Michael Löwy
Was ist dies doch ein seltsames Jahrhundertende: Zu einer Zeit, wo der Kapitalismus schließlich dazu in der Lage zu sein scheint, seine Herrschaft auf der ganzen Welt durchzusetzen, wo die Ökonomie zu einem bisher unbekannten Grad internationalisiert worden ist, wo die multinationalen Unternehmen den Weltmarkt regieren, wo ein transnationales Komitee von Bankiers, der IWF, zwei Dritteln der Menschheit die Sozial- und Wirtschaftspolitik diktiert, wo sich Europa rasch auf eine supranationale Einheit zubewegt – zur selben Zeit tritt der Nationalismus auf spektakuläre Weise wieder in den Vordergrund und wird er (insbesondere in Europa) zur einzigen politischen Bewegung, die dazu in der Lage ist, Massen zu mobilisieren, und zum einzigen politischen Wert, dem ein großer Teil der Bevölkerung zustimmt.
Es gibt keine einfache Erklärung für diesen Aufschwung, es mag jedoch hilfreich sein, ihn mit dem parallelen Wiederaufleben von religiösen Gefühlen zu vergleichen. Die Krise sowohl der kapitalistischen Akkumulation als auch des bürokratischen Produktivismus – der bestehenden Modelle von (instrumenteller) Rationalität – begünstigt die Entwicklung solcher nicht-rationaler, manchmal irrationaler Reaktionen wie Religion und Nationalismus.
|
Michael Löwy, der in Brasilien aufgewachsen ist und seit langem in Frankreich lebt und mit Theorien, Diskussionen und Bewegungen in beiden Kulturen eng verbunden ist, befaßt sich mit den Problemen der nationalen Befreiung und des neuen Nationalismus in der neuen internationalen Lage nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Weltordnung der „Systemkonkurrenz“ und der Blockkonfrontation. Auch wenn dieser Artikel vor gut sieben Jahren geschrieben worden ist, enthält er doch zahlreiche Aussagen und analytische Elemente, die unverändert gültige Leitlinien ausmachen, die auch (und gerade) nach den Bosnien- und Kosovo-Kriegen aktuell sind und die es schließlich revolutionären Marxistinnen und Marxisten ermöglichen, eine internationalistische Kritik zu üben und politisch einzugreifen. Dieser Essay ist dem Heft von Mai/Juni 1992 der US-amerikanischen Zeitschrift Against the Current aus Detroit entnommen, die von der sozialistischen Organisation Solidarity herausgegeben wird, in der ein Teil der Genossinnen und Genossen der IV. Internationale in den „Staaten“ mitarbeiten. Eine erste, kürzere Fassung war kurz zuvor in einer französischen theoretischen Zeitschrift erschienen, die von dem marxistischen Philosophen und Soziologen Henri Lefebvre und anderen ehemaligen oppositionellen Mitgliedern der PCF, der französischen kommunistischen Partei, gegründet wurde. [1] Eine dritte, weit ausführlichere Version wurde 1993 in dem englischen Jahrbuch Socialist Register veröffentlicht. [2] Dieser Text wird als Kapitel 6 in dem Buch mit dem Titel Internationalismus und Nationalismus und dem Untertitel Kritische Essays zu Marxismus und „nationaler Frage“ enthalten sein, das sieben Essays von Michael Löwy sowie einen Beitrag von Enzo Traverso umfassen und demnächst im Neuen ISP Verlag erscheinen wird. [fd] |
Natürlich können beide Phänomene auch progressive Formen annehmen – wie in nationalen Befreiungsbewegungen oder in der Theologie der Befreiung –, aber die regressiven Tendenzen (nationalistische und/oder religiöse Intoleranz) sind ausgesprochen mächtig. Anführen läßt sich der politische Triumph des islamischen Fundamentalismus gerade wegen des Scheiterns der arabischen nationalen Befreiungsbewegungen im allgemeinen und des Verfalls des nationalistischen FLN-Regimes im besonderen (die daran gehindert wurde, in Algerien auf dem Weg von Wahlen an die Macht zu gelangen). In Polen, wo Nationalismus und Religion in ihrer Entwicklung so eng miteinander verknüpft sind, sind die Folgen für die Rechte der Frauen besonders negativ.
