Ex-Jugoslawien/Kosovo/Nationale Frage

Im Dschungel der nationalen Fragen auf dem Balkan

Der Kosovo ist für die Serben so etwas wie das „Heilige Land“, das sie seit 600 Jahren zurückerobern wollen. Der Pragmatiker Milosevic und die Großmächte haben jedoch allen Grund, den Konflikt heute friedlich beizulegen. Doch eine wirklich tragfähige Lösung wird zu Titos altem Projekt zurückgehen müssen: der Balkan-Föderation.

Catherine Samary

Die Intervention der „Sondereinheiten“ der serbischen Polizei auf den Höhen von Mitrevica im Zentrum des Kosovo (eine serbische Provinz, die von fast 90 % Albanern bewohnt wird) zielte (offiziell) darauf, im Februar – nach Angriffen auf serbische Polizisten – das Kommando der „Befreiungsarmee des Kosovo“ (UCK) zu zerstören. Über achtzig Personen sind getötet worden: Es handelt sich um ganze Familien (Männer, Frauen, Kinder, Greise) als angeblich subversive „Clans“; ihre Häuser wurden in den erstürmten Dörfern ausgewählt und gewaltsam zerstört. Wenn auch keine albanische politische Partei Verantwortung für die UCK übernimmt oder sonst eine Linie des bewaffneten Kampfes in unterstützt, haben doch mehrere zehntausend AlbanerInnen seit Anfang März in Pristina und anderen Städten der Provinz demonstriert, um gegen den wirklich an den zunehmenden Gewaltsamkeiten Verantwortlichen zu protestieren: gegen den Terrorismus des serbischen Staates. Tagtäglich haben die Demonstranten auch in zunehmendem Maße auf der Straße ihre Absicht bekräftigt, ein unabhängiges, vom serbischen Joch befreites Kosovo zu regieren.

Nach diesen albanischen Demonstrationen sind ihrerseits 40 000 Serben des Kosovo auf die Straßen Pristinas gegangen. Wenn sie zweifellos daran erinnern wollten, daß der Kosovo die Wiege ihrer Vorfahren, ihr „Palästina“ ist, so ist das heutige Klima nicht mehr das der großen Kundgebungen von 1989. Damals appellierten mehr als eine Million Serben an die Regierung Milosevic, sie möge sie gegen das verteidigen, was sie als einen von den Albanern begangenen „antiserbischen Völkermord“ und eine „antiserbische Politik Titos“ bezeichneten, die ihrer Meinung nach durch den Verlust der serbischen Souveränität über den Kosovo konkretisiert wurde. Um die Wende dieses Jahrzehnts übernahm Milosevic angesichts der Krise der Bundesrepublik [Jugoslawien] die „Verteidigung der serbischen Interessen“, mit dem Ziel einer Sammlung aller Serben in einem Großserbien, das die Serben Kroatiens und Bosniens wiedervereinigen und dessen historisches Zentrum wieder der Kosovo sein würde.

Die 8 % Serben, die im Kosovo wohnen, wissen, daß ihre Demonstrationen gegenwärtig in einem Kontext stehen, den die serbischen nationalistischen Parteien Milosevic als „Verrat an der serbischen Sache“ anlasten, und sie fürchten ausdrücklich, ihre letzte Schlacht des Kosovo zu „verlieren“. In jedem Falle hat der Plan Großserbien eine Niederlage erlitten, mit der Bestätigung eines kroatischen Staates, der seine serbische „Minderheit“ von 12 % auf unter 5 % reduziert hat, und mit dem Einflußverlust der Partei von Karadzic in der „Republika Srpska“ von Bosnien bei den letzten Wahlen.

In diesem Zusammenhang kann man in den letzten Monaten sowohl in Serbien wie in den serbischen Kreisen Bosniens eine wachsende Zustimmung für die radikale serbische Partei von Vojislav Seselj, eines ehemaligen Verbündeten von Milosevic, feststellen, der der unablässige Verteidiger einer Großserbien-Linie bleibt und alle vergangenen und in ihr schlummernden Gewalttätigkeiten auf sich nimmt.

Da im Kosovo nichts geregelt ist, bleibt die Situation also explosiv: Auf der albanischen wie der serbischen Seite sind bestimmte Kreise bereit, sich zu schlagen, um den Kosovo zu beherrschen. Und ein Brand in der Provinz würde sofort Albanien und das benachbarte Mazedonien beeinflussen (25 % der Albaner verlangen dort ebenfalls, als „Volk“ anerkannt zu werden, mit ihren politischen und sprachlichen Rechten und stehen einer „republikanisch-jakobinischen“ Logik gegenüber, die nur die mazedonische Sprache und Staatsbürgerschaft anerkennt).

Die mörderische Offensive der serbischen „Sondereinheiten“ gegen die UCK scheint für die serbische Regierung eine brutale Art und Weise gewesen zu sein, die „Grenzen“ der kommenden Verhandlungen anzukündigen … Verhandlungen also unter Hochspannung. Wie aber sieht – seit der Infragestellung des titoistischen Gleichgewichts – die Bilanz der achtjährigen „Wiedereroberung“ der Provinz aus?


