Großbritannien

Neue Linkspartei – eine historische Chance?

Eine Einschätzung der Möglichkeiten, die sich durch den Start der neuen linken Partei durch die ehemaligen Labour-Abgeordneten Zarah Sultana und Jeremy Corbyn eröffnen.

Dave Kellaway

Jedes Mal, wenn ich mit diesem Artikel anfange, muss ich die Zahlen derer aktualisieren, die sich auf der „Your Party“-Website eingetragen haben. Laut dem Twitter-Feed von Zarah Sultana haben wir in weniger als einer Woche bereits 500 000 erreicht und es werden immer mehr. Dies ist das Thema, das bei den Demos und Mahnwachen für Palästina oder zur Verteidigung von Migrant:innen in aller Munde ist.

 

Zarah Sultana

(Foto: Jessica Taylor)

Ja, der Vergleich mit registrierten Mitgliedern von Labour und Reform ist nicht fair, da dies noch keine zahlende Mitgliedschaft ist, obwohl es interessant wäre zu sehen, wie viele bereits gespendet haben.

Wir erinnern auch an die 300 000, die sich für die Kampagne „Enough is enough“ (Genug ist genug) angemeldet haben, die von führenden Gewerkschafter:innen während der großen Streiks im öffentlichen Dienst vor einigen Jahren ins Leben gerufen wurde. Die Leute hinter dieser Kampagne hatten kein Projekt, es gab ein paar einzelne Kundgebungen mit Sprecher:innen der Plattform und das Projekt löste sich schnell in Luft auf. Diesmal ist es anders.

Die Menschen unterzeichnen eine Erklärung, die eine Reihe allgemeinpolitischer Positionen enthält, die das Corbyn-Projekt widerspiegeln, und eine Verpflichtung zur Unterstützung Palästinas. Die Erklärung könnte in Bezug auf Ökologie viel besser sein, obwohl sie Kritik an Unternehmen für fossile Brennstoffe enthält, die den Planeten zerstören.

In der Erklärung ist auch ein klarer Hinweis enthalten, dass es eine Gründungskonferenz geben wird und dass die Mitglieder über Grundsätze und Führungspersonen entscheiden sollen. Die Leute hier melden sich für einen ganz anderen Prozess an als bei der „Enough is Enough“-Kampagne. Selbst wenn nur die Hälfte von denen, die sich eintragen, wirklich eintreten würde, könnte sich das immer noch neben der Mitgliederzahl der Labour Party sehen lassen.

Starmer und sein Team sind sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, Mitgliederzahlen herauszugeben. Die Nationalen Exekutivkomitees haben diese Informationen üblicherweise veröffentlicht, hörten aber bei den letzten Sitzungen damit auf. Die Leute, die noch in Labour sind, werden Euch sagen, dass es nur wenige aktive Mitglieder gibt. Zu den offiziellen Mitgliedern der Labour Party gehören viele, die nur zahlen, aber nicht aktiv sind.

Der Rückgang der Labour-Partei ist angesichts der anhaltenden Weigerung, den Völkermord in Gaza anzuerkennen, der Anti-Migranten-Politik und der Kürzungen der Sozialleistungen kaum überraschend. Versammlungen reduzieren die politische Diskussion bewusst auf ein Minimum. Sie haben sogar das Statut geändert, so dass Wahlkreisversammlungen seltener stattfinden. Ratsmitglieder und politische Karrieristen halten die Grundstrukturen am Laufen.

Und mehr Mitglieder werden austreten, wenn der Corbyn/Sultana-Prozess Fahrt aufnimmt. Die riesigen Zahlen, die jetzt unterzeichnen, werden Menschen zum Nachdenken bringen und diejenigen an Bord holen, die noch zögern, sich zu entscheiden.


Reaktionen von Labour und Medien


Verglichen mit der Berichterstattung der Medien über den jüngsten Zulauf zu Farages Reformpartei wurde über die explosionsartige Zunahme der Mitgliederzahlen der neuen Linkspartei weit weniger berichtet. Dennoch war es unmöglich, zahlreiche Umfragen zu ignorieren, die die neue Partei zwischen 10 und 15 % sahen. Sie würde Stimmen von der Labour Party, den Grünen und den Nichtwählern (jeweils etwa ein Drittel) abziehen.