Die neue nationalistische Welle ist in Osteuropa und der ehemaligen UdSSR besonders deutlich sichtbar. Ein intelligenter Beobachter der osteuropäischen Politik hat die Ereignisse in diesem Teil der Welt bemerkenswert gut zusammengefaßt:
„Mit dem Verschwinden einer zentralen despotischen Bürokratie, die auch dazu gedient hatte, zusammenzuhalten und den diffusen Haß und die konfligierenden nationalen Ansprüche voneinander abzulenken, verflüchtigten sich die letzten Reste von Solidarität unter den nicht-emanzipierten Nationalitäten in dem ‘Gürtel der gemischten Bevölkerungen’. Nun war jeder gegen jeden und vor allem gegen seinen nächsten Nachbarn, die Slowaken gegen die Tschechen, die Kroaten gegen die Serben, die Ukrainer gegen die Polen.“
Das Erstaunlichste an dieser Analyse ist, daß sie nicht vor ein paar Wochen geschrieben worden ist. Es ist eine Passage aus dem bekannten Buch von Hannah Arendt über die Ursprünge des Totalitarismus, das … 1951 veröffentlicht wurde. [3] Sie beschreibt die „Atmosphäre des Zerfalls“ im Osteuropa der zwanziger Jahre, nach der Beseitigung der österreichisch-ungarischen Monarchie und des zaristischen Reichs, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg bestanden hatten, – den beiden in dem Zitat angesprochenen „despotischen Bürokratien“.
Mit anderen Worten, wir sind in einem großen Teil von Europa siebzig Jahre zurückgefallen … Mit einer gewissen Berechtigung können wir auch sagen, wir sind einhundert Jahre zurückgeworfen, an ein anderes Jahrhundertende.
Um einem Mißverständnis vorzubeugen: Es ist nichts Regressives dabei – ganz im Gegenteil –, wenn (heute wie 1920) Vielvölkerreiche, die zu wahren „Völkergefängnissen“ geworden waren, zerbröckeln und die unterdrückten Nationen ihre Freiheit erlangen. Insofern gibt es unleugbar ein demokratisches Moment bei dem nationalen Wiederaufleben, das seit 1989 in Osteuropa und der ehemaligen UdSSR stattgefunden hat. Sozialistinnen/Sozialisten und Demokratinnen/Demokraten können sich nur darüber freuen, wenn die sowjetischen Panzer aus Ost-Deutschland, Polen und Ungarn abziehen und wenn die KGB-Truppen die baltischen Länder verlassen, so daß diesen Völkern selber überlassen bleibt, über ihre Zukunft und sich frei für Einheit, Abtrennung oder Föderation zu entscheiden.
Leider ist dieses Bild nicht durchgängig so erfreulich. In diesen nationalen Bewegungen ist das Beste und das Schlimmste untrennbar miteinander vermischt. Das Beste: das demokratische Erwachen der ausgeplünderten Nationen, die Wiederentdeckung ihrer Sprache und Kultur, das Streben nach Freiheit und Volkssouveränität. Und das Schlimmste: das Erwachen von chauvinistischen Nationalismen, von Expansionismus, Intoleranz, Xenophobie; das Erwachen von alten nationalen Streitigkeiten, von Haß gegen den „Erbfeind“; das Anwachsen von hegemonistischen Tendenzen, die zur Unterdrückung der eigenen nationalen Minderheiten führen; schließlich das Aufkommen von faschistischen, halb-faschistischen und rassistischen Formen von Nationalismus in Rußland („Pamjat“), in Rumänien, in der Slowakei, in Kroatien (Neo-Ustaschi), in Serbien (Neo-Tschetniks), in der ehemaligen DDR (neo-nazistische Skinheads) und anderswo. Die ewigen Sündenböcke der Vergangenheit – die Juden und die „Zigeuner“ – werden wieder für alle gesellschaftlichen Übel verantwortlich gemacht …
Die Gründe für diese explosionsartige Ausbreitung des Nationalismus, die den gesamten früheren Ostblock erfaßt hat, liegen auf der Hand: einerseits Aufbegehren gegen nationale Diskriminierung und „großrussische“ Beherrschung; andererseits die Krise von „Klassen“-Ideologien, -Kulturen und -Werten. Wie die Natur haßt die Politik ein Vakuum. In einer Situation, wo alle sozialistischen Werte durch ein halbes Jahrhundert bürokratischer Manipulation diskreditiert sind, suchen die Menschen nach anderen Formen von politischer Kultur, die nicht durch das autoritäre Regime kompromittiert sind. Dies sind dann die Religion und vor allem der Nationalismus.