Die Frage des Selbstbestimmungsrechtes


Die Demonstration von 1989 in Kosovo Polje bezeichnete den Höhepunkt von Mobilisierungen, die die Positionen des neuen starken Manns Serbiens, des Pragmatikers Slobodan Milosevic, gestärkt hatten: die Bekräftigung des „serbischen Charakters“ des Kosovo – der Wiege des ersten mittelalterlichen serbischen Staats – und die Wiederherstellung der Kontrolle der Regierungen Serbiens über die Provinz Kosovo, die von 80 % Albanern bevölkert war, sollten ein wesentliches Element seines politischen Aufstiegs gegenüber seinen Gegnern sein, die noch einem „titoistischen“ Herangehen an den Kosovo die Treue hielten. Die Infragestellung des Vetorechts der Provinzen, die dadurch den Status von Quasi-Republiken hatten, war der erste Zerstörungsakt des titoistischen Gleichgewichts und die Bestätigung eines serbischen Nationalismus am Ende der achtziger Jahre.

Die Kontrolle der „Vertreter“ dieser Provinzen auf Bundesebene erlaubte von da an, einen „serbischen Block“ zu bilden (Montenegro, Serbien und die beiden Provinzen gegenüber den vier anderen Republiken), die so die Lähmung der Einrichtungen verstärkte. Die Slowenen protestierten gegen die Unterdrückung im Kosovo – wollten aber nicht mehr für die armen Regionen zahlen, die ihre Integrationsziele in die Europäische Union verzögerten. Der serbische Präsident (Milosevic) und der slowenische (Milan Kucan) verständigten sich hinter den Kulissen über die Selbstbestimmungsrechte … der Völker.

Auf der slowenischen Seite fielen Bevölkerung und Staatsgebiet zusammen – also keine Probleme. Und Milosevic widersetzte sich der Intervention der jugoslawischen Armee gegen die slowenische Unabhängigkeit: Slowenien, ohne serbische Minderheit, war für ihn strategisch gesehen uninteressant. Anders sah es mit Kroatien aus (12 % Serben) und Bosnien-Herzegowina (33 % Serben).

Auf kroatischer Seite stellte Franjo Tudjman 1990 die titoistische Verfassung in Frage, um aus Kroatien den Staat allein der kroatischen Bevölkerung zu machen: Tudjman hatte akzeptiert, daß die Frage des Kosovo eine inner-serbische Angelegenheit bliebe, denn er wollte gleichfalls, daß die serbische Frage Kroatiens eine inner-kroatische bleibt. Er verständigte sich im übrigen hinter den Kulissen mit Milosevic über eine Teilung Bosniens.

Mazedonien und Bosnien-Herzegowina hielten verzweifelt an der Aufrechterhaltung des jugoslawischen Rahmens fest, weil sie die Zerstückelungspolitik ihrer Nachbarn fürchteten. Sie sahen sich einem Dilemma gegenüber, nachdem sich die Slowenen und Kroaten 1991 für unabhängig erklärt hatten: sollten sie in einem von den serbischen Regierungen beherrschtem Jugoslawien bleiben oder die Unabhängigkeit mit ihren Risiken wählen. In der Hoffnung auf internationalen Schutz wählten sie die Unabhängigkeit.

Die serbischen Minderheiten Kroatiens und Bosniens handelten dann einer Groß-Serbien gemäßen Logik, unter dem Schutz des serbischen Staates, der jugoslawischen Armee, die proserbisch und im Sinne der ultranationalistischen Milizen umgekippt war. Das hieß also: zuerst „säubern“, danach „serbische Republiken“ in Kroatien und Bosnien proklamieren und dort Referenden über die Selbstbestimmung zu organisieren. Auf ethnisch gemischten Gebieten hatte die Perspektive, die Serben in ein und demselben Staat zusammenzubringen, sie in eine unerbittlichen Spirale von Krieg und ethnischen „Säuberungen“ geführt.

 

Titos Erbe

Titos Regime hatte, selbst auf sprachlicher Ebene, den Begriff der „Minderheit“ unterdrückt, der während des Zweiten Weltkriegs mit den dunklen Seiten der ethnischen „Säuberungen“ verbunden wurde.

Aber alleine die nationalen Gemeinschaften ohne einen Staat außerhalb Jugoslawiens wurden als „Nationen“ oder konstitutive [den Staat bildende] Völker (narod) mit dem Recht auf Selbstbestimmung betrachtet. Dieses Recht war mehrdeutig, weil die Republiken (außer Slowenien) ethnisch nicht homogen, aber mit der Föderalisierung des Systems zu Grundeinheiten bei den jugoslawischen Konsensentscheidungen geworden waren.