Starmer-freundliche Journalist:innen vertreten widersprüchliche Positionen. Einige betonen die internen Schwierigkeiten und übertreiben die Unterschiede zwischen dem Sultana-Lager und den Corbyn-Gefolgsleuten. Sie sagen voraus, dass das Ganze in Tränen und Spaltung enden wird. Gleichzeitig sagen andere, dass die neue Partei in unverantwortlicher Weise Stimmen auf der Linken spaltet – mit anderen Worten, sie werde funktionieren und eine beträchtliche Anzahl von Stimmen erhalten.

Ein Journalist, Sean O’Grady, der im Independent schreibt, gibt der Partei 6 Monate Zeit, um sich in einen Sultana- und einen Corbyn-Flügel zu spalten. Er glaubt sogar, dass sie Starmer stärken wird, indem Klarheit geschaffen wird und er progressive Stimmen hinter seiner Führung zurückgewinnt, um Farage zu stoppen. Die Berater treiben dieses Macron-Szenario als die Zukunft von Labour voran. Viel Glück!

Jeremy Corbyn

(Foto: Raph_PH)

 

Ich habe dieses Spaltungsargument von örtlichen Labour-Parteimitgliedern gehört, als wir über die neue Partei diskutierten. Aber es ist die Politik von Starmer und seine Kehrtwende, die dazu geführt haben, dass sich die Labour-Stimmen auf die Grünen und linke Kandidaten aufgeteilt haben. Man kann nicht zynisch die antidemokratische Natur unseres Wahlsystems nutzen, um gegen die Gründung einer neuen Partei zu argumentieren. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass auf den Parteitagen große Mehrheiten für das Verhältniswahlrecht gestimmt haben. Wie eine Person neulich in den sozialen Medien bemerkte, als sie die Zahl der Anmeldungen sah: Es geht es nicht so sehr darum, die Stimmen aufzuteilen, sondern sie zurückzugewinnen.

Tatsächlich sprechen sich viele Befürworter der neuen Partei nachdrücklich gegen eine Aufteilung der Stimmen zwischen progressiven Kandidaten der Grünen und der neuen linken Partei aus. Gleichzeitig würden wir jenen Labour-Abgeordneten die Hand reichen, die sich für Palästina geäußert oder gegen die Sozialkürzungen gestimmt haben – es wäre albern, einen Linken-Kandidaten gegen einen John McDonnell oder eine Diane Abbott aufzustellen.


Wie hat die marxistische oder radikale Linke reagiert?


Im Gegensatz zu einigen früheren alternativen Projekten hat fast jede linke Gruppe wie die Socialist Party, Counterfire und die Socialist Workers Party das neue Projekt unterstützt und will es mit aufbauen. Einige unabhängige Aktivist:innen und Sozialist:innen meinen, dass das irgendwie schlecht wäre und dass diese Gruppen unweigerlich in einer negativen Weise eingreifen werden. Siehe beispielsweise diesen beschwingten Artikel.

Wenn man eine offene, inklusive Partei ist, kann man kein Veto gegen die Teilnahme von mehreren tausend erfahrenen und engagierten Aktivisten einlegen. Manchmal entfremden leninistische Gruppen die Menschen durch die krasse Art, wie sie in der Massenbewegung arbeiten. Zum Beispiel hat die Revolutionary Communist Party bereits angekündigt, dass sie sich anschließen werde, um die Partei in eine revolutionär-marxistische Vorhutpartei zu verwandeln. Farage, nicht blöd, lud sogar einen von ihnen in seine landesweite Nachrichtensendung ein.

Wenn auch nur ein Viertel oder ein Drittel derjenigen, die unterzeichnen, beitreten und sie aufbauen, dann sollten wir in der Lage sein, zu verhindern, dass ultralinke Konzepte angenommen werden. Der Schlüssel zur Entschärfung fruchtloser Propaganda besteht darin, feste Regeln für die Diskussion zu haben und die Partei durch Massenaktivität zur Verteidigung der arbeitenden und unterdrückten Menschen aufzubauen.

Ernsthafte Menschen verstehen, dass eine Corbyn/Sultana-Partei deutlich links von Labour stehen wird und die Möglichkeit bietet, eine Alternative zum Labourismus aufzubauen. Ihr Programm wird für das Kapital inakzeptabel sein, das eine größere Gegenoffensive entfesseln wird, als wir es bei Corbyn Versuch 1 gesehen haben. Es ist albern, heute – in einer nicht revolutionären Situation – Zeit damit zu verbringen, sie zu einer klaren Linie zur Zerstörung des kapitalistischen Staates zu drängen. Marxistische Strömungen können solche Fragen in angemessener Weise aufwerfen – es ist wichtig, dass sich ein revolutionärer Pol oder eine revolutionäre Strömung entwickeln kann.

