden, und die Arbeiterklasse sei rein russischen Ursprungs.
Die Regierung Rakowski, offiziell zuständig für eine „unabhängige Republik", fühlte sich folglich als ausführendes Organ des russischen Arbeiterstaats und verhielt sich entsprechend. Die Konsequenzen für die Sache des ukrainischen – und des russischen – Sozialismus waren katastrophal: Für die Staatsverwaltung und die Armee wurden vorwiegend Angehörige des russischen Kleinbürgertums mit häufig niedrigem Bewusstsein oder Abenteurer wie Machno und Chrychoriew rekrutiert, der sich später gegen die Kommunisten wandte, die „Jesus Christus gekreuzigt" hätten.
Die linksradikale Agrarpolitik führte zu einer Entfremdung der mittleren, teilweise auch der armen Bauern, die sprachliche Russifizierung wurde gefördert und die Losung „Alle Macht den Sowjets" richtete sich schließlich gegen die Bolschewiki.
Die Borotbisten beschrieben die Regierungspolitik in einem Brief an Lenin als „Expansionismus eines roten Imperialismus", d. h. des russischen Nationalismus. In der Folge griff sogar die extreme Linke der Sozialdemokratie zu den Waffen, um gegen die „russische Besatzerregierung" zu kämpfen. In dieser verworrenen Situation tauchte der zaristische General Denikin auf, dessen Truppen die ungarische Revolution isolierten und sogar die russische Revolution bedrohten.
Inzwischen fusionierten die Borotbisten und Shakrai und gründeten die ukrainische KP (Borotbisten), deren Ziel die unabhängige Sowjet-Ukraine war.
Die Wende vom November 1919
In dieser Situation entschloss sich die bolschewistische Führung endlich zu einer Änderung ihrer Politik. Als die Rote Armee im November 1919 gegen Denikin in die Offensive ging, erklärte Trotzki: "Die Ukraine ist das Land der ukrainischen Arbeiter und arbeitenden Bauern. Nur sie haben das Recht, in der Ukraine zu herrschen, sie zu regieren und ein neues Leben in ihr aufzubauen. (...) Vergesst das nie: Eure Aufgabe ist nicht, die Ukraine zu erobern, sondern sie zu befreien. Wenn Denikin endgültig zertrümmert ist, werden die arbeitenden Menschen der Ukraine selbst entscheiden, welcher Art ihre Beziehungen zu Sowjetrussland sein werden. Wir alle sind sicher und wir wissen, dass die Werktätigen der Ukraine sich für die engste brüderliche Union mit ihm aussprechen werden. (...) Es lebe die freie und unabhängige Sowjet-Ukraine!"
Sogar Rakowski sah jetzt seine Fehler ein und ein von Lenin im ZK eingebrachter Antrag bestätigte den freien Gebrauch der ukrainischen Sprache. In einem als offenen Brief formulierten Manifest erkannte Lenin zum ersten Mal die uneingeschränkte Unabhängigkeit der Ukraine an: „Wir großrussischen Kommunisten haben mit den ukrainischen Kommunisten und Borotbisten Differenzen und diese Differenzen betreffen die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine, die Modalitäten des Bündnisses mit Russland und allgemein die nationale Frage. (...) Bezüglich dieser Fragen dürfen keine Differenzen bestehen. Sie werden vom allukrainischen Sowjetkongress entschieden werden." Die Wende brachte spektakuläre Erfolge und der ukrainische Aufstand trug entscheidend zur Niederlage Denikins bei. Im März 1920 beschlossen die Borotbisten die Vereinigung mit den Bolschewiki. Die ukrainische KP wurde aber auch daraufhin nicht als eigenständige Sektion in die Komintern aufgenommen.
Der Krieg mit Polen 1920
Wenig später drangen Truppen des bürgerlich beherrschten Polen mit der Unterstützung einiger Einheiten Petljuras in die Ukraine ein. Dieser Angriff löste in Russland eine ungeheure Welle von Chauvinismus aus, die sich der Kontrolle der Sowjetregierung entzog.