Darüber hinaus wurden die Albaner im Kosovo und die Ungarn in der Vojvodina, weil ihnen ja schon ein Mutterland (der albanische und der ungarische Staat) außerhalb Jugoslawiens „gewährt“ worden war, nicht als „Nationen“ oder konstitutive Völker der von Tito geleiteten Föderation betrachtet (ihr nicht-slawischer Charakter verschärfte die Situation noch). Aber sie waren mehr als eine „Minderheit“ im Vergleich zum anderswo geltenden internationalen Recht. Sie hatten den Status von „Nationalitäten“ (narodnost), zwar ohne Recht auf Selbstbestimmung [und damit auf Loslösung], aber mit einer großen Autonomie in ihren beiden Provinzen (fast gleichwertig mit den Republiken, einschließlich Vertretung auf Bundesebene und Vetorecht) und einer lokalen Amtssprache – was die serbische Mehrheit daran hinderte, diese Provinzen zu dominieren. Genau dies beschimpft der großserbische Nationalismus jetzt als „anti-serbisch“.

Die „serbische Souveränität“ reichte bis zu den Toren der Provinzen. Aber Kroatien war der Staat des kroatischen Volks und des serbischen Volks in Kroatien, während Bosnien-Herzegowina der Staat dreier Völker war (gleichberechtigt Muslime, Kroaten und Serben). Alle waren Bürger Jugoslawiens und ihrer Republiken. Und sie waren Grundeinheiten des Systems geworden – mindestens wenn nicht mehr als die konstituierenden „Völker“, die über verschiedene Republiken verstreut waren. Wer hatte da die Macht, über eine eventuelle Trennung zu entscheiden?

Bei einem Zerfall Jugoslawiens werden sich die einen oder die anderen, je nach ihren augenblicklichen Interessen, auf das Recht der Völker gegen die Staaten oder das Recht der Republiken auf dem Rücken der Minderheiten berufen. Und angesichts brutaler Bedrohung werden die Minderheiten verlangen, als Völker betrachtet zu werden.

Die Besonderheit ihrer Situation war aber, daß die serbischen Minderheiten im Grunde für sich verlangten, was der serbische Staat den Albanern im Kosovo verweigerte; sie fanden sich unversehens in der Situation eines Volkes wieder, das auf das Territorium mehrerer Staaten zersplittert war … wie die Albaner. Und in den neuen unabhängigen Staaten befürchteten sie einen „Minderheiten“status (der tatsächlich in Kroatien im Rahmen einer „Kroatisierung“ der offiziellen Sprache und der Einrichtungen durch den kroatischen Nationalismus drohte) – aber sie hatten eine noch schlimmere Politik der serbischen Machthaber gegenüber den Albanern des Kosovo gebilligt! Diese waren in Serbien und in Mazedonien wieder zu „Minderheiten“ geworden, wo die Staatssprache (die serbische oder mazedonische) sich durchsetzte. Die einen und die anderen (die Serben in Kroatien oder die Albaner in Mazedonien und im Kosovo) verlangten, als „Völker“ – mit dem Recht der Selbstbestimmung – anerkannt zu werden.


Acht Jahre Apartheid und Niedergang


Nach den Änderungen der serbischen Verfassung 1990 sollte im Kosovo eine neue Ordnung herrschen: die Institutionen und die Ernennung aller Führungskräfte – sei es im Unterricht, bei der Gesundheit oder der Polizei – wurden der serbischen Herrschaft unterworfen. Der Plan, die ethnische Zusammensetzung der Provinz zu ändern, wurde von Belgrad ausdrücklich bekräftigt und mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen unterstützt – so die Aufforderung an die Serben, Beschäftigung und Wohnung im Kosovo aufzunehmen, anstelle von Albanern, die durch polizeiliche Schikanen entlassen und vertrieben wurden.

Die albanische Bevölkerung der Provinz entschied sich in einem Referendum für die Unabhängigkeit. Sie proklamierte die Republik Kosovo, ernannte eine Regierung im Exil sowie inländische Einrichtungen, mit Ibrahim Rugova als Präsidenten, der die wichtigste Partei der Provinz (den Demokratischen Bund des Kosovo – LDK) leitete. Die Albaner des Kosovo boykottierten seit damals (Anfang der 90er Jahre) alle von Belgrad organisierten Wahlen. Ihnen wurde der Zutritt zu allen Schul- und Universitätsgebäuden, Bibliotheken, Bädern und Sportstadien verwehrt. Die albanischen Lehrervereinigungen und der Erziehungsminister organisierten danach einen parallelen Schulunterricht, der von der Diaspora und freiwilligen Beiträgen aus dem Privatgewerbe finanziert wurde.

Unmittelbar nach den Vereinbarungen von Dayton und Paris über Bosnien-Herzegowina herrschte im Kosovo eine gewisse Verzweiflung. Die Tatsache, daß die sogenannte „internationale Gemeinschaft“ die ungelöste Frage des Kosovo-Statuts nicht berücksichtigt hatte, ließ verschiedene Führer der albanischen Gemeinschaft befürchten, daß das Schicksal der Provinz der „Realpolitik“ geopfert würde: Die Konsolidierung der Macht des serbischen Präsidenten Milosevic war ein wichtiger Ansatzpunkt (zusammen mit der Stärkung der kroatischen Armee und der Einigung Milosevic/Tudjman) für den „Friedensprozeß“. Die Anerkennung der jugoslawischen (serbo-montegrinischen) Föderation zuerst durch Frankreich, danach von der Gesamtheit der Regierungen der Europäischen Union (nach dem gegenseitigen Anerkennungsvertrag von Mazedonien und der Jugoslawischen Föderation im Frühjahr 1996) sicherte die Macht von Milosevic noch mehr.

