Ex-Jugoslawien/Nationale Frage

Die Aktualität Lenins in der nationalen Frage und der Zerfall Jugoslawiens

David Jonas

Eine Theorie der Nation gibt es bei Marx und Engels nicht. Ihre Auffassung hat sich im Lauf ihres Lebens geändert und ist nicht frei von Widersprüchen. Z. B. ist Engels Theorie der „geschichtlichen Völker“, derzufolge außer Polen und Ungarn kein osteuropäisches oder Balkanvolk (Kroaten, Serben, Ukrainer, Rumänen, Albaner usw.) ein Recht auf staatliche Eigenexistenz haben sollte, offenbar unmarxistisch. [1] In der 2. Internationale war das Thema „Nation“ heftig umstritten, in der 3. setzte sich unter Stalins Herrschaft die völlige Perversion der demokratisch-sozialistischen Prinzipien durch.

Heute, angesichts des Zusammenbruchs der UdSSR und Jugoslawiens, ist zu bemerken, daß sich die Standpunkte derer, die sich auf den Marxismus berufen, teilweise diametral gegenüberstehen.

Trotz sicherlich vorhandener Lücken einer marxistischen Theorie der Nationen ist wohl schwer zu bestreiten, daß es entwickelte Ansätze dafür gibt, wie die Thematik aus sozialistischer Sicht in der Epoche des Imperialismus zu analysieren und anzugehen ist: es sind die Entscheidungen des Londoner Kongresses der 2. Internationale, Otto Bauers Schrift von 1907 [2] und Lenins Beiträge, die heute zumindest teilweise noch aktuell sind.

Bauer ist trotz ansonsten vieler falscher oder wenigstens überzogener Schlußfolgerungen m. E. doch überzeugend der Nachweis gelungen, daß der Begriff der „Nation“ nicht objektiv zu definieren ist, sondern aus dem historischen Zusammenhang und dem damit verbundenen Bewußtsein der Mitglieder eines Volkes verstanden werden muß. Besonders hervorzuheben ist die Zurückweisung einer „ökonomistischen“ Auffassung, die gerade bei diesem Thema zu völlig falschen Schlußfolgerungen gelangen muß.

Es sind aber besonders Lenins Methodik sowie die zentralen Aussagen seiner Beiträge, die uns dazu berechtigen, von einer marxistischen Herangehensweise zu sprechen, obwohl auch er z. T. grobe Irrtümer und Fehler in Theorie und Praxis nicht hat vermeiden können. [3] Der vorliegende Beitrag soll zeigen, daß Lenins Kriterien auch heute anwendbar sind und zu durchaus klaren analytischen Ergebnissen führen. Was die Situation im früheren Jugoslawien betrifft, handelt es sich nicht um eine umfassende Analyse, sondern um die Erörterung einiger in der heutigen Linken umstrittenen Fragen.


Lenins Rückgriff auf Marx und Engels


M. Löwy unterscheidet 2 Phasen der Auffassung von Marx und Engels, die des „naiven Kosmopolitismus“ (Bauer) bis 1848 und die der ernsthaften Wahrnehmung und des Verständnisses der Problematik, die mit der nationalen Unterdrückung, dem Auftauchen nationaler Befreiungsbewegungen usw. verknüpft ist.

Hauptbezugspunkt für Lenin ist die Unterscheidung von Marx zwischen unterdrückten Nationen und solchen, die andere unterdrücken, in der irischen Frage, verbunden mit der Feststellung, daß sich kein Volk befreien kann, das andere unterdrückt. Lenin, der hieran anknüpfend das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Nationen formuliert, verweist auf den Zusammenhang der Problematik mit der sozialistischen Revolution im Zeitalter des Imperialismus.

An anderer Stelle zitiert Lenin aus einem Brief an Kautsky, in dem Engels sich mit Fragen der Befreiung der kolonialisierten Länder auseinandersetzt. Engels bemerkt, daß es schwierig ist, für alle Länder den Weg ihrer Befreiung klar vorauszusehen, und er fährt fort: „Nur das eine ist sicher: Das siegreiche Proletariat kann keinem fremden Volk irgendwelche Beglückung aufzwingen, ohne damit seinen eignen Sieg zu untergraben. Womit natürlich Verteidigungskriege verschiedener Art keineswegs ausgeschlossen sind.“ [4]

Lenin merkt an: „Engels nimmt keineswegs an, daß das ‚Ökonomische‘ von selbst und unmittelbar alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen würde. Die wirtschaftliche Umwälzung wird alle Völker veranlassen, sich dem Sozialismus zuzuwenden, doch sind dabei auch Revolutionen – gegen den sozialistischen Staat – und Kriege möglich. Die Anpassung der Politik an die Ökonomie wird unvermeidlich eintreten, aber nicht auf einmal und nicht ganz glatt, nicht einfach, nicht unmittelbar. (...)