„Für die konservativen Kreise Russlands war dies ein Krieg gegen den ewigen Erbfeind, mit dessen Wiederauferstehen als unabhängiger Nation man sich nicht abfinden konnte, ein wahrhaft russischer Krieg, wenn auch unter der Führung der bolschewistischen Internationalisten. Für die orthodoxe Kirche war es ein Kampf gegen die unrettbar dem römischen Katholizismus verfallenen Menschen, ein christlicher Kreuzzug, obwohl die gottlosen Kommunisten die Macht ausübten."
Eins der ersten Opfer des Aufschwungs des russischen Nationalismus war wieder die Ukraine. Die Auswirkungen des chauvinistischen Klimas waren so stark, dass der Kommissar für Auswärtiges Tschitscherin wieder die Annexion des Donez-Beckens an Russland vorschlug. Die aus den Borotbisten hervorgegangenen ukrainischen Kommunistinnen folgerten daraus, dass „der Kolonisierungsplan der Großmacht heute in der Ukraine" als „Ausdruck eines alten, aber noch lebendigen großrussischen imperialistischen Chauvinismus" dominierte.
Auf diese Weise blieben soziale und nationale Revolution in der Ukraine getrennt, anstatt im Prozess der permanenten Revolution miteinander zu verschmelzen. Die den Ukrainerinnen von den Bolschewiki gemachten Versprechungen wurden nie eingelöst.
Vermutlich noch schlimmer waren die langfristigen Folgen des erfolglosen Angriffs der Roten Armee auf Polen. Es ist merkwürdig und auch tragisch, dass gerade Lenin es war, der diesen Krieg befürwortet hatte, der fast unvermeidlich in der Reaktion und im Aufstieg des polnischen Nationalismus enden musste. Der polnische Nationalstolz blieb damit dauerhaft mit dem Antikommunismus verbunden.
Die Tragödie der ukrainischen Revolution wäre zu vermeiden gewesen, wenn die Bolschewiki vor der Revolution eine geeignete Strategie entwickelt hätten. „Vor allem wenn sie, statt eine russische Partei in der Ukraine zu bilden, die Frage des Aufbaus einer revolutionären Partei des Proletariats der unterdrückten Nation gelöst hätten. Zweitens, wenn sie den Kampf für die nationale Befreiung der Ukraine in ihr Programm aufgenommen hätten. Drittens, wenn sie die politische Notwendigkeit und die historische Berechtigung der Nationalrevolution in der Ukraine und die Losung der ukrainischen Unabhängigkeit anerkannt hätten. Viertens, wenn sie das russische Proletariat (in Russland und in der Ukraine) und die Basis ihrer eigenen Partei im Geist der bedingungslosen Unterstützung dieser Losung und dadurch gegen den Chauvinismus der herrschenden Nation erzogen hätten."
Nur so hätte eine wirkliche Vereinigung der revolutionären Prozesse in Russland und in der Ukraine erreicht werden können.
Die bürokratische Unterdrückung der Ukraine verschärfte sich stufenweise in den 20er Jahren und nahm mit der Kollektivierung (1929) Dimensionen offenen Terrors und des Bürgerkriegs der Stadt gegen das Land an. Millionen Menschen kamen in einer Hungersnot um. Gleichzeitig wurden im Namen des Kampfes gegen den „ukrainischen Nationalismus" extrem repressive Maßnahmen gegen alle Formen innerparteilicher Opposition ergriffen.
Für eine freie, unabhängige, Sowjet-Ukraine!
Im Mai 39 schreibt Trotzki einen Artikel über „Die ukrainische Frage", in dem er die Losung für eine „geeinte, freie und unabhängige Sowjet-Ukraine der Arbeiter und Bauern" aufstellt. Der Artikel argumentiert zusammengefasst wie folgt:
Seit die stalinistische Bürokratie die Macht usurpiert hat, ist die Ukraine im Wesentlichen zu einem Verwaltungsbezirk und einer Militärbasis der UdSSR herabgesunken. „Nirgendwo haben die Einschränkungen, Säuberungen, Repressionsmaßnahmen und allgemein alle Formen bürokratischer Gangstermethoden eine derart mörderische Wende genommen wie in der Ukraine im Kampf gegen die mächtige, tief verwurzelte Sehnsucht der ukrainischen Massen nach mehr Freiheit und Unabhängigkeit."