Parallel dazu, ohne offen den Übergang zum bewaffneten Kampf zur Verteidigung ihrer Ansprüche auf Unabhängigkeit auszusprechen, wurde im Kosovo eine wachsende Opposition zum Kurs von Ibrahim Rugova ersichtlich: Vor allem Adem Demaci, Leiter der Menschenrechtsliga und der parlamentarischen Partei des Kosovo, befürwortete einen politischen Kampf, rief zu Massenkundgebungen auf und forderte die Infragestellung eines Status quo („weder Krieg noch Frieden“), der letztlich einen Zustand der Apartheid, verschleierter Gewalttätigkeiten und einer übermäßigen Besteuerung des albanischen Privatgewerbes durch die serbischen Behörden billigte. Er wandte sich auch gegen den auf Unabhängigkeit ausgerichteten Kurs von Rugova, der in der Bevölkerung Illusionen über den Charakter der von den Vereinigten Staaten versprochenen Unterstützung hervorrief.

Die Massenkundgebungen in Serbien im vergangenen Jahre hatten auf die jungen Albaner einen wichtigen psychologischen Einfluß: Sie zeigten zum mindesten die Möglichkeit, sich der Straße zu bedienen, um eine demokratische Forderung voranzubringen. Die internationale Gleichgültigkeit und diese Situation von „weder Frieden noch Krieg“, in die die Frage des Kosovo-Statuts zu versinken schien, haben zunehmende Opposition in und außerhalb der LDK entstehen lassen. Das Auftauchen der UCK (Befreiungsarmee des Kosovo) drückt zweifellos die Verzweiflung eines Teils der Bevölkerung, vor allem in der Jugend, aus. Aber sie dient vor allem dazu, die Dringlichkeit von Verhandlungen zu unterstreichen, die die albanische Seite internationalisieren wollte.


Niederlage der Serbisierung: an einem Wendepunkt?


Für die serbischen Machthaber kann man indessen eine zumindest widersprüchliche Bilanz dieser Jahre der „Wiedereroberung“ ziehen, von den Zielen her, die sie angekündigt hatten: den Kosovo zu serbisieren, ihn definitiv der Macht Serbiens zu unterwerfen und aufzuzeigen, daß dies der Weg sei, den lokalen serbischen Bevölkerungen die strahlende Zukunft und die Sicherheit zu verschaffen, die sie erwarteten. Sicherlich ist der Kosovo auf Verwaltungs- und Polizeiebene unter das serbische Joch gezwungen worden. Aber diese Situation ständiger Spannungen und einer öffentlich von den Menschenrechtsorganisationen angeprangerten Apartheid war für irgendeine Politik wirtschaftlicher Entwicklung nicht günstig, und auch nicht für eine wirkliche Sicherheit für die Serben der Provinz. Sie richtete sich gegen das Ziel einer Verwurzelung serbischer Kolonien: Die große Masse der mehr als 400 000 serbischen Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien, die man angehalten hatte, sich im Kosovo einzurichten, verweigerten dies. Die reiche Vojvodina, die obendrein eine mehrheitlich serbische lokale Bevölkerung besaß, war erheblich attraktiver als der Kosovo. Trotz der Flucht der Albaner, die sich vor allem weigerten, am Krieg teilzunehmen, oder im Ausland Mittel suchten, um ihren Familien zu helfen, bleibt der Kosovo mehr als je albanisch.

Das ist der tiefere Grund für eine mögliche pragmatische Wendung von Slobodan Milosevic. Für ihn zählt allein die Macht. Um aber dahin zu gelangen oder um sich zu halten, hat der serbische Präsident es verstanden, sich nach keiner Richtung hin festzulegen: Er hat seine Stärke erst aus dem nationalistischen Programm gezogen (die Vereinigung der Serben im gleichen Staat), dann aus seinem „Verrat“ (in den Augen der Serben der kroatischen Krajina oder Bosniens, die nicht die Chance gehabt haben, in den Prozentsatz der Begünstigten hineinzugelangen). Er hat aus den internationalen Sanktionen Nutzen gezogen, die das serbische Volk als eine Ungerechtigkeit und als Ursache aller seiner Leiden angesehen hat, mit der Konsequenz, sich enger um ihn zusammenzuschließen – und die ihn dann, nach ihrer Aufhebung, zum Schöpfer des Friedens machen. Er hat seine Macht durch das Bündnis mit seiner extremen Rechten gemacht, dann durch seine Trennung von ihr Anfang Herbst 1993, und vielleicht noch immer heutzutage, wo er gegenüber seiner Opposition als das kleinere Übel erscheint. Er hat sich im Krieg, in der Verteidigung der „serbischen Interessen“ legitimiert, danach im Frieden, in der Verteidigung der gleichen Interessen. Gegen die ehemaligen titoistischen Führer, die er verdrängt hat, hat er die „antibürokratischen“ Massenmobilisierungen und die serbischen nationalistischen Ideen benutzt.