Westeuropäische Liberale fassen die Welle des Nationalismus im Osten – und ihre fremdenfeindlichen Äußerungen – als Produkt von „Unterentwicklung“, von primitiven halb-agrarischen Gesellschaften, von Bevölkerungen auf, die zu lange unter dem „Kommunismus“ gelebt haben und denen es an Erfahrungen mit Demokratie fehlt. Manche bilden sich sogar ein, der Nationalismus sei nur ein Komplott von Ex-Kommunisten (wie in Serbien, Bulgarien oder Aserbaidschan), um sich an der Macht zu halten.
Westeuropa wird als eine harmonische Welt hingestellt, die seit langem über solche irrationalen Leidenschaften hinaus sei: Die ausgesöhnten Nationen in diesem demokratischen und modernen Teil des Kontinents bewegten sich rasch auf ihre Integration in einer vereinigten Europäischen Gemeinschaft zu. Dieses trügerische Bild entspricht nicht ganz der Wirklichkeit; nationale Bewegungen gibt es auch in Westeuropa, und sie nehmen zu. Sie gehören im wesentlichen zu zwei unterschiedlichen Arten:
1. Bewegungen für die Rechte von unterdrückten Nationen in Westeuropa. In der Regel sind es fortschrittliche Bewegungen, wenngleich sie gewiß nicht homogen sind. Die Basken und die Iren sind nur die sichtbare (und explosive) Spitze des Eisbergs, zu dem auch die katalanische und galizische, schottische und walisische, korsische und griechisch-zypriotische sowie eine Reihe von anderen Bewegungen gehören.
2. Fremdenfeindlicher und rassistischer Nationalismus, der sich nicht so sehr gegen den alten „äußeren Feind“ (andere europäische Nationen) richtet, sondern gegen den „inneren Feind“: die immigrierten Arbeiterinnen und Arbeiter arabischer, afrikanischer, türkischer, kurdischer oder osteuropäischer Herkunft (und oft auch die jüdische Minderheit). Politischen Ausdruck hat diese Entwicklung in dem überraschenden Aufstieg von nationalistischen Parteien und Bewegungen mit semi-faschistischem, faschistischem oder sogar Nazi-Charakter in Frankreich, Österreich, Belgien, Deutschland – die bereits 7 Millionen Wähler und Wählerinnen in der Europäischen Union repräsentieren! – sowie in den mörderischen Aggressionen von Skinheads und anderen rassistischen Banden gefunden. In Deutschland sind alleine im Jahr 1991 mehr als 1200 „Gewalttaten von Rechtsradikalen“ gegen Ausländerinnen und Ausländer registriert worden, gegenüber 270 im Vorjahr (Bild am Sonntag, 26. Januar 1992).
Die Hauptziele des westeuropäischen fremdenfeindlichen Nationalismus waren bislang die Immigranten und Immigrantinnen aus dem „Süden“ (vor allem Afrika und Asien). Die nächsten Opfer werden die unglückseligen Immigranten und Immigrantinnen aus Osteuropa sein, die durch nationale Konflikte oder durch die katastrophale wirtschaftliche Lage, als Ergebnis der brutalen Einführung einer Marktwirtschaft, aus ihren Ländern vertrieben werden.
Nach dem Araber, dem Afrikaner oder dem Türken wird jetzt der Pole, der Rumäne oder der Albaner zum Sündenbock der westlichen Rassisten und/oder Nationalisten. Womöglich wird die Europäische Gemeinschaft die Berliner Mauer ein Stück weiter östlich wieder aufbauen und die Hindernisse des Eisernen Vorhangs mit stromgeladenem Stacheldraht wiedererrichten, nun auf der westlichen Seite der Grenze.
