Nationale Frage

Die nationale Frage und der Marxismus

Zur Problematik von Theorie und Praxis der marxistischen Klassiker (1844-1940) und zur Aktualität der Thematik

Der vorliegende Artikel setzt sich nicht zum Ziel, die Auffassungen der Klassiker der revolutionären sozialistischen Bewegung von Marx und Engels bis hin zu Trotzki umfassend darzustellen, [1] sondern nur einige Aspekte ihrer Theorie und teilweise ihrer Praxis – die ersten Jahre nach der Oktoberrevolution von 1917 betreffend – zu beleuchten. Hauptkriterium für die Auswahl der Zitate aus den Schriften der „Klassiker“ war ihre heutige Aktualität, fast 10 Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR und genau 10 Jahre nach der gewaltsamen Beseitigung der Autonomie Kosovas und der Vojvodina, die den Beginn der Auflösung der früheren jugoslawischen Föderation markiert und sich nur wenige Jahre später als so verhängnisvoll für die Völker Jugoslawiens erwiesen hat.

Andreas Kloke


A.) Die Entwicklung der Auffassungen von Marx und Engels


Die frühen Jahre

Die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus von Marx und Engels über die Notwendigkeit der Emanzipation des Proletariats und das Ziel der klassenlosen Gesellschaft ist von Beginn an vollkommen kosmopolitisch und internationalistisch geprägt. Die bekannte Formel des „Kommunistischen Manifests“, der zu Folge „die Arbeiter kein Vaterland“ haben, bleibt bis heute in dem Sinn gültig, dass die Probleme der bürgerlichen Gesellschaft, die kapitalistische Ausbeutung und die systemimmanenten Repressionsmechanismen, unter ihnen die nationale und die (semi-) koloniale Unterdrückung, die Unterdrückung der Minderheiten usw., nur in einer künftigen, weltweiten sozialistischen Gesellschaft überwunden werden können. Die Formel kann gleichzeitig so verstanden werden, dass die ArbeiterInnen in den Konflikten der bürgerlichen Staaten untereinander sich nicht auf die Seite „ihrer“ Bourgeoisie stellen sollen. Der Internationalismus wird im 20. Jh. zum entscheidenden politischen Merkmal des revolutionären Marxismus in Abgrenzung zum Nationalreformismus der Sozialdemokratie und der am Status quo orientierten nationalistischen Politik der stalinistischen Bürokratien vor allem der Sowjetunion und später der VR China.

Dennoch ist kaum zu bestreiten, dass die Haltung der jungen Marx und Engels von erstaunlichem und übertriebenem Optimismus geprägt ist, z. B. wenn Marx in der „Deutschen Ideologie“ (1845-46) schreibt:

„Während die Bourgeoisie jeder Nation noch aparte nationale Interessen behält, schuf die große Industrie eine Klasse, die bei allen Nationen dasselbe Interesse hat und bei der die Nationalität schon vernichtet ist, eine Klasse, die wirklich die ganze alte Welt los ist und zugleich ihr gegenübersteht“, [2] womit das Proletariat gemeint ist.

In diesen Jahren (1845-48) waren Marx und Engels der Meinung, die ökonomischen, politischen und sozialen – nicht aber die kulturellen – Unterschiede zwischen den Nationen würden ebenso wie die zwischenstaatliche Konkurrenz und ihre Konflikte schrittweise aufgehoben, wenn, mit den Worten des „Kommunistischen Manifests“, die „öffentliche Gewalt ihren politischen Charakter verliert“.

Engels’ Theorie der geschichtslosen Völker

In der Revolution von 1848-49 und danach setzen sich Marx und Engels intensiver mit dem Problem und der beharrlichen Kompliziertheit des Nationenproblems auseinander, ohne dabei ihren entschiedenen Internationalismus aufzugeben. Sie verwerfen die proudhonistische Auffassung, nach der die Nationen einfach Vorurteile und ausschließlich eine Form falscher Ideologiebildung ohne realen Bezug darstellen.

Ausgehend von den bitteren Erfahrungen der Revolution von 1848-49 entwickelt Engels eine ganze Theorie über die „geschichtslosen“ Völker. Er meint, nur die „revolutionären“ Völker dieser Zeit, die Deutschen, Polen, Ungarn und Italiener besäßen die Fähigkeit, ihre nationale Einheit und Unabhängigkeit zu vollenden, während die anderen Völker der Donaumonarchie (Tschechen, Slowaken, Kroaten, Serben, Rumänen, Bulgaren, Ukrainer usw.) nicht dieselben Perspektiven hätten und zur Assimilation und als eigenständige Völker zum Untergang verurteilt seien. Für diese Einschätzung entscheidend ist die Tatsache, dass diese Völker in der Revolution die Partei der Reaktion und der Habsburger Monarchie ergriffen, während der Panslawismus zutiefst von der führenden reaktionären Macht jener Epoche, dem zaristischen Russland, beeinflusst wurde.