Da die Sowjet-Ukraine unter der bürokratischen Herrschaft aufgehört hatte, einen Anziehungspol für die außerhalb ihr lebenden Ukrainerinnen zu bilden, war die Losung der einigen und unabhängigen Ukraine geeignet, den Kampf gegen den Imperialismus – auch Hitler hatte begonnen, die besonderen Probleme der Ukraine für seine Zwecke auszunutzen – und gegen das totalitäre stalinistische Regime miteinander zu verbinden.
Auf den Einwand, die Lostrennung der Ukraine könnte die UdSSR in einem kritischen historischen Moment schwächen, antwortete Trotzki: „Aber die Unabhängigkeit einer vereinigten Ukraine würde die Trennung der Sowjet-Ukraine von der UdSSR bedeuten, werden die ‚Freunde‘ des Kreml im Chor ausrufen. Was ist daran so schrecklich? – erwidern wir. Die leidenschaftliche Verehrung der Staatsgrenzen ist uns fremd. Wir sind keine Anhänger des ‚einigen und unteil baren‘ Ganzen. Im Übrigen erkennt sogar die Verfassung der UdSSR das Recht der sie konstituierenden Völker auf Selbstbestimmung d. h. auf staatliche Abtrennung an. (...)
Aber würde dies nicht eire militärische Schwächung der UdSSR bedeuten? – werden die ‚Freunde‘ des Kreml erschrocken aufschreien. Wir erwidern, dass die Schwächung der UdSSR durch die ständig steigenden zentrifugalen Tendenzen, die von der bonapartistischen Diktatur erzeugt werden, verursacht wird. Im Kriegsfall kann der Hass der Massen auf die herrschende Clique zum Zusammenbruch aller Oktobererrungenschaften führen. Je früher die gegenwärtige bonapartistische Kaste unterminiert erschüttert. zerschmettert und weggefegt wird, desto sicherer werden die Verteidigung der Sowjetrepublik und desto gewisser ihre sozialistische Zukunft werden."
Nur die ukrainische Arbeiterklasse könnte die Initiative für diesen Kampf ergreifen und ihn führen.
Oberstes Kriterium: der Wille der Menschen selbst
In seinem Artikel „Die Unabhängigkeit der Ukraine und die sektiererischen Wirrköpfe" (Juli 1939) erläutert Trotzki seine Haltung und erklärt den kombinierten Charakter der russischen Revolution.:
„Das Recht auf nationale Selbstbestimmung ist natürlich ein demokratisches und kein sozialistisches Prinzip. Aber ursprünglich demokratische Prinzipien werden in unserer Epoche nur vom revolutionären Proletariat unterstützt und verwirklicht; genau aus diesem Grund sind sie mit den sozialistischen Aufgaben verflochten. Der unversöhnliche Kampf der bolschewistischen Partei für das Recht der unterdrückten Nationalitäten in Russland auf nationale Selbstbestimmung erleichterte in extremer Weise die Machteroberung durch das Proletariat. Es war, als hätte die proletarische Revolution die demokratischen Probleme, vor allem die Agrar- und Nationalprobleme, in sich aufgesogen. Sie verlieh damit der russischen Revolution einen kombinierten Charakter. Das Proletariat war schon dabei. sozialistische Aufgaben durchzuführen, aber es konnte die Bauernschaft und die unterdrückten Nationen, die selbst vorwiegend bäuerlich und mit der Lösung ihrer demokratischen Aufgaben beschäftigt waren. nicht unmittelbar auf dieses Niveau emporheben."
Entscheidend ist für Trotzki, ob es Stalin gelungen ist, das ukrainische Volk davon zu überzeugen. in der UdSSR zu verbleiben:
_Die föderale Struktur der Sowjetrepublik stellt einen Kompromiss zwischen den zentralistischen Erfordernissen der Planökonomie und den dezentralen Erfordernissen der Entwicklung der in der Vergangenheit unterdrückten Nationen dar. Als die bolschewistische Partei einen Arbeiterstaat auf dem Kompromiss-Prinzip einer Föderation aufbaute, schrieb sie das Recht der Nationen auf staatliche Lostrennung in die Verfassung, womit sie darauf hinwies, dass die Partei die nationale Frage als nicht ein für alle Male gelöst ansah. (...)
