Portugal

Ein portugiesisches Märchen

Die sozialdemokratisch geführte Regierung in Portugal erscheint als Ausnahme vom allgemeinen Niedergang der europäischen Sozialdemokratie. In der Bekämpfung der Austeritätspolitik fällt ihre Bilanz jedoch weniger eindeutig aus.

Catarina Principe

Der ehemalige Premierminister Pedro Passos Coelho pflegte zu sagen: „Portugal ist nicht Griechenland.“ Der Wahrheitsgehalt dieses Satzes bestand nicht darin, dass diese beiden Länder eine unterschiedliche Austeritätspolitik betrieben hatten. Unter dem Diktat der Troika (Internationaler Währungsfonds, Europäische Zentralbank und Europäische Kommission) schossen Arbeitslosigkeit und Armut in die Höhe, der Arbeitsmarkt wurde weiter liberalisiert, die Steuern wurden durchgängig um 35 % erhöht, Banken wurden gerettet und die Sozialausgaben gekürzt. Hunderttausende von Menschen sind ausgewandert.

Der Unterschied zu Griechenland lag auch nicht in der Stärke der portugiesischen Wirtschaft. Die staatlichen Strukturen sind dort sogar noch schwächer als in Griechenland und die Wirtschaft ist noch stärker vom Kerneuropa abhängig, nachdem in den vier Jahrzehnten der europäischen Integration fast alle Produktionssektoren zerstört worden waren. Dieser Prozess lief genauso ab wie in Griechenland. Portugal sollte als Vorbild für das übrige Europa dienen und zeigen, dass Austeritätspolitik funktioniert.

Der Widerspruch besteht darin, dass Portugal zwar bekanntlich eine linke Regierung hat, aber dies bedeutet nicht, dass sie keine Austeritätspolitik umsetzt. Zwar werden Sonntagsreden über die Armutsbekämpfung gehalten, aber nicht die Bevölkerung dazu aufgerufen, sich gegen die von der EU auferlegte Sparpolitik zu wehren. Portugal ist also weniger ein Testfall für eine neue linke Politik als vielmehr ein lebendes Beispiel, an welche Grenzen eine Regierung stößt, wenn sie das Zwangskorsett der Sparpolitik durchbrechen will.


Passivität statt Rebellion


Um die gegenwärtige Lage in Portugal zu verstehen, müssen wir begreifen, inwiefern sie sich von Griechenland unterscheidet. Als Griechenland 2010 das Memorandum auferlegt wurde, war die sozialdemokratische Pasok an der Regierung. Die Folge war die sog. „Pasokifizierung“: die Erosion der klassischen Sozialdemokratie und ihre Hinwendung zum unverhüllten Neoliberalismus.

Dieser Prozess begann nicht erst mit der Pasok, denn die schärfsten Sparmaßnahmen während der vergangenen 30 Jahre wurden oftmals von den sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa durchgesetzt, wie im Fall von Schröders Agenda 2010. Aber nirgendwo ging dieser Prozess so weit wie in Griechenland, wo schlagartig die traditionelle sozialdemokratische Partei von der Bildfläche verschwand.

In Portugal hingegen wurde das Memorandum zwar von drei Parteien unterschrieben – der rechten Volkspartei (CDS-PP), der ebenfalls rechtsgerichteten „Sozialdemokratischen Partei“ (PSD) und der Sozialistischen Partei (PS) – aber an der Regierung war während der ersten vier Jahre eine Rechtskoalition, die Portugal unter den Vereinbarungen mit den europäischen Institutionen zu verbringen hatte. Dies schuf eine andere politische Situation, dass nämlich die PS als eine Opposition zur harten Sparpolitik wahrgenommen wurde und daher die linken Parteien, die entschieden gegen die Sparpolitik kämpfen, viel geringere Wachstumschancen hatten als Syriza in Griechenland.