Wie der ukrainische Marxist Roman Rosdolsky 1948 in einer glänzenden Studie dargelegt hat, [3] ist Engels’ Theorie in der Unkenntnis der Klassenwidersprüche zwischen den aktiven Unterstützern der Revolution, zu denen die deutschösterreichischen Bürger sowie die polnischen und ungarischen Aristokraten und Grundbesitzer zählten, auf der einen Seite und den breiten Schichten bäuerlicher Bevölkerung der slawischen Völker, die ihr nationales Bewusstsein noch sehr unvollständig oder gar nicht entwickelt hatten, auf der anderen begründet. Die Weigerung der oberflächlich progressiven und revolutionären Schichten und der aufständischen Nationen, die sozialen und nationalen Rechte der am härtesten unterdrückten und ausgebeuteten Völker anzuerkennen, stieß diese ins Lager der Reaktion, so dass die Revolution in die Katastrophe und Niederlage mündete. Wegen des rückständigen Entwicklungsniveaus und Bewusstseins der slawischen Völker jener Zeit war sogar die radikale Linke der Revolution, zu der Marx, Engels und die „Neue Rheinische Zeitung“ gehörten, nicht in der Lage, den sozialen und nationalen Kern des Problems wahrzunehmen.

Rosdolsky zeigte ebenfalls überzeugend, dass Engels’ Theorie im Wesentlichen dem idealistischen Denken Hegels bezüglich des Weltgeists, der sich in verschiedenen Epochen in jeweils anderen Völkern offenbare, entspringt. Es ist klar, dass die ganze Argumentation einen „Fremdkörper“ im marxistischen Denken darstellt.

Der Kern der marxistischen Auffassung

Eine vollständige Theorie von Marx und Engels über die nationale Frage gibt es zwar nicht, der Grundgedanke der späteren Herangehensweise der revolutionären Arbeiterbewegung und insbesondere Lenins – und nach 1917 Trotzkis – findet sich aber bereits in den Bemerkungen von Marx und Engels zur irischen Frage. Seit 1867 nehmen diese die entscheidende Differenzierung in unterdrückende und unterdrückte Nationen vor, aus der sich eine unterschiedliche Bewertung der beiden Arten von Nationalismus ergibt. 1870 schreibt Marx:

„Es gibt […] in allen großen Industriezentren Englands einen tiefen Antagonismus zwischen dem irischen und englischen Proletarier. Der gewöhnliche englische Arbeiter hasst den irischen als einen Konkurrenten, der die Löhne und die Lebenshaltung herabdrückt. Er empfindet für ihn nationale und religiöse Antipathien. Er betrachtet ihn ungefähr so, wie die heruntergekommenen Weißen der Südstaaten Nordamerikas die schwarzen Sklaven betrachteten. Dieser Antagonismus zwischen den Proletariern Englands wird von der Bourgeoisie künstlich genährt und wachgehalten. Sie weiß, dass diese Spaltung das wahre Geheimnis der Aufrechterhaltung ihrer Macht ist. […] Das Volk, welches ein andres unterjocht, schmiedet seine eignen Ketten.“

Die „internationale Assoziation“ (1. Internationale) sollte daher, wie Marx ausführt, erklären, dass „abgesehen von aller internationalen Gerechtigkeit es eine Vorbedingung der Emanzipation der englischen Arbeiterklasse ist, die gegenwärtige Zwangsvereinigung – d. h. die Sklaverei Irlands – in ein gleiches und freies Bündnis umzugestalten, wenn es möglich ist – in vollständige Trennung, wenn es sein muss.“ [4]

„Auf diese Weise formulierte Marx zwei Gedanken, die das Fundament von Lenins Theorie über die nationale Selbstbestimmung bildeten: a) Eine Nation, die eine andere unterdrückt, kann selbst nicht frei sein (Engels meinte, es sei ein ‚Unglück‘ für ein Volk, über ein anderes zu herrschen), b) die Befreiung der unterdrückten Nation ist die Voraussetzung für die sozialistische Revolution der herrschenden Nation.

Diese Auffassung behält weiterhin ihre Bedeutung und ihre Gültigkeit und bleibt die absolut unverzichtbare Voraussetzung für die Weiterentwicklung und die theoretische Bereicherung des Marxismus“, [5] wenn man an die Beziehungen zwischen einheimischen und „ausländischen“ ArbeiterInnen in den entwickelten Ländern, aber auch zwischen Serben und Kosovaren, Russen und Tschetschenen usw. denkt. Die „traditionelle“ Überausbeutung der Länder der Dritten Welt durch die imperialistischen Metropolen wird derzeit im Zeichen der „Neuen Ordnung“ und der „Globalisierung“ um die rapide voranschreitende Verelendung breiter Schichten in der früheren Sowjetunion und in Osteuropa erweitert, was ebenfalls als eine Form nationaler Unterdrückung betrachtet werden kann. In dieser Hinsicht stellt der NATO-Angriff auf Jugoslawien den vorläufigen Höhepunkt der neuen Strategie der imperialistischen Staaten und der NATO unter ihrer Führungsmacht USA dar, den anderen, ökonomisch schwächeren Ländern des Planeten ihren Willen notfalls auch mit militärischer Gewalt aufzuzwingen.