In politischer Hinsicht stellt sich gar nicht die Frage, ob es ‚im Allgemeinen‘ für verschiedene Nationalitäten von Vorteil ist, im Rahmen eines einzigen Staats zusammenzuleben, sondern zu fragen ist vielmehr, ob eine bestimmte Nationalität es auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen vorteilhaft gefunden hat, einem bestimmten Staat anzugehören, oder nicht. (...)
Oder um es noch konkreter zu sagen: Ist es Stalin und seinen ukrainischen Satrapen gelungen, die ukrainischen Massen von der Überlegenheit des Moskauer Zentralismus gegenüber der ukrainischen Unabhängigkeit zu überzeugen oder nicht?"
Die Unabhängigkeit der Ukraine als Übergangsforderung
Trotzki begegnet dem Einwand, die Unabhängigkeit der Ukraine stehe im Gegensatz zum notwendigen Aufbau der sozialistischen Föderationen: „Der Sektierer (...) ergreift für die Polizei Partei. indem er den Status quo, d. h. die Polizeigewalt mit sterilen Spekulationen über die Überlegenheit der sozialistischen Vereinigung der Nationen gegenüber ihrem Getrennt-Sein bemäntelt. Sicherlich ist die Lostrennung der Ukraine im Vergleich zu einer freiwilligen und egalitären sozialistischen Föderation von Nachteil; verglichen mit der bürokratischen Strangulierung des ukrainischen Volks bedeutet sie aber zweifellos eine Errungenschaft. Die Trennung ist oft die notwendige Voraussetzung, damit eine festere und ehrlichere Einigung erzielt wird."
Der Kampf für die Unabhängigkeit der Ukraine hat Übergangscharakter: „Unter der Herrschaft des Imperialismus ist eine tatsächlich stabile und zuverlässige Unabhängigkeit der kleinen und mittleren Nationen unmöglich. Es ist gleichermaßen wahr, dass die Frage der Staatsgrenzen im voll entwickelten Sozialismus, das bedeutet, mit dem schrittweisen Absterben des Staates, wegfallen wird. Aber zwischen diesen beiden Momenten – dem heutigen Tag und dem vollendeten Sozialismus – stehen die Jahrzehnte, in deren Verlauf wir uns darauf vorbereiten, unser Programm zu verwirklichen. Die Losung einer unabhängigen Sowjet-Ukraine ist von höchster Bedeutung, um die Massen zu mobilisieren und sie in der Übergangsperiode zu erziehen.
Der Sektierer ignoriert einfach die Tatsache, dass der nationale Kampf, eine der labyrinthartigsten und kompliziertesten, aber gleichzeitig extrem wichtigsten Formen des Klassenkampfs, nicht durch inhaltsleere Hinweise auf die zukünftige Weltrevolution aufgeschoben werden kann. (...)
Die Brücke von der Reaktion zur Revolution zu finden – das ist die Aufgabe. Dies ist, nebenbei bemerkt, der Inhalt unseres ganzen Programms von Übergangsforderungen."
Der Hitler-Stalin-Pakt (Aug. 39) und die folgende deutsche Invasion Polens markieren den Beginn des Zweiten Weltkriegs und die Teilung Osteuropas. in „Einflusszonen" zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Die Rote Armee besetzt Ost-Polen (Sep. 39), greift Finnland an (Nov. 39) und besetzt nach verlustreichen Kämpfen bestimmte Regionen und Anfang 1940 auch die baltischen Staaten. In zahlreichen Artikeln erklärt Trotzki seine Haltung zu diesen Ereignissen. Es folgt eine kurze Darstellung seiner Schlussfolgerungen.
Die Notwendigkeit der militärischen Verteidigung der UdSSR für den Fall eines imperialistischen Angriffs wird, trotz der bürokratischen Herrschaft, wesentliches Kriterium für die Bewertung der Geschehnisse.