Die nationalen Antipathien werden nicht so rasch verschwinden; der Haß – der durchaus berechtigte Haß – der unterdrückten Nation gegen die unterdrückende Nation wird noch eine Zeitlang weiterbestehen; er wird erst nach dem Sieg des Sozialismus und nach der endgültigen Herstellung völlig demokratischer Beziehungen zwischen den Nationen verschwinden. Wenn wir dem Sozialismus treu bleiben wollen, so müssen wir schon jetzt für die internationalistische Erziehung der Massen Sorge tragen, die bei den unterdrückenden Nationen unmöglich ist, ohne die Propagierung der Freiheit der Lostrennung für die unterdrückten Nationen.“ [5]


Die Bedeutung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung und auf staatliche Abtrennung


Die ökonomische Basis des nationalen Bewußtseins besteht darin, daß die verallgemeinerte Warenproduktion einen einheitlichen Binnenmarkt voraussetzt, sowie eine Bevölkerung, die normalerweise eine Sprache spricht, deren Regeln von der Philologie festgelegt werden. Auf diese Weise wird die Nationalsprache etabliert und abgesichert. Das Ziel der nationalen Bewegungen ist gewöhnlich die Gründung des Einheitsstaates und das Recht auf nationale Selbstbestimmung, bedeutet so gesehen nichts anderes als die Verwirklichung der staatlichen Unabhängigkeit.

Dazu bemerkt Lenin: „Das bedeutet nur, daß die Marxisten die mächtigen ökonomischen Faktoren nicht außer acht lassen können, die den Drang zur Schaffung von Nationalstaaten erzeugen. Das bedeutet, daß die „Selbstbestimmung der Nationen“ im marxistischen Programm vom historisch-ökonomischen Gesichtspunkt aus keine andere Bedeutung haben kann als politische Selbstbestimmung, staatliche Selbständigkeit, Bildung eines Nationalstaats.“ [6]

Für Lenin ist dieses Recht verwoben mit der Durchsetzung der „vollendeten“ bürgerlichen Demokratie, die zugleich den Ansatzpunkt für die Verwirklichung des Sozialismus bedeutet. Zu der bekannten Formulierung Luxemburgs „kein Sozialismus ohne Demokratie-keine Demokratie ohne Sozialismus“ könnte man hinzufügen: „Keine Demokratie und kein Sozialismus ohne vollständige Befreiung und Gleichheit der Nationen.“

Genauso stellt sich das Thema jedenfalls für Lenin: „Der siegreiche Sozialismus muß die volle Demokratie verwirklichen, folglich nicht nur vollständige Gleichberechtigung der Nationen realisieren, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nationen durchführen, das heißt das Recht auf freie politische Abtrennung anerkennen. Sozialdemokratische Parteien, die durch ihre ganze Tätigkeit sowohl jetzt als während und nach der Revolution nicht zu beweisen imstande sein werden, daß sie die unterjochten Nationen befreien und ihre eigenen Beziehungen zu denselben auf dem Boden der freien Vereinigung aufbauen werden-eine solche Vereinigung aber würde zur lügnerischen Phrase ohne Freiheit der Abtrennung-, derartige Parteien würden Verrat am Sozialismus begehen.“ [7]


Die Überwindung der nationalen Unterschiede und das Problem der Staatsgrenzen


Oft wird eingewandt, daß der Kampf für den Sozialismus auf die Überwindung der nationalen Gegensätze und Trennungen abzielt und die Marxisten jede nationalistische Ideologie ablehnen. Folglich sollte keine staatliche Aufsplitterung, sondern jetzt schon die möglichst breite Föderation von Völkern (in Jugoslawien z. B., auf dem Balkan, in Europa usw.) angestrebt werden. Lenin, zeit seines Lebens glühender Internationalist, antwortet folgendermaßen: „Das Ziel des Sozialismus ist nicht nur Aufhebung der Kleinstaaterei und jeder Absonderung von Nationen, nicht nur Annäherung der Nationen, sondern ihre Verschmelzung. Und eben, um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir (...) die Befreiung der unterdrückten Nationen nicht in allgemeinen weitschweifigen Phrasen, nicht in nichtssagenden Deklamationen, nicht in der Form der Vertröstung auf den Sozialismus, sondern in einem klar und präzis formulierten politischen Programm fordern, und zwar in spezieller Bezugnahme auf die Feigheit und Heuchelei der „Sozialisten“ der unterdrückenden Nationen. Wie die Menschheit zur Abschaffung der Klassen nur durch die Übergangsperiode der Diktatur der unterdrückten Klasse kommen kann, so kann sie zur unvermeidlichen Verschmelzung der Nationen nur durch die Übergangsperiode der völligen Befreiung, das heißt Abtrennungsfreiheit aller unterdrückten Nationen, kommen. [8]