B. Einwände gegen das Recht auf nationale Selbstbestimmung in der Zweiten Internationale


Die Zweite Internationale definierte das Recht auf nationale Selbstbestimmung 1896 in London als generelles Prinzip, als sie beschloss:

„Der Kongress erklärt seine Übereinstimmung mit dem uneingeschränkten Recht aller Nationen auf Selbstbestimmung und seine Solidarität mit den Arbeitern aller Länder, die unter dem militärischen, nationalen oder sonstigen Joch des Absolutismus zu leiden haben. Der Kongress ruft die Arbeiter aller Länder dazu auf, sich den Reihen der bewussten Arbeiter aller Welt anzuschließen, um mit ihnen für die Überwindung des internationalen Kapitalismus und die Verwirklichung der Ziele der internationalen Sozialdemokratie zu kämpfen.“

In der Internationale gab es jedoch nicht wenige, die die letzte Konsequenz des Rechts auf nationale Selbstbestimmung, nämlich das auf staatliche Abtrennung, bestritten. Zwei Hauptargumente wurden damals (wie wenigstens teilweise auch heute noch) gegen das Recht auf staatliche Sezession geltend gemacht:

  1. Die staatliche Abtrennung befinde sich im Widerspruch zu den objektiven Gesetzen der kapitalistischen Ökonomie, die immer mehr dazu tendiert, die nationalen Beschränkungen zu überschreiten, aber auch zum Aufbau des Sozialismus, der die Entwicklung zentraler Pläne in nach Möglichkeit immer größeren geografischen Räumen erfordert. Die staatliche Abtrennung stehe diesen Notwendigkeiten im Weg und sei daher nicht zu verwirklichen, utopisch und im Grunde reaktionär. Dieses Argument könnte als ökonomisch-deterministisch bezeichnet werden.

  2. Der zweite Einwand betrifft die Sphäre der Politik. Wenn die staatliche Sezession nicht unmittelbar mit den Zielen der sozialistischen Revolution verbunden ist, bedeutet sie die Unterordnung des proletarischen Kampfes unter die Ziele bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Kräfte zur Schaffung neuer unabhängiger Staaten, was der Verwirklichung des internationalen Sozialismus weitere Hindernisse in den Weg legt.

Derartige Einwände wurden von ExponentInnen sowohl des rechten als auch des linken Flügels der Internationale vorgebracht. Die rechten Kritiker des Rechts auf staatliche Abtrennung tendierten in der Regel zur verdeckten oder offenen Unterstützung der Vorherrschaft der „großen“ Nationen (Englands, Deutsch-Österreichs, Russlands etc.) und wurden 1914 fast alle zu Sozialpatrioten.

Otto Bauer, der als erster marxistischer Theoretiker die volle Bedeutung der nationalen Frage erfasst und ein originelles, wenn auch im Wesentlichen idealistisch begründetes Werk darüber geschrieben hat, [6] wollte die Multinationalität Österreich-Ungarns retten und erkannte nur die „nationale Autonomie“, nicht jedoch das Recht auf staatliche Lostrennung an.

Protagonistin jener auf dem linken Flügel, die das Recht auf nationale Selbstbestimmung im Grunde ablehnten, war Rosa Luxemburg. Seit 1893 versuchte sie nachzuweisen, dass Polen wegen seiner relativ entwickelten Industrie im zaristischen Reich und wegen seiner sehr engen ökonomischen Beziehungen zu Russland keine staatliche Unabhängigkeit erringen könnte. Die, wie sie bemerkte, „eiserne Gewalt der historischen Notwendigkeit“, die Polen mit Russland verband, würde die polnische Unabhängigkeit zur Utopie, die Beziehungen zwischen dem polnischen und dem russischen Proletariat dagegen unauflöslich machen. Indem sie den zutiefst politischen Charakter der nationalen Frage unterschätzte, erkannte Rosa Luxemburg nur das Recht auf kulturelle Autonomie an. Sie war der Meinung, dass in den Bewegungen für nationale Unabhängigkeit zwangsläufig bürgerliche oder kleinbürgerliche Kräfte die Hegemonie ausübten. Die Wurzel dieser wohl fehlerhaften Auffassung ist in der scharfen Rivalität zwischen der polnisch-litauischen Sozialdemokratie (SDKPiL), zu deren GründerInnen Rosa Luxemburg zählte, und dem Nationalismus der polnischen PPS zu suchen. [7]

Auch andere Führer der SDKpiL, die im Allgemeinen den Bolschewismus unterstützten, wie Dzershinski und Radek, lehnten das Recht auf nationale Selbstbestimmung ab. Trotzki vertrat bis 1917 eine „eklektizistische“ (Lenin) Position. Einerseits erkannte er das Recht auf nationale Selbstbestimmung an, andererseits diagnostizierte er 1914 „den Untergang des Nationalstaats als unabhängiger ökonomischer Einheit“, die den vollständigen Zusammenbruch des Nationalstaats nach sich ziehen würde. [8] 1917 überwand Trotzki die Widersprüchlichkeit seiner Position und übernahm im Wesentlichen die Auffassung Lenins.