Einige Genoss:innen neigen dazu, den Wahlkampf und den Kampf auf der Straße und am Arbeitsplatz direkt gegeneinander zu stellen. Jeder Aufbau einer sozialistischen Alternative erscheint utopisch ohne radikale Präsenz auf allen Regierungsebenen. Selbst ein Aufschwung selbstorganisierter Kämpfe erfordert eine politische Strategie und ein politisches Ziel, wenn ein echter Wandel erreicht werden soll.


Wir wollen keine neue Labour-Partei


Auf der anderen Seite wollen wir nicht, dass die Partei das Spiel der gescheiterten Corbyn-Führung der Labour Party nachspielt. Es wird der Fall sein, dass eine Reihe von Menschen, die beitreten, sie als Chance sehen werden, die Labour Party zurückzugewinnen, von der sie glauben, dass Blair und Starmer sie zerstört haben. Manche mögen es als Aktionsgruppe ansehen, um Druck auf die Labour-Führung auszuüben, vielleicht sogar Starmer und den rechten Flügel herauszudrängen und sich dann mit dem Mutterschiff wieder zu vereinen.

James Schneider äußert sich in seinem jüngsten Interview auf der Sidecar-Website sehr konkret zu diesen Themen.

Wenn die neue Partei all ihre Zeit damit verbringt, eine perfekte Sozialpolitik für eine imaginäre links-technokratische Zukunft, in der wir den Staat führen, auszuarbeiten, dann wird sie nirgendwohin gehen. Wenn sie sich selbst als Labour-Partei 2.0 versteht, mit einer besseren Politik als die derzeitige, aber ohne Möglichkeiten für eine echte Beteiligung der Bevölkerung, wird sie durch Gegenkräfte zerstört werden. In der Corbyn-Periode waren wir in einer Position gefangen, in der Labour-Mitglieder oft darauf warteten, dass eine Handvoll Leute an der Spitze Entscheidungen treffen, anstatt selbst aktiv zu werden und Führung zu übernehmen. Diesen Fehler dürfen wir nicht wiederholen.

Schneider betont weiter, wie wir das entwickeln müssen, was er als Volksmacht statt beschränktem Wahlkampf bezeichnet – die Partei sollte in die Entwicklung der Selbstorganisation an unseren Arbeitsplätzen und in der Zivilgesellschaft investieren

Ich mag seine Formulierung – Klassenkampf mit einem Grinsen. Mit anderen Worten, wir brauchen eine Partei, die Neuland beschreitet und eine bessere politische Kultur entwickelt. Sie sollte frech und kämpferisch sein und das Weltbild der etablierten Medien angreifen. Wir haben es einmal versäumt, die Tausende neuer Aktivist:innen festzuhalten, die sich Labour angeschlossen hatten. Sie waren nicht daran interessiert, wie die Strukturen der Labour Party funktionieren und drifteten wieder davon. Der Vorteil, den wir dieses Mal haben, ist, dass wir die Menschen nicht in eine bereits bestehende, verdummende Institution bringen. Wir haben zumindest die Chance, etwas anderes zu schaffen.


Und die Grünen?


Ich denke, Schneider steht den Grünen eher negativ gegenüber. Er meint, dass sie ein mathematisch-wahlzentriertes Konzept verfolgen und dass Gruppen wie Extinction Rebellion mehr Einfluss hätten. Ich denke, ein Ergebnis von 10 % in den Umfragen und die Fähigkeit, etwa 800 Ratsmitglieder zu stellen und Ihre Abgeordnetenzahl zu vervierfachen, sind Beweis für eine gewisse Wirkung.

Die radikaleren Gruppen können recht schnell auf- und absteigen. Die Grünen sind heterogen – sie sind verschiedene Spezies im Norden Londons, in Bristol oder im ländlichen Norfolk. Wenn Zack Polanski die Führung gewinnen würde, würde dies den radikalen Flügel stärken und den Weg für Wahlbündnisse in Städten öffnen, in denen Labour verwundbar ist.

Angesichts der Umfrageergebnisse wurde davon gesprochen, dass eine neue Linkspartei mit einem Dutzend oder mehr Abgeordneten zusammen mit den Grünen eine entscheidende Rolle spielen könnte, wenn es ein Patt im Parlament geben würde. Angesichts der Instabilität der britischen Politik kann dies nicht ausgeschlossen werden.