Aber er hat auch eine Kontinuität der aus dem früheren Regime hervorgegangenen bürokratischen Apparate ausgenutzt: einen titoistischen „Jugoslawismus“, der ihn gelegentlich von seiner extrem nationalistischen Rechten unterscheidet, und unter dem „sozialistischen“ Etikett eine Wirtschaftspolitik, die den Diktaten des IWF weniger untergeordnet ist als die liberale Opposition es empfiehlt. Er verspricht alles: Privatisierungen genauso wie soziale Sicherheit. Und er hat aus der These des antiserbischen „internationalen Komplotts“ Vorteile gezogen, danach aus der zugesicherten „Partnerschaft“ mit den Großmächten und der NATO bei der Durchführung der Abmachungen von Dayton und der „Balkanordnung“ … Was wird für seine Tasche beim Kosovo herausspringen?

Die Chance für Verhandlungen ergibt sich aus der Niederlage des Planes einer ethnischen Umwandlung der Provinz – und aus der geringen Wahrscheinlichkeit einer neuen kriegerischen Auseinandersetzung seitens der Macht von Milosevic: Der Kosovo ist für die Serben vielleicht ein „Palästina“, aber sie wollen nicht zurückkehren, um dort zu leben. Es ist sogar heute durchaus nicht klar, ob die serbische Jugend bereit wäre, für den Kosovo zu sterben, auch wenn sie über diese Frage beschämt geschwiegen hat.

Tatsache ist, daß die Serben wie die Albaner des Kosovo Anfang September 1996 plötzlich informiert wurden, daß ihre Präsidenten, Slobodan Milosevic und Ibrahim Rugova, sich das erste Mal getroffen und ein Abkommen unterzeichnet haben – durch die Vermittlung der italienischen katholischen Gemeinde „San Egidos“. [1] Das Abkommen bezog sich auf die Rückkehr der albanischen Schüler und Studenten in ihre lokalen Lehranstalten, wobei die Frage des Statuts der Provinz beiseitegelassen wurde. Es hat damals eine große Überraschung und viel Mißtrauen in beiden Volksgruppen hervorgerufen. Das Abkommen ist ein totgeborenes Kind geblieben. Man fürchtete (zu Recht) von albanischer Seite, daß das Statut des Kosovo in Teilabkommen steckenbleiben würde, um am Ende dazu zu dienen, die serbische Beherrschung „durchgehen zu lassen“. Aber das Treffen hat einen Präzedenzfall geschaffen.

Wenn außerdem die Akademie der Wissenschaften von Serbien in ihren Texten von 1986 die Politik der Wiedereroberung der Provinz festgelegt hatte und stets behauptete, der Kosovo sei ein „unveräußerlicher Teil Serbiens“, so hat sie seit fast zwei Jahren eine bedeutende politische Wendung vollzogen: ihr Präsident, Alexander Despic, hat öffentlich „die bittere Wahrheit“ zugegeben: der Kosovo nämlich „wäre für die Serben verloren“ – aus demographischen Gründen. Aus dieser Feststellung hat er die Serben vor die Wahl gestellt: entweder die Staatsmacht in dieser Provinz mit einer zunehmenden albanischen Bevölkerung zu teilen, oder den wesentlichen Teil des Kosovo der albanischen Bevölkerung zu überlassen. [2] Solche Formulierungen öffnen die Türen.

Bestimmte davon sind offensichtlich gefährlich: Jene der „ethnischen“ Teilung hat bereits ihre Sackgassen und ihre Dynamik gezeigt. Will man sie etwa militärisch aufoktroyieren, um den Serben einige Klosterregionen … und Bodenschätze zu erhalten? Wenn Milosevic das wählen würde, kann man neue Polizeioffensiven nicht ausschließen, dazu bestimmt, die Region zu „säubern“, die sich die Serben aneignen wollen – mit dem Risiko unkontrollierbarer Verwicklungen, die das benachbarte Mazedonien und Albanien in Brand stecken könnten.

Zum Ursprung der Konflikte

Im Jahre 1989 war der 600. Jahrestag der Niederlage des mittelalterlichen serbischen Königreichs der Nemaniden (das sich bis Mazedonien und Griechenland erstreckte) gegen die Türken in Kosovo Polje („Amselfeld“). Das siegreiche osmanische Reich bemächtigte sich Konstantinopels und wogte bis vor die Tore Wiens.

Diese historische Niederlage kennzeichnet den Zerfall des serbischen Staates und die Flucht der Serben aus dem Kosovo, wo sie zahlreiche orthodoxe Kloster unterhalten, insbesondere bei Pec, das eine Zeitlang Sitz des Patriarchats war. Die Flucht der Serben machte Platz für die albanische Bevölkerung, die geschlossen zum Islam übertrat. Aber die Rückeroberung des Kosovo blieb eine Besessenheit der serbischen Mythologie bis zum Erfolg der Unabhängigkeit 1912. Die Wanderungen setzten sich im Verlauf der großen historischen Umwälzungen fort und die sozioökonomischen Bedingungen beeinflußten die ethnische Zusammensetzung der Provinz. In dem Maße, in dem die beiden Völker sich nicht vermischten und beide die Beherrschung des Kosovo forderten, waren demographische Veränderungen und Wanderungsströme in jeder Epoche ein bedeutendes politisches Ziel.