Mit der staatlichen Unabhängigkeit hängt die Frage der Staatsgrenzen zusammen. Die revolutionären Sozialisten und Sozialistinnen treten für ihre schließliche Abschaffung ein. Das bedeutet aber nicht, daß man das Problem heute ignorieren könnte. Mit Lenins Worten: „Das Proletariat kann nicht an der für die imperialistische Bourgeoisie besonders „unangenehmen“ Frage der Grenzen des Staates, die auf nationaler Unterjochung beruhen, stillschweigend vorbeigehen. Es kann sich des Kampfes gegen die gewaltsame Zurückhaltung der unterjochten Nationen in den Grenzen des vorhandenen Staates nicht enthalten, und eben dies heißt für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen kämpfen.“ [9]

Es wird auch-heute wie damals-argumentiert, daß die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts einschließlich der staatlichen Abtrennung ein Zugeständnis an den Nationalismus bedeutete und mit dem sozialistischen Internationalismus nicht vereinbar sei. Lenin antwortet kategorisch: „Es gibt Leute, denen es ‚widerspruchsvoll‘ erscheint, daß diese Resolution in ihrem, vierten Punkt, wo das Recht auf Selbstbestimmung, auf Lostrennung anerkannt wird, dem Nationalismus sozusagen ein Maximum „einräumt“ (in Wirklichkeit enthält die Anerkennung des Rechts aller Nationen auf Selbstbestimmung ein Maximum an Demokratismus und ein Minimum an Nationalismus), im fünften Punkt aber die Arbeiter vor den nationalistischen Losungen warnt, von welcher Bourgeoisie sie auch kommen mögen, und die Vereinigung und Verschmelzung der Arbeiter aller Nationen in international einheitlichen proletarischen Organisationen fordert. Hier einen „Widerspruch‘ zu entdecken, das vermögen nur ausgemachte Schwachköpfe, unfähig, beispielsweise zu begreifen, warum die Einheit und Klassensolidarität des schwedischen und norwegischen Proletariats gewonnen hat, als die schwedischen Arbeiter die Freiheit Norwegens, sich als selbständiger Staat loszutrennen, verteidigten.“ [10]


Pflichten und Kriterien der revolutionären Sozialisten im ersten Weltkrieg


Es kann kaum Zweifel daran bestehen, daß die Ereignisse im 1. Weltkrieg und der weitere Geschichtsverlauf im 20. Jahrhundert Lenins wesentliche Aussagen vollauf bestätigt haben. Im Krieg taucht konkret die Frage auf, ob irgendeine Form von „Vaterlandsverteidigung“ im Zeitalter des Imperialismus gerechtfertigt sein kann oder in jedem Fall als reaktionär zu beurteilen ist. Lenin zufolge ist zu „bemerken, daß man einen nationalen Aufstand des annektierten Gebiets oder Landes gegen das annektierende Land eben Aufstand nennen und nicht Krieg nennen kann (wir haben einen solchen Einwand gehört und führen ihn deshalb an, obgleich wir diesen terminologischen Streit nicht ernst nehmen). Jedenfalls wird wohl kaum jemand zu bestreiten wagen, daß die annektierten Länder Belgien, Serbien, Galizien, Armenien ihren ‚Aufstand‘ gegen die Staaten, durch die sie annektiert worden sind, ‚Vaterlandsverteidigung‘ nennen werden und mit Recht so nennen werden.“ [11]

Ein unscheinbarer, aber wahrscheinlich zentraler Begriff der Argumentation Lenins ist der Ausdruck „Sympathien der Bevölkerung“, die letztlich über die Position der revolutionären Sozialisten entscheiden. Dabei geht es auch wieder um die Frage der Staatsgrenzen. „Die neuen ‚Ökonomisten‘ meinen einmal, daß der demokratische Staat des siegreichen Sozialismus ohne Grenzen existieren werde, (...) und einmal, daß die Grenzen ‚nur‘ den Bedürfnissen der Produktion entsprechend bestimmt werden. In Wirklichkeit werden diese Grenzen demokratisch festgesetzt werden, d. h. entsprechend dem Willen und den ‚Sympathien‘ der Bevölkerung. Der Kapitalismus tut diesen Sympathien Gewalt an und vermehrt dadurch die Schwierigkeit bei der Annäherung der Nationen. Der Sozialismus, der die Produktion ohne Klassenunterdrückung organisiert und den Wohlstand aller Staatsangehörigen sichert, gewährt dadurch den ‚Sympathien‘ der Bevölkerung freien Spielraum.“ [12]

Der Ausdruck „Sympathien der Bevölkerung“ sollte interpretiert werden als das Recht und die Fähigkeit der Bevölkerung einer bestimmten Region, frei und demokratisch über ihre eigenen Belange zu entscheiden. Das schließt natürlich die Respektierung und Wahrung der gleichen Rechte der Minderheiten eines Landes mit ein.