„Stalins Angriff auf Finnland war selbstverständlich nicht nur eine Handlung zur Verteidigung der UdSSR. Die Politik der Sowjetunion wird von der bonapartistischen Bürokratie geführt. Die Bürokratie ist zuerst und vor allem um ihre Macht besorgt, um ihren Einfluss und ihr Einkommen. Sie verteidigt sich selbst viel besser als die UdSSR. Sie verteidigt sich auf Kosten der UdSSR und auf Kosten des Weltproletariats. Dies wurde nur zu klar durch die ganze Entwicklung des sowjetisch-finnischen Konfliktes aufgedeckt. Daher können wir weder direkt noch indirekt auch nur einen Schatten von Verantwortung für die Invasion in Finnland auf uns nehmen. Diese Invasion stellt nur ein einziges Glied in der Kette der Politik der bonapartistischen Bürokratie dar.
Es ist eine Sache, sich mit Stalin zu solidarisieren, seine Politik zu verteidigen, Verantwortung dafür zu übernehmen – wie es die dreifach berüchtigte Komintern tut –, es ist eine andere Sache, der Weltarbeiterklasse zu erklären, dass wir es nicht zulassen können – welcher Verbrechen Stalin auch immer schuldig sein mag –, dass der Weltimperialismus die Sowjetunion zerschmettert, den Kapitalismus wieder einführt und das Land der Oktoberrevolution in eine Kolonie verwandelt. Diese Erklärung liefert gleichfalls die Grundlage für unsere Verteidigung der UdSSR."
In dieser Situation wird die Unabhängigkeit der kleineren Nationen im Vergleich zum Zusammenstoß zwischen den imperialistischen Mächten unterein ander und mit der Sowjetunion zum zweitrangigen Faktor.
„Sich unter den Bedingungen des Weltkriegs mit dem Schicksal kleiner Staaten vom Standpunkt der ‚nationalen Unabhängigkeit‘ ‚Neutralität‘ usw. zu beschäftigen, bedeutet, in der Sphäre der imperialistischen Mythologie zu bleiben. Der Kampf geht um die Weltherrschaft. (...) Was die kleinen und zweitrangigen Staaten betrifft, so sind sie heute bereits Schachfiguren in den Händen der Großmächte. (...)
Zweitrangige Faktoren wie die nationale Unabhängigkeit Finnlands oder Norwegens, die Verteidigung der Demokratie usw., wie wichtig sie auch für sich genommen sein mögen, sind nun mit dem Kampf der bei weitem mächtigeren Weltmächte verknüpft und ihnen vollständig untergeordnet. Wir müssen die zweitrangigen Faktoren abziehen und unsere Politik nach den grundlegenden Faktoren bestimmen. (...)
Ebenso wie bei Streiks gegen Großkapitalisten die Arbeiter häufig nebenbei sehr ehrbare Geschäfte von Kleinbürgern zu Grunde richten, so kann sich der Arbeiterstaat, der selbst vollkommen gesund und revolutionär ist, im Kampf gegen den Imperialismus oder bei der Suche nach Garantien gegen den Imperialismus gezwungen sehen, die Unabhängigkeit dieses oder jenes Kleinstaates zu verletzen."
Als Verteidigungsmaßnahme der Sowjetunion gegen imperialistische Mächte – Frankreich und Großbritannien – rechtfertigt Trotzki auch den Einmarsch der Roten Armee in Georgien 1921.
Militärische Verteidigung der UdSSR – aber keinerlei Versöhnung mit der stalinistischen Bürokratie
Die militärische Verteidigung der UdSSR bildet aber kein absolutes Kriterium. Von entscheidender Bedeutung ist die Entwicklung des Bewusstseins der Arbeiterklasse und die Stärkung der Selbstorganisierung der Arbeiterinnen:
„Diese Maßnahme (die Beseitigung des kapitalistischen Privateigentums in Ost-Polen). ihrem Charakter nach revolutionär, (...) wird in diesem Fall auf militärisch-bürokratische Weise durchgeführt.