Obwohl es unter der Bevölkerung riesige Mobilisierungen gegen die Sparpolitik gegeben hat, erreichte dieses Unzufriedenheitsgefühl nie eine organisierte (partei-) politische Ebene. Daher blieben die Aussichten auf eine linke Rebellion in Portugal gering, was ein weiterer Grund war, an diesem Land ein Exempel zu statuieren. Der EU und besonders Deutschland ging es um den Nachweis, dass Austeritätsmaßnahmen zu einem positiven Ausgang führen sollen. Für Merkel, die ihrerseits die Politik der Niedriglöhne und sozialen Einschnitte fortsetzt, wäre es politisch katastrophal, wenn Austeritätspolitik nur unter extremen sozialen und politischen Krisenbedingungen durchsetzbar wäre oder gar eine Linke in den Sattel hieven würde, die diese Sparpolitik beendet. Portugals Schuldenkrise schien daher die beste Gelegenheit, die positiven Folgen einer Sparpolitik zu demonstrieren, die unter den Bedingungen einer geringen sozialen Mobilisierung und einer unkritischen Befolgung der Maßgaben der Troika auferlegt wird.

Portugal ersuchte die EU 2011, ein Jahr nach Griechenland, um Rettung und wurde von Beginn an als „Musterschüler“ behandelt. Portugal sei nicht mit Griechenland zu vergleichen, hieß es gebetsmühlenartig und zu Recht. Ab Ende 2014 durfte die EZB vermittels der portugiesischen Zentralbank öffentliche portugiesische Schuldverschreibungen direkt erwerben, eine Form des „quantitative easing“. Dies hatte zwei Vorteile: Die Zinssätze auf die Schulden gingen zurück und ein Teil der Zinszahlungen seitens der portugiesischen Regierung floss an die eigene Zentralbank und erhöhte somit die liquiden Mittel im eigenen Wirtschaftskreislauf. Ein Vorgehen, das die europäischen Institutionen Griechenland niemals gewährt hatten.

Auch als 2016 das Haushaltsdefizit über dem im Fiskalpakt festgelegten Limit lag, verhängte die Europäische Kommission keine Sanktionen gegen Portugal und Spanien. Dies war eine politische Entscheidung, mit der nicht nur die portugiesische Regierung mehr Spielraum bekommen sollte, sondern in erster Linie die spanische Linke in Schach gehalten werden sollte, da dort die Zwangssparmaßnahmen die politische Krise zu verschärfen drohten.

Im März 2018 erzielte die portugiesische Regierung mit der EU-Kommission sogar eine Vereinbarung, wonach die Kosten für die Rekapitalisierung der staatlichen Bank Caixa Geral de Depositos aus dem Haushaltsdefizit herausgerechnet werden durften. Trotz dieser Entscheidung bezifferte das EU-Statistikamt Eurostat das portugiesische Defizit auf 3 %, und damit über der Obergrenze des Fiskalpakts und weit über der Prognose der Regierung von 0,9 % (das wäre das niedrigste Defizit aller Zeiten gewesen). Wieder einmal hat die EU ihr wahres Gesicht gezeigt: Sie jongliert mit den Zahlen, solange dies zu ihren politischen Zielen passt – und solange sich die politischen Akteure in den peripheren Ländern an die Regeln aus Brüssel halten.

In diesem Sinne lässt sich durchaus sagen, dass Portugal nicht Griechenland ist. während Griechenland als Beispiel dafür dienen sollte, was mit denen geschieht, die sich nicht an die Regeln halten, soll Portugal ein Beispiel der europäischen Erfolgsgeschichte sein. Und dieser politische Schritt, der unter den Rahmenbedingungen einer wirtschaftlichen Erholung stattfand, führte dazu, dass sich wieder ein „Mitte-Links-Block“ etablieren konnte, von dem kein ernsthafter Widerstand gegen die Verhängung von Sparmaßnahmen ausgehen würde.


Die sozialdemokratische Variante des Neoliberalismus im Aufwind


Die Parlamentswahlen im Oktober [2015] erbrachten keine klaren Mehrheiten. Wohl erhielt die Koalition der rechten Parteien eine relative Mehrheit, konnte aber kein Mandat für eine Regierungsbildung erzielen. Am Ende entschloss sich die PS, in die Regierungsverantwortung zu gehen. Anderthalb Monate lang wurde das weitere Vorgehen innerhalb der Partei debattiert. Sollte sich die PS als Juniorpartner in eine von der Rechten geführten Koalition begeben (ein noch nie in diesem Land dagewesener Präzedenzfall), oder sollte sie auf die Herausforderung der Linken eingehen und eine Regierungsbildung mit deren Unterstützung aushandeln? Entgegen den meisten Erwartungen entschied sie sich für Letzteres.