Lenins Kriterien: anwendbar auf die Kriege im früheren Jugoslawien?


Seit der Oktoberrevolution kann als zusätzliches Kriterium für die Parteinahme bei kriegerischen Konflikten die Verteidigung der Arbeiterstaaten gegen imperialistische Interventionsmächte gelten. Sämtliche Bestandteile Jugoslawiens scheinen aber heute nur in dem Sinne Übergangsgesellschaften darzustellen, daß sie sich heute in Richtung Kapitalismus zurückentwickeln. Dieser Prozeß wird von bedeutenden Teilen der alten Bürokratie (Partei, Armee, Staatsapparat, Intellektuelle mit gutem Posten) vorangetrieben, die sich gerne in eine „reguläre“ Bourgeoisie verwandeln würden.

Qualitative Klassenunterschiede zwischen den einzelnen Republiken werden folglich die Unterdrückung von Nationen bzw. deren eventuelle Emanzipation sowie die Verletzung von Minderheiten sein.


Kosovo-ein klassischer Fall militärischer Fremdherrschaft


Der akute Zersetzungsprozeß Jugoslawiens beginnt 1989 mit der Beseitigung des Autonomiestatuts für den Kosovo, indem in der Praxis dokumentiert wird, daß die Belgrader Führung ganz Jugoslawien unter serbische Vorherrschaft zwingen will.

Da der Kosovo ausschließlich mit militärischen Zwangsmaßnahmen und unter faktischer Androhung eines Genozids ungeahnter Ausmaße unter Kontrolle gehalten wird, kann kein Zweifel daran bestehen, daß wir mit den Forderungen der Albaner vollkommen solidarische sein müssen. D. h. wir treten ein für die Loslösung vom Belgrader Staat, für die Unabhängigkeit bzw. die Vereinigung mit Albanien, falls die Bevölkerungsmehrheit dies will.


Slavomazedonien-Opfer imperialistischer „Solidarität“


Auch der Fall Slavomazedoniens ist eindeutig. Es wurde bisher nicht anerkannt, weil die herrschenden Cliquen der maßgeblichen EG-Länder auf ihre Komplizen in Athen Rücksicht nehmen müssen. Sicherlich gibt es in Slavomazedonien große Minderheiten-Probleme; die Albaner bilden ca.30 % der Bevölkerung und die Roma werden teilweise rassistisch unterdrückt. Ein Grund für die Nichtanerkennung dieses – wenn auch kleinen-Volkes kann dies aber nicht sein, zumal es von teilweise äußerst aggressiven Nachbarstaaten bedroht wird, besonders von Griechenland und Serbien.


Slowenien-Vorposten des deutschen Imperialismus


Ebenso kann im Fall Sloweniens nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß die staatliche Lösung auf absolut demokratische Weise zustande gekommen ist. Gewöhnlich wird eingewandt, daß die Slowenen aus ökonomischem Eigeninteresse gehandelt haben, um sich von der EG integrieren zu lassen und die kapitalistische Restauration zu beschleunigen. Das mag richtig sein, kann aber nicht als Argument gegen die Unabhängigkeit dienen. Lenin hat darauf hingewiesen, daß die überlegene industrielle Entwicklung Polens im zaristischen Rußland eine staatliche Abtrennung wahrscheinlicher machte. [13]

Die Zukunft muß zeigen, wie die Slowenen und die Kroaten auf den Einfluß des deutschen Großkapitals und die Herrschaft ihrer eigenen Bosse reagieren. Vorläufig ist der bestehende Zustand eindeutig demokratischer als die reale Alternative, d. h. eine Belgrader Militärdiktatur.


War die Sezession Kroatiens gerechtfertigt?


Es wird gern behauptet, die Anerkennung Sloweniens und insbesondere Kroatiens durch die deutsche Regierung und die EG sei „kriegstreibend“ gewesen oder, noch schlimmer, ein Komplott des deutschen Imperialismus zur Aufsplitterung Jugoslawiens zwecks Sicherung diverser Einflußzonen etc. Dazu kommt, daß dem Zagreber Regime zu Recht Vorwürfe gemacht werden, wegen beinahe diktatorischer Ausübung der politischen Macht, wegen der Verfolgung der serbischen Minderheit, wegen der Barbarei der ethnischen Säuberungen gegen die Muselmanen Bosnien-H’s in Komplizenschaft mit den serbischen Banden usw. Die generelle Situation hat sich zu einer langfristigen Auseinandersetzung zwischen „Großserbien“ und „Großkroatien“ entwickelt.