Das erste Jugoslawien der Zwischenkriegszeit, das von der serbischen Dynastie beherrscht wurde, hatte insbesondere Mazedonien und den Kosovo zurückgewonnen – zum Nachteil Albaniens, das seither nur die Hälfte der albanischen Bevölkerung umfaßt. Die serbische Monarchie war besessen von der Idee, die ethnischen und demographischen Verhältnisse wiederherzustellen, die von der türkischen Eroberung zerstört worden waren. Sie gründete Kolonien auf türkischem Boden, der von Albanern bearbeitet wurde, die in großem Ausmaß flohen. 1929 stellten Serben und Montenegriner 61 Prozent der Provinzbevölkerung.

Aber der Zweite Weltkrieg kehrte die Wanderungsströme erneut zu Gunsten der Albaner um: Das „Groß-Albanien“ unter der Herrschaft des italienischen Faschismus vereinigte alle Gebiete albanischer Besiedelung einschließlich des Kosovo und gab den Albanern zum ersten Mal in ihrer Geschichte das Recht auf Unterricht in ihrer eigenen Sprache.

Der Sieg des titoistischen antifaschistischen Widerstands setze dieser Episode ein Ende, ebenso wie jener des Groß-Kroatien unter der Herrschaft der Ustascha-Kroaten. Das Projekt eines multinationalen Staates unter Herrschaft der jugoslawischen KP entstand. Aber wie sah es aus?

Tito hatte das Projekt einer Balkan-Föderation verfolgt, die neben den jugoslawischen Republiken auch Albanien, Bulgarien und Griechenland umfassen sollte. Dies hätte den Albanern ermöglicht, sich in einem multinationalen Staat zu vereinigen, auf gleicher Stufe mit den Slawen. Der Bruch mit Stalin 1948 setzte diesem Projekt ein Ende und konsolidierte zum ersten Mal die serbische Herrschaft über den Kosovo.

Die Albaner des Kosovo fanden sich im zweiten Jugoslawien in einem Konflikt mit dem benachbarten Albanien gefangen, das Stalin unterstützte. Die Provinz (die immer noch zur Hälfte von Serben bewohnt war) erlebte bis in die sechziger Jahre ein sehr repressives Regime gegenüber den Albanern und eine starke Zentralisation auf Belgrad. 1965 dezentralisierte sich das System und entwickelte sich gleichzeitig in Richtung Markt wie in Richtung Konföderation, was auch eine stärkere „Ethnisierung“ der Instanzen der Republiken und Provinzen erlaubte. 1968 forderten die Albaner den Status einer Republik für ihre Provinz. Dies wurde verweigert, doch in der neuen Verfassung von 1974 waren alle Republiken und die beiden Provinzen Serbiens (Vojvodina und Kosovo) auf gleiche Weise vertreten und mit einem Vetorecht in der Kammer der Nationen ausgestattet.

Dennoch vertieften sich die fehlerhaften Entwicklungen mit der Dezentralisierung und der bürokratischen Verwaltung der Investitionsfonds. Der demographische Druck (albanische Familien haben sechs bis sieben Kinder gegenüber im Mittel zwei bei einer serbischen Familie) und die Armut der Provinz und die zunehmenden Spannungen zwischen den Volksgruppen beschleunigten den Auszug der Serben aus dem Kosovo. Seit 1971 machten die Albaner über 70 % der Bevölkerung der Provinz aus und Anfang der achtziger Jahre 80 %, was die serbische Presse begann, als „antiserbischen Genozid“ anzuprangern.

 

Die vollständige Unabhängigkeit des Kosovo (außerhalb der Jugoslawischen Föderation und also ohne Teilung) wird von den serbischen Machthabern radikal zurückgewiesen. Ihre auf Gewalt beruhende Stellungnahme bei dieser Frage hängt mit der Verschachtelung der albanischen Fragen im Kosovo und in Mazedonien zusammen: Ist der Kosovo unabhängig, dann werden die Albaner Mazedoniens sich ihm anschließen wollen und damit das Auseinanderbrechen Mazedoniens herbeiführen. Ist das also wirklich das beste, was man im Rahmen des Rechts auf Selbstbestimmung für die Einwohner des Kosovo fordern kann?


Eine Republik Kosovo und ein Bund der Balkanstaaten


Das klassische Eintreten für das Recht auf Selbstbestimmung regelt weder die spezifische Situation von Minderheiten, die nach dem Status eines Volkes streben, noch ist diese Forderung unbedingt die beste Lösung: In Kroatien mußte man sich bestimmt separatistischen Vorstellungen der Serben der Krajina widersetzen, die sie zu einer ethnischen „Säuberung“ der von ihnen bewohnten, gemischten Territorien geführt hätte. Eine (persönliche und teilweise territoriale) Autonomie in einem multinationalen kroatischen Staat war die am besten zu verteidigende Lösung – die von der kroatischen Regierung radikal zurückgewiesen wurde. Eine ähnliche Lösung kann in Mazedonien gegen den herrschenden „Unitarismus“ verteidigt werden. In Bosnien-Herzegowina müßte man nach Vertretungsformen der Völker und Gemeinden streben, die sich nicht auf eine ethnische Territorialisierung [geschlossene Siedlungsgebiete einer Ethnie] stützen; sonst wären ethnische Säuberungen unvermeidlich. Die Territorialisierung der Selbstbestimmung kann, wenn die Bevölkerungen wenig vermischt sind, den Sinn einer lokalen Selbstverwaltung haben. Deshalb ist sie für den Kosovo viel sinnvoller als in Bosnien. Kurz gesagt: Es gibt keine allgemeine Antwort zur (allgemeinen) Verteidigung der Völkerrechte.