Catarina Martins, Sprecherin des Bloco)
(Foto: Somos Bibliotecas

Retrospektiv war dies ein geschickter Schachzug, weil er der PS infolge der zwar langsamen, aber beständigen wirtschaftlichen Erholung in Europa und auch in Portugal den Spielraum dafür verschaffte, eine gemilderte Form der Sparpolitik praktizieren zu können. Zudem war es der perfekte Augenblick, die Linke in die äußerst delikate Pflicht zu nehmen, eine Regierung zu unterstützen, die niemals eine ernsthafte Anti-Austeritäts-Politik betreiben oder sich auf die Forderungen der Linken einlassen würde.

Die PS hatte kaum in Betracht gezogen, dass das Wahlergebnis sie zu einer Übereinkunft mit der Linken zwingen könnte. Stattdessen hatte sie auf eine absolute Mehrheit gehofft, da die Bevölkerung die Sparpolitik der rechten Regierung satt hatte. Weit gefehlt, denn das rechte Bündnis erhielt 38,5 % und sie selbst bloß 32,3 %.

Auftrieb hingegen erhielten die Parteien links der Sozialdemokratie. Der Linksblock und die CDU, eine Koalition aus KP und Grünen (in Portugal eher eine Vorfeldstruktur der KP) gewannen 10,2 bzw. 8,2 %. Mit über einer halben Million Stimmen war dies für den Linksblock ein Rekordergebnis. Obwohl die rechten Verfechter der Austeritätspolitik die (relative) parlamentarische Mehrheit behielten, kamen die Kräfte, die nicht nur die Sparpolitik, sondern den Kapitalismus als solchen rundum ablehnten, auf nahezu 20 %. Das Ergebnis für die KP kam wenig überraschend, aber dass beide Parteien zusammen so viele Stimmen erhielten, zeigt, wie sehr die Krise zu einer bisher einmaligen politischen Polarisierung in Portugal geführt hat.

In einer der letzten Vorwahldebatten überraschte die Sprecherin des linken Blocks, Catarina Martins, Antonio Costa von der PS mit der Aufforderung, nach den Wahlen ggf. über die Bildung einer linken Regierung zu diskutieren, vorausgesetzt, er streiche ein paar eher allzu neoliberale Punkte aus seinem Programm. Diese Aufforderung blieb erst einmal unbeantwortet und die PS, die eingangs die Vorschläge des Linksblocks als unrealistisch abgetan und gemeinsam mit der Rechten die Position vertreten hatte, dass diese das Land so wie Syriza in einen Albtraum stürzen würde, hüllte sich in Schweigen.

Die drei wichtigsten Bedingungen, die der linke Block als Gegenleistung für die Unterstützung einer Minderheitsregierung an die PS stellte, waren: 1. das Einfrieren der Renten zu beenden, 2. keine weitere Senkung der paritätischen Sozialversicherungsbeiträge vorzunehmen und 3. die Liberalisierung des Arbeitsmarktes zu stoppen. Wenn sie diese drei Punkte akzeptieren wollte, musste die PS ihr politisches und ökonomisches Programm revidieren.

Dies war eine geschickte Taktik, weil die PS so gezwungen wurde, sich politisch zu positionieren und ihre Präferenzen offen zu legen. Allerdings stellten sich die drei Prämissen, an die sie geknüpft war, im Weiteren als falsch heraus, dass nämlich erstens die PS die Wahlen gewinnen würde, zweitens der Linksblock ein schlechteres Wahlergebnis erzielen würde und drittens sich die PS weigern würde, mit der Linken zu verhandeln.

Das unklare Wahlergebnis erzwang eine Reihe von Koalitionsverhandlungen. Das hervorragende Ergebnis des Linksblocks und sein Vorstoß bei der Präsentation der Vorbedingungen für ein Abkommen mit der PS rückten ihn ins erste Glied bei diesen Verhandlungen. Und gemeinsam mit der KP und den Grünen war er nunmehr gezwungen, sich zur Regierungsbildung zu positionieren.