Es würde zu weit führen, die historische Dimension des kroatischen Nationalismus zu erörtern. Zu vermerken ist, daß er tiefe historische Wurzeln hat, daß der Widerstand der Partisanen (1941-45) sich nicht nur gegen die deutschen Besatzer, sondern auch gegen die kroatischen Ustaschi und die faschistischen Tschetniks richtete, daß der Sieg der Partisanen auf ein wirkliches Bündnis der verschiedenen Nationalitäten gegen die faschistische Unterdrückung aller Spielarten zurückzuführen war und so nach 1945 erstmals der Versuch einer wirklichen Föderation gewagt wurde. Für den Staat Titos ist kennzeichnend, daß die zentrale Staatsgewalt den Einzelrepubliken im Laufe der Jahrzehnte immer mehr Zugeständnisse machen mußte – Höhepunkt dieser Entwicklung war die Verfassung von 1974. Dieser Trend wurde erst durch die Machtansprüche des neuen Großserbentums gestoppt, die dann aber gerade das sofortige Auseinanderfallen Jugoslawiens provozierten. [14] In diesem Sinn ist nicht die Auflösung Jugoslawiens die Tragödie, sondern der Versuch, die Einheit mit militärischen Mitteln aufrecht zu erhalten.

Was die Grenzen zwischen Kroatien und Rest-Jugoslawien betrifft, so sind diese nach dem Krieg von den Partisanen beider Länder festgelegt worden, und es bestand kein Anlaß, sie zu ändern und bestimmt nicht mit militärischen Mitteln.

Die serbische Minderheit wird vom Zagreber Regime tatsächlich unterdrückt. Der „Schutz“ ihrer Rechte war seitens des Belgrader Regimes allerdings nur der billige Vorwand für die Entfesselung eines Zerstörungs- und Eroberungskrieges ohne Beispiel in der europäischen Nachkriegsgeschichte. Die Verantwortung hierfür trägt ganz allein Belgrad. Die serbische Minderheit mußte durch den Krieg in eine ausweglose Situation geraten. In Kroatien als „innerer Feind“ angesehen, begannen Vertreibungen und vielfache Repressalien. Die rassistische Behandlung der Serben durch das Zagreber Regime trug ihrerseits zum Gelingen des großserbischen Expansionsunternehmens bei.

Als bereits 30 % des kroatischen Territoriums weitgehend verwüstet und serbisch okkupiert waren und sich die serbische Armee darauf vorbereitete, Zagreb zu bombardieren und ganz Kroatien zu zerstören, änderte die Bonner Regierung, die bis dahin im wesentlichen die Einheit Jugoslawiens unterstützt hatte, ihre Haltung und erkannte die Unabhängigkeit Kroatiens an und Sloweniens an. Die Gründe hierfür waren sicherlich eher realpolitisch-opportunistisch als alles andere. Man kann auch das eine oder andere an der Entscheidung aussetzen, vor allem die Inkonsequenz, daß nicht auch Slavomazedonien anerkannt wurde.

Alles ändert aber nichts daran, daß sich 94 % der Bevölkerung Kroatiens – unter ihnen 10 % Serben – für die staatliche Abtrennung entschieden haben, und das vollkommen in Einklang nicht nur mit den leninschen Prinzipien, sondern auch mit der jugoslawischen Verfassung. Der Einwand, Kroatien sei nie eine unterdrückte Nation gewesen, trifft in dieser naiven Schlichtheit weder die Nachkriegsrealität noch die aktuelle Situation. Die militärische Besatzung ist bestimmt eine der schlimmsten Formen nationaler Unterdrückung. Jeder Widerstand gegen den Vormarsch der Armee war daher vollkommen gerechtfertigt.

Auch der Einwand, man hätte die Kroaten wegen des reaktionären Charakters von Tudjmans Regime nicht unterstützen können, kann nicht gelten. Wie Lenin bemerkt: „Insofern die Bourgeoisie einer unterdrückten Nation gegen die unterdrückende kämpft, insofern sind wir stets und in jedem Fall entschlossener als alle anderen dafür, denn wir sind die kühnsten und konsequentesten Feinde der Unterdrückung. Sofern die Bourgeoisie einer unterdrückten Nation ihren bürgerlichen Nationalismus vertritt, sind wir dagegen. Kampf gegen die Privilegien und die Gewaltherrschaft der unterdrückenden Nation und keinerlei Begünstigung des Strebens nach Privilegien bei der unterdrückten Nation.“ [15]

Angewandt auf Kroatien: wir unterstützen die Kroaten gegen den Einfall der serbischen Truppen, bekämpfen aber die Unterdrückung der serbischen Minderheit und den faschistischen Terror von Bobans Banden gegen die Muselmanen Bosnien-H’s.