Ruft man die Massen in den neuen Gebieten zu unabhängigen Handlungen auf – und ohne solch einen Aufruf, selbst wenn er mit äußerster Vorsicht ausgedrückt ist, ist es unmöglich, ein neues Regime einzusetzen –, so wird man diese Handlungen zweifellos schon morgen durch grausame Polizeimaßnahmen unterdrücken, um das Übergewicht der Bürokratie über die erwachten revolutionären Massen zu sichern. Dies ist die eine Seite der Angelegenheit. Aber es gibt noch eine andere.
Um Polen durch ein Militärbündnis mit Hitler besetzen zu können, täuschte der Kreml seit langer Zeit die Massen in der UdSSR und in der ganzen Welt und tut dies auch weiterhin. Und dadurch hat er die Reihen seiner eigenen Kommunistischen Internationale völlig zerrüttet.
Das politische Hauptkriterium für uns ist nicht die Umwandlung der Eigentumsverhältnisse in diesem oder jenem Gebiet, wie wichtig sie an sich auch sein mögen, sondern vielmehr die Veränderung im Bewusstsein und in der Fähigkeit des Weltproletariats, das Wachsen seiner Fähigkeit, frühere Errungenschaften zu verteidigen und neue zu erreichen. Nur von diesem Standpunkt aus, und das ist der einzig entscheidende, bleibt die Politik Moskaus, als Ganzes genommen, völlig reaktionär und ist weiterhin das Haupthindernis auf dem Weg zur Weltrevolution."
Obwohl die 4. Internationale die UdSSR militärisch verteidigt, kämpft sie gleichzeitig für den revolutionären Sturz des stalinistischen Regimes.
„Wir betrauen den Kreml nicht mit irgendeiner historischen Aufgabe. Wir waren gegen die Besitznahme neuer Gebiete durch den Kreml – und wir bleiben es. Wir sind für die Unabhängigkeit der Sowjet-Ukraine und, wenn die Weißrussen es wollen – für ein Sowjet-Weißrussland. Gleichzeitig müssen die Mitglieder der Vierten Internationale in den von der Roten Armee besetzten Teilen Polens die entscheidende Rolle spielen bei der Enteignung der Großgrundbesitzer und Kapitalisten, bei der Aufteilung des Landes unter die Bauern, bei der Schaffung von Sowjets und Arbeiterkomitees usw. Dabei müssen sie ihre politische Unabhängigkeit bewahren, sie müssen während der Wahlen zu den Sowjets und den Fabrikkomitees für die völlige Unabhängigkeit der letzteren von der Bürokratie kämpfen; außerdem müssen sie revolutionäre Propaganda führen, die vom Misstrauen gegenüber dem Kreml und seinen örtlichen Vertretungen geprägt ist.
Nehmen wir aber an, Hitler wendet seine Waffen nach Osten und greift die von der Roten Armee besetzten Gebiete an. (...) Während des militärischen Kampfes gegen Hitler werden die revolutionären Arbeiter sich bemühen, ein möglichst enges kameradschaftliches Verhältnis zu den einfachen Soldaten der Roten Armee zu haben.
Während die Bolschewiki-Leninisten mit der Waffe in der Hand Hitler bekämpfen, werden sie gleichzeitig revolutionäre Propaganda führen, um seinen Sturz im nächsten – und vielleicht schon sehr nahen – Stadium vorzubereiten. (...) Unsere Verteidigung der UdSSR wird unter der Losung geführt: 'Für den Sozialismus! Für die Weltrevolution! Gegen Stalin!'"
Trotzki vermied es, die nationale Selbstbestimmung oder die militärische Verteidigung der UdSSR als absolute Kriterien zu definieren, sondern versuchte, seine Einschätzungen aus der jeweiligen konkreten Situation zu entwickeln.
Die späteren historischen Abläufe zeigen, dass weder die Eroberungen von 1939-40 noch der siegreiche Vormarsch der Roten Armee 1944-45 in Osteuropa, der zu dessen Integration in den Block des „realen Sozialismus" führte, ausreichten, um den Zielen der Weltrevolution langfristig zu dienen, wenn sie auch die Herrschaft der stalinistischen Bürokratie für einige Jahrzehnte stabilisierten.