Im Kosovo muß man in jedem Falle – wie auch immer die Form aussehen sollte – das Recht der Selbstregierung der lokalen albanischen Majorität anerkennen; dabei müßte man die Rechte der Serben schützen, die weiterhin dort leben können müßten, ohne den anderen ihre Herrschaft aufzuzwingen. Die Stabilisierung und das Vertrauen in diese gegenseitigen Rechte erfordern völlig offene Verbindungen zu den benachbarten Balkanstaaten. Das ist sowohl mit Albanien wie mit Mazedonien möglich, selbst wenn der Kosovo eine der Grundeinheiten der Jugoslawischen Föderation bleibt.

Es gibt kaum Alternativen (und man kann nicht den einen Rechte geben, die man den andern verweigert): entweder geht man auf ethnisch reine Staaten zu und vor allem auf ein Groß-Albanien (dann aber bricht Mazedonien auseinander, und man kann nicht erkennen, warum nicht auch Bosnien-Herzegowina ebenfalls auseinanderbrechen würde, wobei Serbien und Kroatien größer werden, mit einem dauernd bedrohten islamischen Rumpfstaat) – oder man strebt nach unabhängigen multinationalen Staaten und nach Beziehungen zwischen ihnen auf Balkanebene.

Es wäre offensichtlich ein Irrtum anzunehmen, daß die kapitalistischen Interessen im Gegensatz zu dieser zweiten Variante eines Balkan-Staatenbundes stehen, den die Arbeiterbewegung, historisch gesehen, als erste verteidigte. Eine solche Denkweise hat tatsächlich weitaus größere Friedenschancen als die erste Variante, sie wird weniger an militärischen Interventionskosten kosten und günstiger für Investitionen sein. Aus diesem Grunde wird sie vor allem von den Vereinigten Staaten verteidigt.


Wie verhalten sich die Großmächte?


Tatsächlich aber ist im Gegenteil die kapitalistische liberale Denkweise außerstande, diese Variante eines Balkan-Staatenbundes in kohärenter Weise zu stabilisieren (genau, wie es ihr schwerfällt, den Aufbau der Europäischen Union zu stabilisieren): weil einerseits das Vorgehen des Handels die Entwicklungsunterschiede und die regionalen Widersprüche vertieft, und zum andern, weil es keine zusammenhängenden Antworten der verschiedenen Bourgeoisien auf die Völkerrechte gibt. Hinter Deutschland, Frankreich, Spanien oder Großbritannien, Belgien oder Griechenland, die Vereinigten Staaten oder Dänemark stehen ebenso viele unterschiedliche Geschichtsabläufe wie Nationalstaaten auf verschiedenen Grundlagen.

Auf jeden Fall wäre es völlig falsch, daß eine Entscheidung für die Unabhängigkeit einzig und allein richtig wäre, nur weil sich die westlichen Regierungen ihr widersetzen. Man trifft nicht eine Entscheidung (für Unabhängigkeit oder nicht) nach der Auffassung der westlichen Mächte (die, im übrigen, nicht alle das gleiche denken). Wäre es in einem gegebenen Moment richtig gewesen, für das Auseinanderbrechen Jugoslawiens zu sein, weil die meisten Regierungen dagegen waren? Oder gegen die Unabhängigkeit Kroatiens, weil Deutschland es unterstützte?

All dies ist naiv: Die kapitalistischen Investitionen brauchen zu ihrem Schutz stabile Staaten. Dem Kapital ist es gleichgültig, ob es sich um große oder kleine Staaten, um multinationale Staaten oder solche mit einer einzigen Volksgruppe handelt. Deutschland und der Vatikan haben systematisch die Selbstbestimmung der Slowenen und Kroaten ermutigt, danach unterstützt, selbst wenn die eine oder die andere Macht sich inzwischen von der kroatischen Regierung distanziert hat. Die Vereinigten Staaten (und der IWF) haben es zuerst vorgezogen, Schuldenfragen eher mit einem jugoslawischen Staat als mit einer Mehrzahl Staaten mit unsicheren Machtverhältnissen zu behandeln. Aus Gründen einer unkontrollierbaren Denkweise galt dies ebenso für die europäischen Staaten, außer für Deutschland. Späterhin haben sie das Auseinanderbrechen Jugoslawiens akzeptiert (d. h. unterstützt) – wobei sie eine Lösung der Selbstbestimmung und damit souveräne Staaten auf der Grundlage der ehemaligen jugoslawischen Republiken akzeptierten.