Der Untergang Bosnien-Herzegowinas


Die Volksabstimmung vom März 1992 brachte eine Mehrheit von 66 % für die Unabhängigkeit Bosniens-H’s. Dafür hatten hauptsächlich Muselmanen und Kroaten gestimmt, die Serben waren mehrheitlich dagegen. Die entstandene Situation war kompliziert, da die Serben mit einem Bevölkerungsanteil von 30 % auch ein Recht auf nationale Selbständigkeit, eventuell auch auf staatliche Abtrennung hatten. Dies war aber aufgrund der geographischen Verteilung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen praktisch undurchführbar (hier abgesehen davon, daß sie seit Jahrhunderten friedlich zusammengelebt hatten).

Wenn die Serben auf ihrer Unabhängigkeit bestehen wollten, bestand der einzige weg darin, mit der neugewählten Regierung Verhandlungen über Art und Inhalt ihrer Autonomie aufzunehmen. Das wäre für die Serben sicher nicht der ideale Weg gewesen, da er den guten Willen der „anderen Seite“ vorausgesetzt hätte, war aber die einzige Möglichkeit, wenn alle an der Aufrechterhaltung des Friedens interessiert gewesen wären.

Bekanntlich nahmen die Dinge einen völlig anderen Verlauf. Bereits vor der Volksabstimmung teilten die Regimes von Belgrad und Zagreb Bosnien-H. in einer Geheimabsprache auf, auf eine Demonstration für den Frieden in Sarajewo eröffneten serbische Extremisten das Feuer, und am nächsten Tag marschierte die Armee ein. Innerhalb weniger Wochen waren 60 % des Landes unter serbisch-nationalistischer Kontrolle, und der Weg war frei, die Probleme auf die denkbar barbaristische Art zu lösen: durch „nationale Säuberungen“

Die einzig mögliche Haltung unsererseits war die Verteidigung des multiethnischen Bosniens-H. und der entschlossene Widerstand gegen den Vormarsch der zunächst serbischen, später auch kroatischen Truppen und Banden. Es handelt sich einfach um das Recht auf Leben und auf Selbstverteidigung der Bosnier und besonders der Muselmanen.

Dagegen wird eingewandt, auch die bosnische Führung sei bürokratisch-bürgerlich, der Kampf der Bosnier sei nicht antiimperialistisch – im Gegenteil, sie ersuchten die Imperialisten um Unterstützung! –, und wir müßten daher zu allen Kriegsparteien gleichen Abstand halten und die Position des „revolutionären Defätismus“ beziehen. Diese Auffassung läuft darauf hinaus, den (Haupt-)Opfern der Schlächtereien ideologische Bedingungen stellen zu wollen, bevor man mit ihnen Solidarität übt.

Es wird auch gesagt, auch die bosnisch-muselmanischen Einheiten würden Serben und Kroaten niedermetzeln etc. Das ist zweifellos wahr, muß aber-ohne jeden Versuch einer Rechtfertigung-aus der Gesamtsituation verstanden werden. Die Bosnier sind buchstäblich von der ganzen Welt im Stich gelassen und der Gnade ihrer Feinde ausgeliefert worden. Kein Serbe, kein Kroate war durch die Unabhängigkeit Bosnien-H’s in irgendeiner Weise in der Wahrnehmung seiner Rechte bedroht. Es sind die Systematisierung der Greueltaten und die volle Verantwortlichkeit der politischen und militärischen Führungen für die Verbrechen der „nationalen Säuberungen“, die hier den Unterschied ausmachen.

Seit die amerikanische Regierung im April 1992 ihre Haltung, die bis dahin „pro-jugoslawisch“ gewesen war, geändert hat, wird Serbien von „Vergeltungsmaßnahmen“ bedroht, wurde von der UNO ein Boykott verhängt usw. Den Kriegsverlauf hat all das nicht im Mindesten beeinflußt. In Wirklichkeit sind die imperialistischen Mächte nicht geneigt, Bosnien-H. effektiv zu unterstützen. Frankreich und Großbritannien favorisieren fast unverhohlen den Sieg der serbischen Waffen, die Bonner Regierung mag einige „Sympathien“ für die Bosnier hegen, ohne dies jedoch in Taten zum Ausdruck zu bringen, und die Haltung der amerikanischen Regierung ist von völliger Passivität gekennzeichnet, was ihrer Interessenlage wohl auch am meisten entspricht. Aber alle stimmen in der Notwendigkeit der Zerstückelung und „Kantonisierung“ Bosnien-H’s überein, dokumentiert in der Absegnung der diversen Pläne Vance/Owen und Owen/Stoltenberg. Die Regierungen der imperialistischen Staaten sind somit mitverantwortlich für die Verbrechen der nationalen Säuberungen.