„Insofern die sozialistische Revolution die Selbstbefreiung des Proletariats im Bündnis mit allen anderen ausgebeuteten und unterdrückten gesellschaftlichen Schichten ist, ist sie eng mit der demokratischen Selbstbestimmung der Nation verbunden. Ein Volk, dem der 'Sozialismus' von außen gegen seinen Willen aufgezwungen wird, kann nichts anderes als eine Karikatur des Sozialismus darstellen, die unvermeidlich zur bürokratischen Entartung verurteilt ist."
Ziel dieses Artikels war es zu zeigen, dass
die wesentlichen Ideen Lenins ohne größere Schwierigkeiten auf die heutigen nationalen Probleme anwendbar und vollkommen aktuell sind
die Haltung Lenins auch innerhalb der bolschewistischen Partei nach 1917 alles andere als selbstverständlich war
sogar Lenin und Trotzki erst im November 1919 eine richtige Haltung gegenüber der ukrainischen Frage einzunehmen begannen
der Angriff der Roten Armee auf Polen 1920 eine schwere Verletzung des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung darstellte, dem großrussischen Chauvinismus Auftrieb gab und den polnischen Nationalismus in antikommunistische Richtung lenkte
die Auffassung Trotzkis über die Unabhängigkeit der Sowjet-Ukraine 1938-39 in jeder Hinsicht gerechtfertigt war
solange noch irgendeine (politische, militärische, ökonomische, kulturelle) Form nationaler Unterdrückung oder Ungleichheit besteht, die nationale Frage nicht als „historisch überholt" angesehen werden kann
der Kampf für die nationale Unabhängigkeit eine Aufgabe der bürgerlich-demokratischen Revolution ist, die in der Epoche des Imperialismus eine entscheidende Triebfeder im Prozess der permanenten Revolution darstellt oder darstellen kann
die nationalen Probleme weiterhin einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Verlauf der Klassenkämpfe ausüben.
Die 90er Jahre waren vom Versuch der bürokratischen Eliten der früheren UdSSR, des früheren Jugoslawien und der anderen Länder Osteuropas geprägt, sich in „reguläre" Kapitalistenklassen zu verwandeln. Der Nationalismus erwies sich in diesem Prozess als unverzichtbarer ideologischer Hebel und der Gegensatz zwischen den vorherrschenden und unterdrückten Nationen, der nie wirklich überwunden worden war, verschärfte sich dramatisch und nahm in bestimmten Fällen Ausmaße von versuchtem Völkermord an.
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Der Rassismus und Chauvinismus der Regime der dominierenden Nationen in der Region -in diesem Fall Serbiens und Kroatiens – verschafften dem Imperialismus die Gelegenheit, sich offen einzumischen und in Bosnien und nun in Kosova Protektorate zu errichten.
In dieser Situation beschränkt sich die Bedeutung des Kampfes für nationale Selbstbestimmung nicht auf die Frage des Überlebens der bedrohten kleineren Völker und der Minderheiten. Auf dem Spiel steht die Möglichkeit des praktischen Internationalismus und die internationale Arbeiterbewegung besonders Europas ist aufgerufen, Stellung zu beziehen. In dieser Hinsicht wurde das Scheitern der europäischen sozialdemokratischen, stalinistischen, poststalinistischen und grünen Parteien mehr als deutlich.
Sicher ist es auch eine Frage der politischen und persönlichen Ethik eines jeden Einzelnen, sich dafür einzusetzen, dass Begriffe wie die internationale Solidarität, der Kampf für den Frieden und gegen den Imperialismus, für die demokratischen Rechte und den Sozialismus nicht zu Hohlformeln verkommen oder sogar als eine Parteinahme für kaltblütige Massenmörder missbraucht werden.
Es geht dabei aber für die internationale Arbeiterbewegung auch um die Notwendigkeit, die politischen und ideologischen Grundlagen für den Sturz des kapitalistischen Systems und der einheimischen nationalistisch-bürokratischen Cliquen zu schaffen. Dies war bereits für Marx und Engels der Ausgangspunkt ihrer Haltung gegenüber der nationalen Unterdrückung.
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Athen, August 1999 |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 337/338 (November/Dezember 1999). | Startseite | Impressum | Datenschutz