Die Verhandlungen liefen kompliziert und angespannt und zumeist hinter verschlossener Tür. Alle drei Parteien verhandelten separat über ein Abkommen mit der PS und waren daher gezwungen, ihre Karten jeweils offen zu legen, während sie sich untereinander nicht abstimmten oder gemeinsame Vorschläge auf den Tisch legten. Nach über einem Monat an Verhandlungen einigten sich der Linksblock und die CDU mit der PS auf ein Ergebnis, in dem sie sich verpflichteten, für den Haushalt und verschiedene andere Gesetze zu stimmen. Am 26. November 2015 konnte somit eine PS-Regierung mit Unterstützung der linken Parteien ihr Amt antreten.

Die Vereinbarung erlaubte es den linken Parteien, gegen einige Maßnahmen der Regierung zu stimmen, da sie nicht der gleichen Disziplin unterliegen wie in einer echten Koalition. Sie betonten auch, dass dies nicht ihre Regierung sei und dass damit nicht die grundlegenden Probleme des Landes gelöst wären. Zugleich versuchten sie jedoch, auf die Hoffnungen der Bevölkerung auf eine Beendigung der schlimmsten Sparmaßnahmen einzugehen.

Die Einigung bezog sich eigentlich bloß auf das erste Regierungsjahr, worauf neue Verhandlungen folgen sollten. In Wahrheit jedoch bildet das Einigungspapier die Grundlage für sämtliche Verhandlungen dieser Parteien über den jeweiligen Staatshaushalt. Wegen solcher „unprofessionellen“ Dinge hat ein Politiker der Rechten die neue Regierung als „Dingsda“ – auf Portugiesisch Geringonça – verunglimpft, ein Begriff, der sich inzwischen eingebürgert hat und selbst bei den kritischen Unterstutzer*innen dieses Konzepts gebraucht wird.

Das Abkommen stieß auch auf einigen Widerstand, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene. Innerhalb der PS attackierte der ehemalige Parteisekretär die neue gemäßigt linksgerichtete Parteiführung. Auf europäischer Ebene gab es sehr unterschiedliche Reaktionen auf diese Situation, je nach politischer Provenienz. Die Parteien und Vertreter der sozialdemokratischen „Sozialistischen“ Internationale verhielten sich eher wohlwollend. Doch Finanzminister Wolfgang Schäuble stand der neuen Regierung kritisch und skeptisch gegenüber. Insofern ging es bei den Verhandlungen auch um die „Zufriedenstellung“ der europäischen Institutionen, die die PS darüber beruhigen musste, dass die Beziehungen zu Europa (Eurozone, EZB, Verträge und Schulden) durch die Einigung mit den Linken nicht gefährdet seien. Für die PS war das Placet seitens der EU ausschlaggebend für die Fortsetzung der Verhandlungen.

Obwohl dieses Abkommen die Zunahme der Massenverarmung gestoppt hat (was das eigentliche Ziel der Regierung war und weniger, die Sparmaßnahmen als solche zu beenden), wäre es naiv anzunehmen, dass all dies Portugal zum wirtschaftlichen Aufschwung verholfen hat. Neoliberale Gazetten wie die Financial Times preisen das portugiesische Wunder als Wirtschaftsaufschwung dank der neuen linken Regierung, die das Haushaltsdefizit auf nur noch 2 % gesenkt hatte. Eine ernsthafte Betrachtung muss jedoch zwischen Fakt und Fiktion unterscheiden und die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung in Portugal betrachten.

Zunächst einmal versteht es sich, dass in Zeiten der Krise das Haushaltsdefizit tendenziell zunimmt, da die wirtschaftliche Aktivität und damit die Staatseinnahmen sinken, während die Ausgaben für soziale Absicherung, Arbeitslosengeld und Bankenrettungen zunehmen. Dieses steigende Defizit soll durch Austeritätspolitik angeblich korrigiert werden, indem staatliche Investitionen und Ausgaben (für soziale Belange, versteht sich, während der Finanzsektor unvermindert die Hand aufhalten darf) gekürzt und Steuern erhöht werden, um die Einnahmenseite zu verbessern.