Der Krieg hat auch die Nationalitäten Bosnien-H’s selbst verändert. Bisher waren die Muselmanen nie „Nation“ in dem Sinn, daß sie einen eigenen Staat wollten. Die Barbarei der serbischen und kroatischen Chauvinisten haben sie jedoch in ähnlicher Weise zu einer eigenständigen „Nation“ gemacht, wie die Nazis vorher in Europa weitestgehend assimilierten Mitbürger zu Juden.


Der Slogan der „sozialistischen Balkanföderation“


Gegen das Selbstbestimmungsrecht der Nationen wird vorgebracht, eine wirkliche Unabhängigkeit der kleineren Völker sei nicht zu verwirklichen, weil sie letztlich dem ökonomischen Einfluß der imperialistischen Staaten erliegen müßten. So bezeichnet die KP Griechenlands die neuentstandenen (nicht-serbischen) Staaten Jugoslawiens als „Protektorate“ diverser imperialistischer Mächte. Der Wille der Völker selbst wird dabei offenbar ausgeblendet. Auch Lenin hat sich mit diesem Einwand auseinandergesetzt: „Mit wichtiger Miene (...) darüber zu belehren, daß die kleinen Staaten von den großen ökonomisch abhängig sind, daß zwischen den bürgerlichen Staaten ein Kampf um die räuberische Niederwerfung anderer Nationen tobt, daß es Imperialismus und Kolonien gibt-das ist ein lächerliches, kindisches Klugtun, denn mit der Sache selbst hat all das nicht das geringste zu tun. Nicht nur die kleinen Staaten, sondern beispielsweise auch Rußland sind ökonomisch völlig von der Macht des imperialistischen Finanzkapitals der „reichen“ bürgerlichen Länder abhängig. Nicht nur die Miniaturstaaten des Balkans, sondern auch Amerika war im 19. Jahrhundert, ökonomisch gesprochen, immer noch Kolonialland Europas, wie Marx im „Kapital“ aufgezeigt hat, (...) aber mit der Frage der nationalen Bewegungen und des Nationalstaats hat das entschieden gar nichts zu schaffen.“ [16]

Es wird auch folgendermaßen argumentiert: das Selbstbestimmungsrecht der Nationen zwar nicht grundsätzlich falsch, aber gerade im Fall Jugoslawiens hätten die Unabhängigkeitserklärungen das Kriegschaos und die Zerstörungswut ausgelöst. Es wäre doch besser alles beim alten geblieben, wo doch im zusammenhängenden jugoslawischen Staat die nationalen Gegensätze einigermaßen unter Kontrolle waren. War der Preis für die staatlichen Abtrennungen zu hoch?

Es scheint, daß diese Argumentation Ursache und Wirkung verwechselt. Die sezessionistischen Tendenzen wurden vom neuen Großserbentum hervorgerufen und spiegeln so die Störung des relativen Gleichgewichts der jugoslawischen Völker wider, um das Tito stets so bemüht war.

Der Nationalismus ist natürlich auch im Denken und Fühlen der jugoslawischen Völker tief verankert. Das bürokratische Herrschaftssystem verhinderte zwar über Jahrzehnte seine freie Entfaltung, funktionierte jedoch für seine Frischhaltung als gewaltiger „Kühlschrank“. [17]

Ein anderer Einwand bestreitet nicht direkt das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, argumentiert jedoch wie folgt: es ist nicht entscheidend, ob die eine oder andere Seite mehr Schuld am Krieg trägt. Alle Parteien bedienen sich der reaktionären nationalistischen Ideologie, werden von bürokratischen oder offen bürgerlichen Kräften geführt, die teilweise auch mit Imperialisten zusammenarbeiten. Die Unterstützung der einen oder anderen Seite käme einem fatalen Zugeständnis an den Nationalismus gleich. Der einzige Ausweg aus dem Dilemma sei daher die sozialistische Perspektive, die sozialistische Föderation der Völker Jugoslawiens und des Balkans.