Was wir aber wissen, ist, dass neue linke Parteien in Griechenland, Spanien und Italien wegen der Frage von Regierungsbündnissen mit Parteien wie Labour zerstört wurden. Es kann möglich sein, einer Regierung, die sich auf eine fortschrittliche Politik verpflichtet hat, externe Unterstützung zu gewähren, ohne eine umfassende Koalition zu bilden und ohne Ministerien zu übernehmen.

Das haben der Linksblock und die KP vor einigen Jahren in Portugal getan. Das ist verständlich, wenn damit verhindert werden kann, dass eine harte rechte oder neofaschistische Regierung gebildet wird. Doch diese Diskussion über eine Pattsituation im Parlament sollte nicht dominieren.

      
Mehr dazu
Jeremy Corbyn und Zarah Sultana: Es ist Zeit für eine neue Art von politischer Partei. Eine, die Euch gehört., die internationale Nr. 5/2025 (September/Oktober 2025) (nur online).
Anti*Capitalist Resistance: Nach dem Erdrutsch: Widerstand und Neuausrichtung, die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024). Auch bei intersoz.org.
Terry Conway: Streikwelle in Großbritannien weitet sich aus, die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023).
Thierry Labica: Enough is enough, die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022).
Sharon Graham: „Gegenmacht von unten aufbauen“, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022).
Anders Ekeland und Einar Braathen: Die Linke und die Regierungsfrage. Kritischer Vergleich der Erfahrungen in Norwegen und Europa, die internationale Nr. 5/2021 (September/Oktober 2021).
Antoine Rabadan: Anticapitalistas – Schluss mit Podemos, die internationale Nr. 3/2020 (Mai/Juni 2020).
Catarina Principe: Ein portugiesisches Märchen, die internationale Nr. 5/2018 (September/Oktober 2018).
Buchbesprechung: Nach Goldschätzen graben, Regenwürmer finden. Die Linke und das Regieren, SoZ, März 2017
 

Sultanas entscheidender Schritt


Was jeder heute mit der Anzahl der Anmeldungen sehen kann, ist, dass wir diese Situation nicht einfach als dasselbe alte linke Projekt wie Respect, Socialist Alliance oder Left Unity abtun können. Das ist von einer anderen Größenordnung. Die Leute scheinen überrascht zu sein, dass der Prozess nicht einfach war, aber wenn so viel auf dem Spiel steht und wir eine historische Gelegenheit haben, dann werden die Leute leidenschaftlich sein und um ihre Ecke kämpfen.

Wir sollten den Beitrag von Zarah Sultana nicht unterschätzen. Sie war ein bisschen wie die neue Freundin, die im Urlaub zu einer festgefügten Gruppe stößt und abends immer ewig braucht, um sich für ein Restaurant zu entscheiden. Mindestens eine halbe Stunde wird vergeudet und dann setzt sie sich einfach irgendwo hin und alle folgen widerwillig. [1]

Natürlich stöhnen in der Gruppe alle über die Frechheit der neuen Freundin. Offensichtlich wurden Corbyns Berater von Sultana überrumpelt und aus dem Spiel genommen. Aber zumindest hat sie die Dinge in Bewegung gebracht. Noch wichtiger ist, dass sie die Attraktivität der neuen Formation erweitert. Sie stammt aus einer anderen Generation, ist eine Frau und hat südasiatische Wurzeln. Zarah verkörpert die Generation, die Labour wegen Palästina verloren hat.

Gleichzeitig sieht es so aus, als ob die Idee eines lockeren Bündnisses jetzt von Plänen für eine Konferenz und von Leuten, die für eine Partei unterschreiben, abgelöst wurde. Scheider selbst, der Corbyn nahesteht, plädiert für eine demokratische Struktur und kollektive Führung. Der Teufel steckt vielleicht im Detail, aber es besteht die Chance, dass die Partei demokratisch aufgestellt wird und ein nationaler Fokus für die Millionen sein wird, die nach einer Alternative links von Starmer suchen.

29. Juli 2025
Quelle: International Viewpoint, Anti*Capitalist Resistance.
Übers.: B. Mertens



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 5/2025 (September/Oktober 2025) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Vermutlich eine Anspielung darauf, dass Sultana Anfang Juli mit der Ankündigung der neuen Partei auf X sehr zum Unmut von Corbyn vorgeprescht war (siehe auch Wikipedia) – Anm. d. Üb.