C) Die Auffassung Lenins (Thesen) und ihre Aktualität


Wegen ihrer Aktualität sollen hier einige Kernpunkte der leninschen Auffassung in Thesen vorgestellt werden.

Erste These: Die nationale Unterdrückung und die nationalen Gegensätze können nur auf Grundlage der demokratischen Prinzipien, der völligen Gleichheit und der freien Wahl aller Nationen überwunden werden.

„Die Losung der Arbeiterdemokratie heißt nicht ‚nationale Kultur‘, sondern internationale Kultur des Demokratismus und der Arbeiterbewegung der ganzen Welt. Mag die Bourgeoisie das Volk mit allen möglichen ‚positiven‘ nationalen Programmen betrügen. Der klassenbewusste Arbeiter wird ihr entgegnen: Es gibt nur eine einzige Lösung der nationalen Frage (soweit ihre Lösung in der Welt des Kapitalismus … überhaupt möglich ist), und diese Lösung lautet: konsequenter Demokratismus. […]

Das nationale Programm der Arbeiterdemokratie: absolut keine Privilegien für irgendeine Nation, für irgendeine Sprache; Lösung der Frage der politischen Selbstbestimmung der Nationen, d. h. ihrer staatlichen Lostrennung, auf völlig freiem, demokratischem Wege; Erlass eines für den ganzen Staat geltenden Gesetzes, kraft dessen jede beliebige Maßnahme […], die in irgendwelcher Hinsicht einer der Nationen ein Privileg gewährt und die Gleichberechtigung der Nationen oder die Rechte einer nationalen Minderheit verletzt, für ungesetzlich und ungültig erklärt wird.“ [9]

Nur wer die dialektische Beziehung des Kampfes für die demokratischen Rechte und für den Sozialismus leugnet oder nicht weiß, dass der Marxismus auf den besten Traditionen der Aufklärung basiert, kann dieses Prinzip bezweifeln.

Was die Auflösung des früheren Jugoslawien betrifft, kann die Anwendung des Prinzips des „konsequenten Demokratismus“ nur zu dem Schluss führen, dass die UnterstützerInnen des revolutionären Marxismus die Partei der jeweils unterdrückten Nation ergreifen, die Kroatiens, als das Belgrader Regime den Eroberungs- und Zerstörungskrieg gegen es 1991 entfesselte, die der BosniakInnen („MuslimInnen“), als die serbischen und danach auch die kroatischen Nationalisten es 1992-95 unternahmen, sie als Nationalität zu vernichten, die der serbischen Bevölkerung der „Krajina“, die von den kroatischen Chauvinisten 1995 vertrieben wurde, die der KosovarInnen, als die Belgrader Führung ihnen 1989 ein Apartheid-System aufzwang und danach, als im Frühjahr 1998 die systematische Vertreibung aus ihrem Land begann, die seit dem Einsetzen der Bombardierungen Jugoslawiens durch die NATO besonders erschreckende Ausmaße annahm. Dasselbe gilt für den Schutz der Rechte der serbischen und der Roma-Minderheit seit der Errichtung des NATO-Protektorats in Kosova. Diese Parteinahme für die national Unterdrückten ist unabhängig davon, ob sich die betroffenen Völker mehrheitlich mit bürgerlichen, kleinbürgerlichen oder sonstigen Führungen identifizieren. Andernfalls würden wir die Solidarität mit diesen Völkern in ihrem Existenz- und Überlebensrecht von Faktoren der zufälligen politischen Konjunktur abhängig machen.

Der Klarheit halber wäre hinzuzufügen, dass es sich in erster Linie um militärische Unterstützung gegen den Repressionsapparat der Unterdrückernation handelt, nicht um politische; in jedem Fall bleibt die Notwendigkeit, oppositionelle internationalistische Arbeiterorganisationen aufzubauen und zu stärken, bestehen.

Zweite These: Ohne das Recht auf staatliche Abtrennung gibt es weder nationale Selbstbestimmung noch Internationalismus.

„Der Schwerpunkt der internationalistischen Erziehung der Arbeiter in den unterdrückenden Ländern muss unbedingt darin liegen, dass sie die Freiheit der Lostrennung der unterdrückten Länder propagieren und verfechten. Ohne das gibt es keinen Internationalismus. Wir haben das Recht und die Pflicht, jeden Sozialdemokraten einer unterdrückenden Nation, der keine solche Propaganda treibt, als Imperialisten und Schurken zu behandeln. Das ist eine unbedingte Forderung, selbst wenn der Fall der Lostrennung vor der Errichtung des Sozialismus nur in einem von tausend Fällen möglich und durchführbar wäre.