Logo des Bloco

 

Tatsächlich jedoch verschärft die Austeritätspolitik das Problem, statt es zu beheben, und erzeugt einen Teufelskreis aus niedrigeren Löhnen, weniger Konsumausgaben, höheren Steuern und wachsender Staatsverschuldung. Aber Portugal hat in der Tat eine Verschnaufpause bekommen, die das Land aus diesem Kreislauf befreit hat. während das portugiesische Haushaltsdefizit in den Memorandum-Jahren langsam aber stetig abnahm, prognostizierte die EU für 2016 ein Defizit von 2,7 % und damit über der im Fiskalpakt festgelegten Grenze. Die eigene Prognose der portugiesischen Regierung für das Defizit im Jahr 2016 lag bei 2,2 %, letztendlich aber landete sie bei 2 % und damit dem niedrigsten Haushaltsdefizit der letzten vierzig Jahre. Sie erwartet nun einen Rückgang des Defizits auf 0,9 Prozent (ohne die Ausgaben für die Rekapitalisierung der öffentlichen Banken). Die Zahlen deuten auf einen drastischen Wandel der Wirtschaftspolitik hin. Gab es einen solchen tatsächlich?

Die einfache Antwort darauf lautet nein, auch wenn einige Faktoren komplizierter ausfallen. Die drei Staatshaushalte dieser Regierung zielten bisher nicht darauf ab, die Sparpolitik zu beenden, sondern sie zu begrenzen – daher das Gerede von der Beendigung der „Verarmung“. Dass die Austeritätsmaßnahmen nicht mehr so hart ausfielen, hat eine sehr geringe Einkommenserholung ermöglicht (vor allem für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und Rentner*innen) und damit wieder der zuvor arg gebeutelten Mittelschicht ein wenig aufgeholfen.

Weitere Faktoren für das sinkende Defizit waren der Tourismusboom – eine bekanntlich sehr konjunkturelle Angelegenheit –, der Preisverfall des Erdöls (der bei importabhängigen Ländern stark durchschlägt) und v. a. die Abkehr von dem Dogma, es gäbe keine Alternative zur Austeritätspolitik. Krise und Sparpolitik erzeugen Furcht und konservatives Verhalten auch auf der Konsumebene. Wenn dann eine Regierung etwas Spielraum gewinnt und für einen kleinen Einkommenszuwachs sorgt, kann sie auch für eine optimistischere Grundstimmung sorgen, nämlich dass „es mit der Sparpolitik vorbei ist und alles nunmehr besser wird“. Das sorgt dann auch für ein anderes Konsumverhalten, weil die Leute bereit sind, mehr auszugeben, und kaufen oder einen Kredit aufnehmen. Das wiederum hilft dem wirtschaftlichen Aufschwung.

Portugal hat eine tiefe Rezession durchgemacht, in der Produktionskapazitäten brachlagen, weil es keine Abnehmer für die Produkte gab. Seit aber der Binnenkonsum durch einheimische Verbraucher und besonders die Touristen wieder angestiegen ist, wächst die Produktion wieder, ohne dass dafür neue Investitionen erforderlich wären. Die staatlichen Investitionen befinden sich seit dem Antritt der neuen Regierung auch auf einem historischen Tiefstand und auch die privaten Investitionen bleiben niedrig. Und obwohl sich demnach die Produktionskapazität des Landes nicht strukturell geändert hat, gibt es ein Wirtschaftswachstum.

Dies ist jedoch nicht verwunderlich, da Binnenfaktoren wie die leichte Einkommensverbesserung, die entfallene Drohkulisse der Austeritätspolitik und das folglich geänderte Konsumverhalten und – wichtiger noch –äußere Faktoren zusammenwirken. Nicht nur, dass Teile der europäischen Institutionen die Regierung unterstützen, auch die politische Krise im Nahen Osten kommt dem Land zupass, weil dadurch der Ölpreis gefallen ist und die Touristen nicht mehr dorthin strömen, sondern Ziele wie Portugal bevorzugen.