In Wirklichkeit ist die Anwesenheit der Immigranten und Immigrantinnen nur ein Vorwand. Sie machen nur zwei Prozent der Bevölkerung der Europäischen Union aus; zudem waren sie schon vor 15 oder 20 Jahren da, ohne daß sie damals dieselben Reaktionen hervorgerufen hätten. Warum hat sich diese Welle von Fremdenfeindlichkeit gerade jetzt ereignet?
Die Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit und die Verschlechterung der Lebensbedingungen in den ärmeren Wohngegenden zählen sicher zu den Hauptfaktoren. Doch findet in der politischen Kultur einiger Volksschichten etwas Tieferreichendes statt: Wie in Osteuropa, jedoch auf eine andere Art und Weise schafft der Verfall von sozialistischen und Klassenwerten, die allzu lange mit der UdSSR und den kommunistischen Parteien in Verbindung gebracht worden sind, Raum für Nationalismus und/oder Rassismus. Unter diesem Gesichtspunkt hat die Zunahme von nationalistischen Werten in beiden Teilen von Europa gemeinsame Wurzeln.
Hinzuzufügen ist für den Westen die Enttäuschung über das sozialdemokratische Krisenmanagement, das (abgesehen von ein paar sympathischen Details) von dem neoliberalen zunehmend ununterscheidbar wird.
Fortschrittliche und reaktionäre Formen von Nationalismus lassen sich auch in der sogenannten Dritten Welt finden (ein Ausdruck, der jegliche Bedeutung verloren hat, da es ja keine „Zweite Welt“ mehr gibt), also in der abhängigen Peripherie des imperialistischen Weltsystems.
Die bedeutsamsten und progressivsten nationalen Befreiungsbewegungen in Afrika, Asien und im Nahen Osten – in Kurdistan, Eritrea, Südafrika, Palästina, Timor, Sudan – sind nicht direkt mit dem westlichen Imperialismus als solchem konfrontiert, sondern mit lokalen Formen von nationaler Unterdrückung. Mit Ausnahme der großen Welle von Volksprotesten gegen die imperialistische Aggression gegen den Irak scheint der antikoloniale und antiimperialistische Nationalismus seinen Einfluß weitgehend verloren zu haben, zugunsten von grundlegend reaktionären Bewegungen wie dem islamischen Fundamentalismus, dem ethno-linguistischen Kommunalismus (Indien, Sri Lanka) und dem Tribalismus.
In den meisten abhängigen Ländern, insbesondere aber in Lateinamerika ist der Kampf gegen die Auslandsschulden und die Politik des IWF der Punkt gewesen, an dem sich nationale Gefühle und antiimperialistische Bewegungen, die die Form von Kundgebungen, Streiks, Protesttagen und sogar massenhaften Unruhen angenommen, gebündelt haben. Diese Bewegungen haben aufgrund ihrer Gegnerschaft zur Logik der internationalen kapitalistischen Finanzen zugleich eine nationale und eine „antisystemische“ Dimension. Aufgrund ihres Kampfes gegen die lokalen Herrschenden, die beflissen der Politik des IWF und der ausländischen Banken nachzukommen suchen, haben sie auch eine „Klassen“komponente.
Es ist nicht verwunderlich, daß in einigen Ländern wie Brasilien oder Bolivien die Arbeiterbewegung, die Gewerkschaften und die Arbeiterparteien, an der Spitze des Kampfes gegen die Rückzahlung der Auslandsschulden stehen. Nationale und soziale Befreiung sind im Bewußtsein der aktivsten Teile der Bewegung aufs engste miteinander verknüpft. Illusionen in einen „nationalen“, „demokratischen“, „progressiven“ und „unabhängigen“ kapitalistischen Weg für die abhängigen Länder – wie die Stalinisten sie jahrzehntelang verbreiteten – haben viel von ihrer Anziehungskraft verloren.
Wie weit kann ein einzelnes Land – sogar ein mächtiges wie Brasilien oder Mexiko – sich der totalitären Diktatur der Weltbank widersetzen und das Joch der imperialistischen Beherrschung abschütteln? Kann die Einheit Lateinamerikas unter Führung von Volkskräften eine Alternative zu den US-amerikanischen Plänen für wirtschaftliche Integration darstellen?
Wie ist in einem unterentwickelten Land ohne wirtschaftliche und militärische Hilfeleistungen einer Industriemacht wie der ehemaligen UdSSR nationale und soziale Befreiung zu erreichen? Wie bedeutend sind die Widersprüche zwischen Europa, Japan und den USA und können befreite Länder der Peripherie sie ausnutzen?