Wir sind verpflichtet, die Arbeiter zur ‚Gleichgültigkeit‘ den nationalen Unterschieden gegenüber zu erziehen. Das ist unbestreitbar. Aber nicht zur Gleichgültigkeit von Annexionisten. […] Um ein internationalistischer Sozialdemokrat zu sein, darf man nicht nur an seine eigene Nation denken, sondern muss höher als sie die Interessen aller Nationen, ihre allgemeine Freiheit und Gleichberechtigung stellen. In der ‘Theorie’ sind alle damit einverstanden, in der Praxis jedoch zeigt man gerade eine annexionistische Gleichgültigkeit. Das ist die Wurzel des Übels.“ [10]

Diese Worte hätten für die Situation in der früheren Sowjetunion und auf dem Balkan nach dem Ende des sogenannten „realen Sozialismus“ und für viele andere Fälle der jüngeren Vergangenheit geschrieben sein können.

Dritte These: Das Recht auf staatliche Abtrennung und die Freiheit des Zusammenschlusses bilden untereinander keinen Widerspruch.

Lenin fährt in der gleichen Schrift fort:

„Umgekehrt muss der Sozialdemokrat einer kleinen Nation den Schwerpunkt seiner Agitation auf das zweite Wort unserer allgemeinen Formel legen: ‚freiwillige Vereinigungder Nationen. Er kann, ohne seine Pflichten als Internationalist zu verletzen, sowohl für die politische Unabhängigkeit seiner Nation als auch für ihren Anschluss an den Nachbarstaat X, Y oder Z usw. sein. In allen Fällen aber muss er gegen die kleinnationale Beschränktheit, Abgeschlossenheit und Isolation kämpfen, für die Berücksichtigung des Ganzen und Allgemeinen, für die Unterordnung der Interessen des Teils unter die Interessen der Gesamtheit.

Leute, die sich nicht in diese Frage hineingedacht haben, finden es ‚widerspruchsvoll‘, wenn die Sozialdemokraten der unterdrückenden Nationen auf der ‚Freiheit der Lostrennungbeharren, die Sozialdemokraten der unterdrückten Nationen dagegen auf der ‚Freiheit der Vereinigung‘. Etwas Überlegung zeigt jedoch, dass es einen anderen Weg aus der gegebenen Lage nicht gibt und nicht geben kann.“ [11]

Man könnte hinzufügen, dass die Erfahrungen des 20. Jh. bezeugen, dass alle Fälle, wo mächtigere Staaten kleineren Völkern ihre Herrschaft auferlegt haben, in die Barbarei und schließlich zur staatlichen Trennung geführt haben oder in diese Richtung tendieren.

Vierte These: Die revolutionären MarxistInnen sind verpflichtet, die Aufstände der unterdrückten Nationen gegen die nationale Unterdrückung zu unterstützen.

In einer Polemik gegen die polnischen GenossInnen von 1916, die nicht nur den Annexionskrieg ablehnten, sondern ebenso „jede Vaterlandsverteidigung“, also auch die der unterdrückten Nationen, bemerkt Lenin:

Man kann „einen nationalen Aufstand des annektierten Gebiets oder Landes gegen das annektierende Land eben Aufstand und nicht Krieg nennen […] (wir haben einen solchen Einwand gehört und führen ihn deshalb an, obgleich wir diesen terminologischen Streit nicht ernst nehmen). Jedenfalls wird wohl kaum jemand zu bestreiten wagen, dass die annektierten Länder Belgien, Serbien, Galizien, Armenien ihren ‚Aufstand‘ gegen die Staaten, durch die sie annektiert worden sind, ‚Vaterlandsverteidigung‘ nennen werden und mit Recht so nennen werden. […]

Lehnen wir die Unterstützung eines Aufstands annektierter Gebiete ab, so werden wir – objektiv – zu Annexionisten. Gerade ‚in der Ära des Imperialismus‘, die die Ära der beginnenden sozialen Revolution ist, wird das Proletariat mit besonderer Energie heute den Aufstand der annektierten Gebiete unterstützen, um bereits morgen oder gar zur gleichen Zeit die durch einen solchen Aufstand geschwächte Bourgeoisie der ‚Groß‘macht anzugreifen.“ [12]

Besteht dann aber nicht die Gefahr, dass wir die Bourgeoisie oder kleinbürgerliche Führungen einer unterdrückten Nation unterstützen? Lenin antwortet folgendermaßen:

Insofern die Bourgeoisie einer unterdrückten Nation gegen die unterdrückende kämpft, insofern sind wir stets und in jedem Fall entschlossener als alle anderen dafür, denn wir sind die kühnsten und konsequentesten Feinde der Unterdrückung. Sofern die Bourgeoisie einer unterdrückten Nation ihren bürgerlichen Nationalismus vertritt, sind wir dagegen. Kampf gegen die Privilegien und die Gewaltherrschaft der unterdrückenden Nation und keinerlei Begünstigung des Strebens nach Privilegien bei der unterdrückten Nation.“ [13]

Fünfte These: Die Frage der Staatsgrenzen muss in Übereinstimmung mit den Prinzipien der nationalen Selbstbestimmung und der Demokratie geregelt werden.