Bei näherer Betrachtung liegen die Probleme mit dieser Regierung anderswo. Die von der Troika aufgezwungenen Arbeitsgesetze blieben unangetastet, es gibt nach wie vor kaum Tarifverhandlungen und die Prekarität ist auf dem Vormarsch. Nach einer Studie des Observatorio das Desigualdades (Beobachtungsstelle für Ungleichheit) liegt die Arbeitslosenquote real bei 17,5 % und damit zwar deutlich niedriger als die 28 % des Jahres 2013, aber auch deutlich über den regierungsoffiziellen Zahlen von 8,5 %. Nahezu alle neu entstandenen Stellen sind prekär. Die öffentlichen Dienstleistungen gehen weiter zurück: Das Gesundheits- und Bildungswesen ist stark unterfinanziert und steht kurz vor dem Zusammenbruch. Das portugiesische Bankensystem ist eine tickende Zeitbombe, nachdem weitere Banken mit öffentlichen Geldern gerettet werden mussten, aber nicht unter staatlicher Kontrolle stehen, so dass es noch anfälliger für Verwerfungen in den europäischen Zentralstaaten geworden ist als 2008. Das zentrale Problem der Verschuldung des Landes ist de facto aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden.

Dennoch wurde der portugiesische Finanzminister Mario Centeno, der vom EU-Kommissar für Wirtschaft und Finanzen, Pierre Moscovici, als „Ronaldo der portugiesischen Finanzen“ bezeichnet wurde, zum Präsidenten der Eurogruppe gewählt. Dies ist ein geschickter symbolischer Schachzug, nicht nur um den übrigen sozialdemokratischen Parteien zu zeigen, wie die Revitalisierung der europäischen Sozialdemokratie aussehen konnte, sondern auch als Lob für den „Musterschüler“ in der Peripherie, der die Regeln Brüssels befolgt hat. Auch wahltaktisch geht das Kalkül der PS auf: Nicht nur hat die Partei bei den Kommunalwahlen 2017 ihr bisher bestes Ergebnis erzielt, sondern Umfragen zufolge kann sie fast auf eine absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen 2019 rechnen.


Die Linke in Geiselhaft


In ganz Europa stehen die traditionellen sozialdemokratischen Parteien am Scheideweg. Ihre miserablen Wahlergebnisse in den meisten westeuropäischen Ländern und die nicht minder schlechten Prognosen für die Europawahlen 2019 sind Ausdruck ihres strategischen Dilemmas. Auch wenn der Spielraum für eine sozialintegrative Politik definitiv verschwunden ist, legt das Beispiel Portugals nahe, dass die Sozialdemokratie nur überleben kann, wenn sie eine sozialere Politik betreibt. Dies schlägt sich auch in einer äußerst interessanten Debatte innerhalb des Führungszirkels der portugiesischen PS nieder: ein Flügel plädiert für eine Fortsetzung und Ausweitung der jetzigen Politik, während sich der andere für den sog. Dritten Weg, eine Sozialdemokratie a la Blair stark macht.

Da die Parteien der „Sozialistischen Internationale“ den politischen Raum, den sie einst besetzt hatten, zunehmend aufgeben, wächst die Rechte in ganz Europa. Obwohl es die Hinwendung der traditionellen Sozialdemokratie zum Neoliberalismus war, die den politischen Raum für das Wachstum der Rechten schuf, argumentieren diese Parteien inzwischen sogar, dass die Menschen ihre neoliberalen Programme schlucken sollten, anstatt den Weg für diese reaktionären Kräfte zu ebnen. So sieht heute das kleinere Übel in Europa aus. So gewinnt die Linke kaum an Zugkraft. Da im Vergleich zu 2015 die Konjunktur rückgängig ist, sind auch die Verteilungsspielraume für linke Parteien geringer als zuvor. In dem Maß, wie Portugal als Beispiel für eine mögliche Neuausrichtung sozialdemokratischer Parteien dient, ist es auch ein warnendes Beispiel für die radikale Linke.

      
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Es wäre für den Linksblock sicherlich schwierig gewesen, die Bildung der sozialistisch geführten Regierung zu blockieren. Aber die Zwickmühle, in der die PS steckte, hätte durchaus erlaubt, mehr auszuhandeln, als der Linksblock letztlich erzielte. Sich auf ein solches Abkommen einzulassen, erfordert eine kohärente Strategie, um die Klippen zu umschiffen. Mit einer solchen Strategie hatte man die Widersprüche der PS-Regierung zuspitzen sollen und – aufbauend auf der zunehmenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung – die Tolerierung davon abhängig machen müssen, dass eine tatsächliche Abkehr von der Sparpolitik stattfindet. Dies hätte natürlich ein mögliches Ende der Tolerierungspolitik impliziert, selbst wenn es mit vorübergehenden Stimmeinbußen bei den Wahlen verbunden gewesen wäre.