      
Mehr dazu
Zbigniew Marcin Kowalewski: Die Eroberung der Ukraine und die Geschichte des russischen Imperialismus, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022).
Leo Trotzki: Die ukrainische Frage, die internationale Nr. 3/2022 (Mai/Juni 2022).
Catherine Samary: Der blutige Untergang Jugoslawiens, Inprekorr Nr. 418/419 (September/Oktober 2006).
Michael Löwy: Nationalismus am Ende des Jahrhunderts, Inprekorr Nr. 335/336 (September/Oktober 1999).
Andreas Kloke: Die nationale Frage und der Marxismus. Zur Problematik von Theorie und Praxis der marxistischen Klassiker (1844-1940) und zur Aktualität der Thematik, Inprekorr Nr. 335/336 (September/Oktober 1999).
Andreas Kloke: Der Kampf des Kosovo und die Intervention des Westens, Inprekorr Nr. 326 (Dezember 1998).
Catherine Samary: Im Dschungel der nationalen Fragen auf dem Balkan, Inprekorr Nr. 320 (Juni 1998).
Roman Rosdolsky: Die Arbeiter und das Vaterland, Inprekorr Nr. 225 (März 1990).
 

So richtig es auch ist, diese Lösung auch unter en heutigen Bedingungen zu propagieren, würde eine Beschränkung auf sie doch die konkreten Überlebensprobleme ganzer Völker heute aus den Augen verlieren. Gegenüber den Opfern der Gemetzel wären wir ganz unglaubwürdig, die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern ging verloren. Es wäre die Haltung des „abstrakten Internationalismus“. Wenn wir unserer Propaganda einen wirklich politischen Inhalt geben wollen, muß sie den Weg von der heutigen Realität zur angestrebten Lösung zeigen, die nur über die volle Anerkennung des freien Willens und der Unabhängigkeit aller Völker Jugoslawiens und des Balkans erreicht werden kann.


Schlußbemerkung


Es zeigt sich, daß die Anwendung der wichtigsten Kriterien Lenins nicht so schwer ist, wenn man in der Lage ist zuerkennen, wer die unterdrückten sind, und für sie entsprechend Partei zu ergreifen. Die wichtigsten Faktoren der internationalen Politik haben sich leider nicht so verändert, wie Lenin seinerzeit hoffen konnte. Das ist hauptsächlich auf die unvorhergesehene relative Stabilität des weltweiten kapitalistischen Systems zurückzuführen, aber auch darauf, daß der Nationalismus in den bürokratischen Übergangsgesellschaften von Staats wegen aufrechterhalten wurde und der „Internationalismus“ der herrschenden Cliquen zum Propagandawerkzeug der jeweils national definierten Zwecke verkommen war.

Unter diesen Bedingungen wurden die nationalen Differenzen unterdrückt, aber nicht gelöst und brechen bei der ersten Gelegenheit wieder auf – und sei es nach Jahrzehnten. Die von bedeutenden Teilen der Bürokratie entschlossen angestrebte Restauration des Kapitalismus auf nationalstaatlicher Basis verwandelte den Balkan wieder einmal in ein Pulverfaß. All dies ist nicht so schwer nachzuvollziehen.

Viele Probleme bleiben jedoch für die Analyse offen. der Nationalismus weist immer noch eine eigenartige Mischung fortschrittlicher und reaktionärer Tendenzen auf. Das jugoslawische Beispiel führt uns vor Augen, daß die Ziele der national-demokratischen, d. h. der bürgerlichen Revolution z. T. immer noch nicht verwirklicht sind, wie besonders die Fälle Slavomazedoniens und des Kosovo, aber auch Bosnien-H’s und sogar Sloweniens und Kroatiens zeigen.

Wie lassen sich diese Entwicklungen im Rahmen unserer Ideen über Sozialismus und permanente Revolution verstehen?

Erforderlich ist auch eine detaillierte und systematische Untersuchung und Bewertung der Theorie und Praxis Lenins und anderer Vorkämpfer des Sozialismus. In diesem Sinn hat die Diskussion erst begonnen.

David Jonas, Sept. 1993



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 266 (Dezember 1993). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Wir folgen hier der Analyse von Roman Rosdolksky: Zur nationalen Frage – F. Engels und das Problem der ‚geschichtslosen Völker‘, Berlin 1979

[2] Otto Bauer: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Werkausgabe, Bd. 1, S. 49-622

[3] Siehe Z. Kowalewski, For the independance of Soviet Ukraine, in: International Marxist Review, Autumn 1989

[4] Im folgenden zitieren wir aus drei Artikeln Lenins:

[5] Lenin (3), S.  360f

[6] Lenin (1), S. 402

[7] Lenin (2), S. 144f

[8] Ebd., S. 148

[9] Ebd., S. 149

[10] Lenin (1), S. 439

[11] Lenin (3), S. 338f

[12] Ebd., S. 330

[13] Vgl. Lenin (1), S. 406

[14] Siehe hierzu auch: Attila Hoare, The Marxist left’s capitulation to western imperialism and serbian neationalism in the Balkans (1993)

[15] Lenin (1), S. 414f

[16] Ebd., S. 401

[17] Eine Formulierung von Zarko Pohorski