„Das Proletariat der unterdrückenden Nationen kann sich mit den allgemeinen, schablonenhaften, von jedem Pazifisten wiederholten Phrasen gegen Annexionen und für die Gleichberechtigung der Nationen überhaupt nicht begnügen. Das Proletariat kann nicht an der für die imperialistische Bourgeoisie besonders ‚unangenehmen‘ Frage der Grenzen des Staates, die auf nationaler Unterjochung beruhen, stillschweigend vorbeigehen. […] Das Proletariat muss die Freiheit der politischen Abtrennung der von ‘seiner’ Nation unterdrückten Kolonien und Nationen fordern. Andernfalls wird der Internationalismus des Proletariats zu leeren Worten; weder Vertrauen noch Klassensolidarität unter den Arbeitern der unterdrückten und unterdrückenden Nation sind möglich; die Heuchelei der reformistischen und kautskyschen Vertreter des Selbstbestimmungsrechts, die sich über die von ‘ihren eigenen Nationen’ unterdrückten und in ‘ihrem eigenen’ Staate gewaltsam zurückgehaltenen Nationen ausschweigen, bleibt dabei immer unentlarvt.

Andererseits müssen die Sozialisten der unterdrückten Nationen auf die vollständige und bedingungslose, auch organisatorische Einheit der Arbeiter der unterdrückten Nation mit denen der unterdrückenden Nation besonders bestehen und ins Leben rufen.“ [14]

Diese Bemerkungen Lenins könnten über die heutigen national-reformistischen Führungen der stalinistischen und post-stalinistischen Parteien geschrieben sein, die in der Regel das chauvinistische Milosevic/Seselj-Regime unterstützt haben. Bei den griechischen Parteien KPG und SYN handelt es sich gleichzeitig um eine Ausrichtung auf die politische Linie „ihrer“ Bourgeoisie. Als entscheidend wird ständig die „Unverletzlichkeit“ der Grenzen betont. 47 KP’en aus aller Welt, unter ihnen Rifondazione Comunista und die spanische IU, haben vor Kriegsende eine Erklärung unterzeichnet, in der „eine Lösung im Rahmen der UN“ und die Garantie der „territorialen Unversehrtheit Jugoslawiens und der Unverletzlichkeit seiner Grenzen“ gefordert wird. (Eleftherotypia, 2.6.99) Auf diese Weise verweigern diese Parteien den KosovarInnen schlicht das Recht auf nationale Selbstbestimmung und liegen letztlich – zufällig? – auf der Linie nicht nur des Belgrader Regimes, sondern auch der „G8“ und der NATO.

Sechste These: Die ökonomische Abhängigkeit der kleineren Staaten befindet sich nicht im Widerspruch zum Recht auf nationale Selbstbestimmung.

Rosa Luxemburg schreibt 1908 in einem gegen Kautsky gerichteten Artikel:

„Dieser ‚beste‘ Nationalstaat ist nur eine Abstraktion, die sich leicht theoretisch entwickeln und theoretisch verfechten lässt, die aber der Wirklichkeit nicht entspricht.“

Worauf Lenin antwortet:

„Und zur Bekräftigung dieser entschiedenen Erklärung folgen Betrachtungen darüber, dass die Entwicklung der kapitalistischen Großmächte und der Imperialismus das ‚Selbstbestimmungsrecht‘ für die kleinen Völker illusorisch machen. ‚Kann man denn‘, ruft Rosa Luxemburg aus, ‚im Ernst von einer ‚Selbstbestimmung‘ der formell unabhängigen Montenegriner, Bulgaren, Serben, Griechen, teilweise sogar der Schweizer sprechen, deren Unabhängigkeit selbst ein Produkt des politischen Kampfes und des diplomatischen Spiels des ‚europäischen Konzerts‘ ist?‘! […]

Nicht nur die kleinen Staaten, sondern beispielsweise auch Russland sind ökonomisch völlig von der Macht des imperialistischen Finanzkapitals der ‚reichen‘ bürgerlichen Länder abhängig. Nicht nur die Miniaturstaaten des Balkans, sondern auch Amerika war im 19. Jahrhundert, ökonomisch gesprochen, immer noch Kolonialland Europas, wie schon Marx im ‚Kapital‘ aufgezeigt hat, […] aber mit der Frage der nationalen Bewegungen und des Nationalstaats hat das entschieden gar nichts zu schaffen. Rosa Luxemburg setzte an Stelle der Frage der politischen Selbstbestimmung der Nationen in der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer staatlichen Selbständigkeit, die Frage ihrer ökonomischen Selbständigkeit und Unabhängigkeit.“ [15]

Auch heute, in den Zeiten der „Globalisierung“ und der neuen imperialistischen Ordnung, ist oft zu hören, die kleineren unabhängigen Staaten könnten den Bewegungen des internationalen Kapitals und der Macht der imperialistischen Zentren nichts Nennenswertes entgegensetzen. Im Übrigen sind die imperialistischen Mächte dazu übergegangen, die inneren Konflikte im früheren Jugoslawien zur Installierung von Protektoraten wie in Bosnien-Herzegowina und jetzt in Kosova auszunutzen. In Zukunft wird die gleiche Strategie des Teile und Herrsche möglicherweise in anderen Regionen Osteuropas und der früheren Sowjetunion angewandt werden. Bezeichnend ist, dass sowohl im Vertrag von Rambouillet als auch in der schließlichen „Friedens“-Vereinbarung das Recht der KosovarInnen auf Selbstbestimmung ausdrücklich zurückgewiesen wird. Das Gleiche gilt für den Vertrag von Dayton in Bezug auf Bosnien.