Stattdessen ist die radikale Linke inzwischen nahezu unfähig, aus der gegebenen Konstellation auszubrechen. Auf welcher Grundlage könnte sie heute ein neues Abkommen verweigern, wenn die PS ein solches vorschlägt? Im Jahr 2015 konnte man solche Kompromisse noch mit dem Verweis auf eine drohende rechte Regierung rechtfertigen, aber gibt es 2019 wieder einen vergleichbaren Vorwand?

Die Wahrheit ist, dass der Linksblock heute die Geisel der PS ist. Er ist inzwischen auf vielen Ebenen geschwächt, von der Mitgliederzahl bis hin zu seiner politischen Aktivität und seinem Programm. Und obwohl die gegenwärtige Lage prekär ist, verhält sich die Partei skeptisch gegenüber ernsthaften strategischen Debatten oder abweichenden Positionen innerhalb der Partei.

Bei der notwendigen strategischen Debatte geht es nicht darum, ob wir für institutionelle Machtpositionen kämpfen sollen oder nicht, sondern welche besondere Rolle und welche Priorität die radikale Linke diesem Bereich beimessen soll. Wenn unsere Analyse ergibt, dass eine Politik in den Institutionen zwar dazu dienen kann, unsere politischen Forderungen besser zu verbreiten, letztlich aber auf diese Weise nicht die Gesellschaft als Ganze umgewälzt werden kann, dann müssen wir geeignete organisatorische Vorkehrungen treffen, um in diesen Institutionen arbeiten und Nutzanwendungen daraus ziehen zu können und zugleich unsere außerparlamentarische Arbeit stärken. Selbst in Zeiten, wo die sozialen Mobilisierungen rückläufig sind, hat die radikale Linke die Verantwortung, solche Bewegungen wiederaufzubauen, sie untereinander zu verknüpfen und unsere Kräfte für die unerlässlichen Konfrontationen mit der herrschenden Macht zu wappnen.

Dazu brauchen wir Parteien, deren Entscheidungen an der Basis getroffen werden und die vielfältige Kader ausbildet und Demokratisierungsprozesse vorantreibt.

Nur so schaffen wir es, dass enttäuschte Anhänger der klassischen sozialdemokratischen Parteien gemeinsam mit den antikapitalistischen Bewegungen und Organisationen in der Gesellschaft kämpfen. Wenn aber die Parteien der radikalen Linken eine Strategie einschlagen, die letztlich nur den sozialdemokratischen Parteien wieder Auftrieb verschafft und die kritischen Elemente in diesen Parteien eher desavouiert, statt sie für die Linke zu gewinnen, und sie sich durch ihre Arbeit in den Institutionen bloß in ein Dilemma verstricken, dann sind sie auf dem Weg, bürgerlich-demokratische Formen und Verhaltensweisen zu kopieren. Aus Angst vor Wahlverlusten schrecken sie vor strategischen Optionen zurück, die auf eine Umwälzung der Gesellschaft abzielen, und sie verzichten darauf, ein dafür geeignetes politisches Instrument aufzubauen.

Was wir brauchen, sind neue Prioritäten. Die radikale Linke muss von ihrer Basis her aktiv sein und wachsen, basisdemokratische Elemente wiederbeleben und die Bewegung im Volk aufbauen. Sie muss dazu beitragen, dass autonom organisierte Kollektive aufblühen, die Arbeiterbewegung wieder auflebt und eine soziale und politische Front entsteht, die gegen die Sparpolitik gleich welcher Couleur kämpft. Noch stecken wir nicht in einer Sackgasse fest. Aber wenn wir uns mit den bescheidenen Erwartungen von heute zufrieden geben, statt auf die notwendige und von uns ersehnte gesellschaftliche Veränderung hinzuarbeiten, dann wird unsere Lage nur noch schlimmer.

06.09.2018
Übersetzung aus jacobin: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2018 (September/Oktober 2018). | Startseite | Impressum | Datenschutz