Diese und ähnliche Fragen – auf die keine einfachen Antworten möglich sind – werden von progressiven, sozialistischen und antiimperialistischen Kräften in Lateinamerika und anderswo in der ehemaligen Dritten Welt diskutiert. Sie zeigen, daß die nationale Befreiung an der Peripherie des Systems weiterhin eine zentrale Frage ist, aber auch, daß die Notwendigkeit einer internationalistischen Strategie jetzt vielleicht besser erkannt wird als in der Vergangenheit.
Welche Haltungen sollten Marxisten und Marxistinnen zu nationalen Konflikten einnehmen? Der Marxismus ist gegen die nationalistische Ideologie, er ignoriert jedoch nicht die Bedeutung und die Legitimität von nationalen Rechten.
Deshalb sollten Marxistinnen und Marxisten bei Konflikten zwischen westlichen imperialen Mächten und abhängigen Ländern in Asien, Afrika oder Lateinamerika für die peripheren Nationen Partei ergreifen und gegen alle Formen von imperialer Aggression kämpfen, unter welchem „demokratischen „ oder „juridischem“ Deckmantel auch immer sie stattfinden mag – was aber nicht heißt, daß sie reaktionäre militärische, religiöse oder nationalistische Diktatoren wie General Videla [4], Ajatollah Khomein, Saddam Hussein oder General Noriega [5] unterstützen sollten.
Im Kontext von europäischen Konflikten oder kommunalen Streitigkeiten in der Dritten Welt ist das Problem komplexer. Als eine internationalistische Sicht der Welt hat der Marxismus – der von seinen zahlreichen national-bürokratischen Fälschungen zu unterscheiden ist – den Vorteil einer universalistischen, rationalen und kritischen Position, im Kontrast zu den Leidenschaften und Mythologien der nationalistischen Mythenbildung. Dies gilt nur allerdings unter der Bedingung, daß dieser Universalismus nicht abstrakt bleibt, sich auf bloße Negation von nationalen Besonderheiten gründet, sondern zu einem wahrhaften „konkreten Universellen“ im Hegelschen Sinne wird, das in der Lage ist, den gesamten Reichtum des Besonderen in sich aufzunehmen.
Zunächst einmal nimmt der Marxismus eine entscheidende Unterscheidung zwischen dem Nationalismus der Unterdrücker und dem Nationalismus der Unterdrückten vor. Ohne selber eine irgendwie geartete nationalistische Ideologie zu vertreten, unterstützt der marxistische Sozialismus vorbehaltlos die nationale Bewegung der Beherrschten und lehnt er den „Großmachtchauvinismus“ der herrschenden Nation ab. Diese Unterscheidung ist mehr denn je gerechtfertigt, und sie funktioniert wie ein zuverlässiger Kompaß, mit dem man in dem gegenwärtigen Unwetter die Orientierung finden kann.
Die Benutzung dieses Kompasses wird jedoch durch ein bekanntes Charakteristikum der modernen Nationalismen erschwert: Sobald eine unterdrückte Nation befreit ist oder sogar schon vorher, betrachtet sie es als dringlichstes Anliegen, gegen ihre eigenen nationalen Minderheiten eine analoge Repression auszuüben. Während der gegenwärtigen inter-ethnischen Konflikte verfolgt jede Seite die Minderheit, die der rivalisierenden Nation angehört, und manipuliert zugleich die Angehörigen ihrer eigenen Nation auf der anderen Seite der Grenze; Jugoslawien ist hierfür ein gutes einschlägiges Beispiel (siehe den serbisch-kroatischen Krieg).
Wir benötigen daher ein Kriterium, um das Knäuel der entgegengesetzten und sich wechselseitig ausschließenden Ansprüche zu entwirren. Dieses Kriterium kann nur das Recht auf Selbstbestimmung, sogar der Abtrennung, jeder Nation sein, das heißt jeder Gemeinschaft, die sich als Nation begreift. Dieses Kriterium, das sich nicht um die Mythen von Blut und Boden kümmert und keine rein religiösen oder historischen Ansprüche auf ein bestimmtes Territorium anerkennt, hat den immensen Vorteil, daß es sich nur auf die universellen Prinzipien von Demokratie und Volkssouveränität bezieht und nur die konkreten demographischen Verhältnisse des jeweiligen bewohnten Raums in Betracht zieht.