Die Erfahrungen des 20. Jh. zeigen, dass einerseits die ökonomische Abhängigkeit der schwächeren Länder von den entwickelten kapitalistischen Staaten ständig zunimmt, andererseits aber die Spannungen zwischen den Staaten und Nationen und die Unterdrückung der nationalen Minderheiten nicht unbedingt nachlassen. Seit den Balkankriegen von 1912-13 und dem Ersten Weltkrieg ist zu beobachten, dass die Völker immer wieder in den Abgrund der nationalen Kriege, der nationalen Unterdrückung, des „Bevölkerungsaustauschs“, des Fremdenhasses, der „nationalen Säuberungen“ und des Völkermords geführt werden. Das bedeutet, dass die politische Relevanz der nationalen Frage seit Beginn des Jahrhunderts eher gestiegen ist, anstatt graduell abzunehmen.

Die Konflikte um Palästina, Kurdistan, Zypern, Nordirland, das Baskenland, Eritrea, Tibet, Ost-Timor usw. sowie die unerwarteten und hauptsächlich negativen Entwicklungen in Osteuropa seit 1985 belegen diese Einschätzung. Heute wie zu Lenins Zeiten gibt es gegen die nationale Unterdrückung und die Ausbreitung des Chauvinismus kein anderes Gegenmittel als die nationale Selbstbestimmung, die die notwendige Voraussetzung für die Perspektive des freiwilligen Zusammenschlusses der Völker darstellt.

Siebte These: Die Respektierung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung hat entscheidende Bedeutung für die Entwicklung der Solidarität und der Einheit der Arbeiterklasse auf internationaler Ebene.

Auch in der Frage der Abtrennung Norwegens von Schweden 1905 entwickelte sich eine Kontroverse zwischen Rosa Luxemburg und Lenin. Rosa L. behauptete, es habe sich im Wesentlichen um „die Äußerung eines bäuerlichen und kleinbürgerlichen Partikularismus, des Wunsches, für sein Geld einen ‚eigenen‘ König zu haben an Stelle eines durch die schwedische Aristokratie aufgezwungenen“ gehandelt und daher um „eine Bewegung, die mit revolutionärem Geist entschieden gar nichts gemein hatte“.

Lenin analysierte in seiner Erwiderung die Auswirkungen auf das Klassenbewusstsein in den beiden Ländern:

„Und das schwedische Proletariat? Bekanntlich propagierten die schwedischen Gutsbesitzer, unterstützt von den schwedischen Pfaffen, den Krieg gegen Norwegen; und da Norwegen weit schwächer ist als Schweden, da es schon eine schwedische Invasion durchgemacht hat, da ferner die schwedische Aristokratie in ihrem Lande ein sehr großes Gewicht hat, so stellte diese Propaganda eine sehr ernsthafte Bedrohung dar. […]

Das enge Bündnis der norwegischen und schwedischen Arbeiter, ihre einmütige brüderliche Klassensolidarität hat durch diese Anerkennung des Rechts der Norweger auf Lostrennung seitens der schwedischen Arbeiter nur gewonnen. Denn die norwegischen Arbeiter haben sich davon überzeugt, dass die schwedischen Arbeiter nicht vom schwedischen Nationalismus angesteckt sind und dass ihnen der Bruderbund mit den norwegischen Proletariern höher steht als die Privilegien der schwedischen Bourgeoisie und Aristokratie. Das Zerreißen der Bande, die Norwegen von europäischen Monarchen und schwedischen Aristokraten aufgezwungen worden waren, hat die Bande zwischen den norwegischen und schwedischen Arbeitern fester geknüpft. Die schwedischen Arbeiter haben bewiesen, dass sie in allen schroffen Wendungen der bürgerlichen Politik […] die volle Gleichberechtigung und die Klassensolidarität der Arbeiter beider Nationen im Kampf gegen die schwedische wie gegen die norwegische Bourgeoisie zu wahren und zu verteidigen wissen werden“. [16]

Die tatsächliche Anerkennung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung hat demnach direkte Bedeutung für den Kampf der Arbeiterklasse der privilegierten und der unterdrückten Nationen gegen den Kapitalismus oder, wie im Fall Osteuropas nach 1989, gegen die Restauration des Kapitalismus. Was den Zerfall des früheren Jugoslawiens betrifft, handelt es sich um eine negative Bestätigung der leninschen Auffassung, da die Ereignisse hauptsächlich von der Vorherrschaft des serbischen und des kroatischen Chauvinismus geprägt waren – und in der Folge von den imperialistischen Interventionen.