Doch sie wollen das nicht fortsetzen, denn der gemeinsame Punkt aller Westmächte – welches auch immer ihre bevorzugten „Verbündeten“ gewesen sind, welches ihre „Einflußzone“ und die Entwicklung ihrer Positionen auch sind – besteht in dem Versuch, durch die Mittel der Realpolitik und der NATO einen Balkankrieg zu vermeiden. Von dieser Sicht her wollen sie alle Verwicklungen vermeiden, die das Auseinanderbrechen Bosnien-Herzegowinas und Mazedoniens ermutigen könnten. In dieser Optik wird jede Anerkennung eines Sezessionsrechts des Kosovo radikal verworfen.

Dies ist der Hintergrund, vor dem die Verhandlungen über den Kosovo eröffnet werden, mit Varianten. Von französischer Seite ist der Ausgangspunkt, nicht die Grenzen Serbiens zu ändern, auch wenn sie die Rückkehr zu einer „großen Autonomie“ des Kosovo verlangen wird. Für die Vereinigten Staaten sind es die Grenzen der Jugoslawischen Föderation (Serbien und Montenegro), die gegen jeden Unabhängigkeitsplan geschützt werden sollen – mit der Unterstützung der Forderung nach einer Republik Kosovo, die die Albaner in eine gleiche Position wie Serbien und Montenegro bringen und die wenig glaubhafte Rückkehr zum Ausgangspunkt (die frühere Autonomie als eine serbische Provinz) vermeiden würde. Es ist sicher, daß diese Position von serbischer Seite auf größere Feindschaft stoßen würde (abgesehen von serbisch-nationalistischen Einwänden: Würde Milosevic es akzeptieren, einer neuen Republik gegenüberzustehen, die seine Macht in Frage stellt, wie es Montenegro immer mehr tut?) und von albanischer Seite stärker unterstützt würde, wenn auch mit viel Skepsis.

      
Mehr dazu
OKDE: Nein zur NATO-Aggression! Selbstbestimmung für Kosova!, Inprekorr Nr. 331 (Mai 1999).
Livio Maitan: Weder NATO noch Milosevic - Selbstbestimmung der Kosovari!, Inprekorr Nr. 330 (April 1999).
Catherine Samary: Nein zur serbischen Aggression gegen die Kosovaren! Nein zu den NATO-Bombardierungen! Ja zum Selbstbestimmungsrecht der Kosovaren!, Inprekorr Nr. 330 (April 1999).
Andreas Kloke: Der Kampf des Kosovo und die Intervention des Westens, Inprekorr Nr. 326 (Dezember 1998).
 

Es liegt jetzt bei den Interessierten (nicht bei den Großmächten), Antworten und Kompromisse zu finden, die sie für annehmbar halten – nämlich der Möglichkeit für ihr Volk, besser und in Frieden zu leben, und ihren letzten Zielen näherzukommen.

Die Tendenz aller Teillösungen der albanischen Frage wird hin zu einer Wiedervereinigung des albanischen Volkes gehen, denn das ist offensichtlich sein Bestreben – und man muß ihm das zubilligen, dem albanischen ebenso wie allen anderen auseinandergerissenen Balkanvölkern. Wie legitim er auch sein mag und wie wichtig die Solidarität mit den Opfern der serbischen Unterdrückung: Der bewaffnete Widerstand zur Durchsetzung der Unabhängigkeit scheint weder die einzige noch die beste Lösung zu sein. Er wäre zweifellos für das albanische Volk selber eine Katastrophe.

Und das ist der Grund, warum es wenig wahrscheinlich ist, daß eine Mehrheit der Albaner ihn wählen wird. Die Kompromißlösungen – die wiederhergestellte Autonomie oder eine Republik im Rahmen der Jugoslawischen Föderation – werden den Frieden nur erhalten, wenn sie von den Interessierten diskutiert und akzeptiert werden, den Polizeibrutalitäten ein Ende bereiten und in die Richtung der tiefen Hoffnungen der Bevölkerungen gehen: wenn sie also so schnell wie möglich ausgearbeitet und artikuliert werden, um tatsächlich die albanische Frage und die serbische Frage zu lösen – im „richtigen Raum“, dem Balkan.

Das wichtigste Hindernis in dieser Richtung bilden unglücklicherweise die reaktionären Regierungen, die die gegenwärtigen Staaten dieses Raumes beherrschen – und das Fehlen einer demokratischen Opposition, die imstande wäre, eine progressive Alternative für die sozialen und nationalen Probleme vorzuschlagen. Aber diese Zukunft wird mit den Zivilgesellschaften (nicht mit der NATO und den westlichen Regierungen) errichtet werden. Jeder Fortschritt zu mehr Demokratie und die Möglichkeit für jedes Volk, seine Zukunft in die Hand zu nehmen, muß in dieser Sicht unterstützt werden.

Aus: Inprecor Nr. 423 (April 1998)
Übers.: Rudi Segall



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 320 (Juni 1998). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Siehe AIM, Pristina, 6. September 1996, Violeta Orosi.

[2] Siehe AIM, Pristina, Juli 1996, Artikel von Shkelzen Maliqi und Besim Abazi.