Diese Regel – die Lenin in das marxistische Vokabular eingefügt hat – ist notwendiger denn je. Doch ihre Anwendung auf die gegenwärtigen nationalen Konflikte, insbesondere in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion, ist allerdings nicht immer leicht. In vielen Fällen sind die Nationalitäten so stark ineinander verflochten, daß jeglicher Versuch, in dieses Mosaik Grenzen hineinzuziehen, voller Gefahren wäre.
Der Traum von nationaler Homogenität innerhalb des Staates, von dem fast alle Nationalismen umgetrieben werden, ist eine höchst gefährliche Perspektive. Wie Eric Hobsbawm in einem nüchternen historischen Rückblick bemerkt: „Die logische Konsequenz aus dem Versuch, einen Kontinent säuberlich in zusammenhängende Territorialstaaten aufzuteilen, die jeweils von einer ethnisch und sprachlich homogenen Bevölkerung bewohnt wurden, war die massenhafte Vertreibung oder Vernichtung von Minderheiten. Das war und ist die mörderische reductio ad absurdum* [6] eines Nationalismus in seiner territorialen Spielart, obwohl dies erst in den Jahren nach 1940 deutlich zu sehen war.“ [7]
Kehren wir zu dem eingangs angesprochenen Paradoxon zurück: An diesem seltsamen nationalistischen Jahrhundertende haben die drängendsten Probleme mehr denn je einen internationalen Charakter. Die Suche nach einem Weg, der aus der Wirtschaftskrise des früheren „sozialistischen Blocks“ herausführt, die Frage der Schulden der Dritten Welt und das drohende ökologische Desaster – um nur diese drei wichtigen Beispiele zu nennen – machen Lösungen für den gesamten Planeten erforderlich.
|
||||||||
Die Lösungen des Kapitals sind bekannt und auf Weltebene perfekt organisiert, unter Führung von einer Art internationalem kapitalistischen Politbüro: des IWF, dessen diktatorische Befugnisse etwas geschichtlich noch nicht Dagewesenes sind. Diese Lösungen haben unvermeidlich zum selben Ergebnis geführt, wo immer sie umgesetzt worden sind: Die Reichen sind noch reicher geworden und die Armen noch ärmer.
Wie steht es um die Aussichten für eine internationale Alternative für die Unterdrückten und Ausgebeuteten? Der alte Pseudo-Internationalismus der stalinistischen Komintern, der Gefolgsleute der diversen „sozialistischen Vaterländer“ oder der „Freunde der UdSSR“ (oder der VR China) ist tot und begraben. Es gibt jedoch Keime eines neuen Internationalismus, des Internationalismus des 21. Jahrhunderts.
Dazu gehört die authentische internationalistische Tradition der sozialistischen Arbeiterbewegung, unabhängig von jedem Staat oder Militärblock; schließlich ist sie unter klassenbewußten Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, Linkssozialistinnen und Linkssozialisten, dissidenten Kommunistinnen und Kommunisten sowie bei Anarchistinnen und Anarchisten, Trotzkistinnen und Trotzkisten noch lebendig. Unter bestimmten Bedingungen kann von dieser Tradition ein Masseneinfluß ausgehen, wie bei der brasilianischen Arbeiterpartei, der PT. Auf der anderen Seite gibt es neue internationalistische Tendenzen, die innerhalb bestimmter weltweiter sozialer Bewegungen – des Feminismus und der Ökologie –, in den europäischen und nordamerikanischen antirassistischen und Solidaritätsbewegungen und bestimmter christlicher oder weltlicher Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty international anwachsen.
Aus der Verschmelzung der proletarischen, sozialistischen und antiimperialistischen internationalistischen Tradition der zuerst und den neuen humanistischen, demokratischen und ökologischen Kulturen der anschließend erwähnten Strömungen kann der Internationalismus von morgen entstehen.
|
Aus dem Englischen übersetzt von Friedrich Dorn. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 335/336 (September/Oktober 1999). | Startseite | Impressum | Datenschutz