Achte These: Der Sturz des kapitalistischen Systems schafft die Voraussetzungen für die Beseitigung der nationalen Unterdrückung.

Wie können die nationalen Gegensätze und die Unterdrückung überwunden werden? Lenin bemerkt dazu:

      
Mehr dazu
Leo Trotzki: Die ukrainische Frage, die internationale Nr. 3/2022 (Mai/Juni 2022).
Andreas Kloke: Die nationale Frage und der Marxismus (2), Inprekorr Nr. 337/338 (November/Dezember 1999).
Michael Löwy: Nationalismus am Ende des Jahrhunderts, Inprekorr Nr. 335/336 (September/Oktober 1999).
Andreas Kloke: Der Kampf des Kosovo und die Intervention des Westens, Inprekorr Nr. 326 (Dezember 1998).
David Jonas: Die Aktualität Lenins in der nationalen Frage und der Zerfall Jugoslawiens, Inprekorr Nr. 266 (Dezember 1993).
Roman Rosdolsky: Die Arbeiter und das Vaterland, Inprekorr Nr. 225 (März 1990).
 

„Unter dem Kapitalismus kann die nationale (und überhaupt die politische) Unterdrückung nicht beseitigt werden. Dazu ist die Aufhebung der Klassen, d. h. die Einführung des Sozialismus unerlässlich. Doch wenn der Sozialismus auch auf der Ökonomik begründet ist, erschöpft er sich doch keineswegs darin. Zur Beseitigung der nationalen Unterdrückung ist ein Fundament notwendig – die sozialistische Produktion; aber auf diesem Fundament bedarf es noch einer demokratischen Organisation des Staates, einer demokratischen Armee usw. Hat das Proletariat den Kapitalismus in den Sozialismus umgestaltet, so schafft es die Möglichkeit für die völlige Beseitigung der nationalen Unterdrückung; diese Möglichkeit wird ‚nur‘ – ‚nur!‘ – dann zur Wirklichkeit werden, wenn die Demokratie auf allen Gebieten vollständig durchgeführt sein wird – bis zur Festlegung der Staatsgrenzen entsprechend den ‚Sympathien‘ der Bevölkerung, bis zur völligen Freiheit der Lostrennung einschließlich“. [17]

Eine der wesentlichen Ursachen für den Sturz der bürokratischen Regime Osteuropas und insbesondere für die Auflösung der Sowjetunion und des früheren Jugoslawiens ist – trotz einiger bemerkenswerter Versuche wie der jugoslawischen Verfassung von 1974 – die fortgesetzte Missachtung und Knebelung der demokratischen Prinzipien, deren Anwendung Lenin zu Folge die Voraussetzung für den Übergang zur sozialistischen Gesellschaft bildet.

Die Perversion der Prinzipien Lenins unter Stalins Herrschaft und die Etablierung der totalitären bürokratischen Diktatur hatten zur Folge, dass besonders in der Zeit der zwangsweisen Kollektivierung seit 1929 bis Anfang der 50er Jahre die Brutalität und die Barbarei der nationalen Unterdrückung, wie sie für die zaristische Herrschaft charakteristisch waren, noch bei Weitem übertroffen wurden. Es war daher keineswegs zufällig, dass die großrussisch dominierte Föderation der UdSSR wie ein Kartenhaus zusammenfiel, als die Zentralgewalt ihre unbeschränkte Macht verlor.

Gegenüber all den Verbrechen, die von den zentralen Staatsgewalten an den kleineren Völkern begangen werden und alles andere als abnehmende Tendenz aufweisen, bleibt die nationale Selbstbestimmung das einzig richtige und überzeugende Prinzip.

Athen, August 1999
(wird fortgesetzt)



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 335/336 (September/Oktober 1999). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Eine solche Darstellung bietet das Buch von Michael Löwy: Die nationale Frage – Von Marx bis zur heutigen Zeit.

[2] MEW 3, S. 260, Berlin 1962

[3] Roman Rosdolsky, Zur nationalen Frage – F. Engels und das Problem der „geschichtslosen Völker“, Berlin 1979

[4] K. Marx, Briefe an Kugelmann, s’Gravenhage 1972, S. 83f (Hervorhebungen im Original)

[5] Löwy, a.a.O.

[6] Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Werkausgabe, Band 1

[7] Dies bemerkt Löwy, a.a.O.

[8] Trotzki, Der Krieg und die Internationale (1914)

[9] Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage (1913), LW 20, 2. Aufl. 1965, S. 6. Die Hervorhebungen stammen hier und im Folgenden immer von Lenin.

[10] Lenin, Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, LW 22, 6. Aufl. 1981, S. 254

[11] a.a.O., S. 354f

[12] a.a.O., S. 338f

[13] Lenin, Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1914), LW 20, S. 414f

[14] Lenin, Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Thesen), LW 22, S. 149

[15] Lenin, Über das Selbstbestimmungsrecht …, a.a.O., S. 400f

[16] a.a.O., S. 433f

[17] Lenin, Die Ergebnisse …, a.a.O., S. 331