Palästina/Buchbesprechung

Siedlerkolonialismus, ethnische Säuberung und Völkermord

Zum Buch von Helga Baumgarten und Norman Paech: Völkermord in Gaza. Eine politische und rechtliche Analyse. Wien: Promedia 2025

Jakob Schäfer

Getreu der deutschen Staatsräson streiten offizielle Stellen in Deutschland weiterhin beharrlich ab, dass heute im Gazastreifen Völkermord betrieben wird. Das Buch von Baumgarten/Paech liefert politische und juristische Argumente und Belege für die Einordnung des Massakers, das sich hier vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielt. Im ersten Teil des Buches zeichnet Baumgarten in vier Abschnitten die Geschichte des zionistischen Siedlerkolonialismus nach. Sicher, diese Geschichte ist von einer Reihe von Autoren (von Walter Hollstein bis Ilan Pappé) aufgearbeitet worden, aber der Gewinn der hier vorliegenden neuen Darstellung liegt in der Übersichtlichkeit und im Anführen neuer Belege, die man sonst – wenn überhaupt – nur verstreut findet.

 

Gaza 2023

Foto: Palestinian News & Information Agency (Wafa) in contract with APAimages

Wir wollen ein paar Schlaglichter von Baumgartens Darstellung herausgreifen: Der Widerstand gegen die zionistische Besiedlung begann schon vor dem 1. Weltkrieg, als die Araber:innen (Muslim:innen und Christ:innen) noch 92 Prozent der Bevölkerung ausmachten. In den 1920er Jahren wurde ihr Widerstand politisch und gipfelte 1936–39 in einem Aufstand, der von den Briten im Verbund mit zionistischen Kampfgruppen brutal niedergeschlagen wurde. Baumgarten zitiert dazu den israelischen Historiker Ilan Pappé: „Großbritannien regierte nicht mit Würde und es verließ Palästina auch nicht mit Würde. Stattdessen schuf es ein Vakuum, das zur ethnischen Säuberung Palästinas führte und zur Etablierung des Staates Israel auf den Ruinen Palästinas.“

Die zweite Phase des Siedlerkolonialismus wurde 1947/48 mit der Nakba, der „Katastrophe“ eingeleitet: 750 000 Menschen wurden vertrieben und mehr als 400 Dörfer wurden zerstört. Massaker wie das im Dorf Deir Yassin waren keine Seltenheit. Mit der Staatsgründung Israels (Mai 1948) wurde der Siedlerkolonialismus mit staatlicher Macht abgesichert. Der Unterschied dieses Systems zur Apartheid Südafrikas: In Südafrika waren die Schwarzen für die Wirtschaft „essenziell“, wie Baumgarten es formuliert. In Palästina wurde die einheimische Bevölkerung systematisch aus der Wirtschaft ausgeschlossen.

Mit der Besetzung der Reste des historischen Palästinas im „Sechstagekrieg“ von 1967 betraf die strukturelle Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung mit einem Schlag noch mehr Menschen. Das Osloer Abkommen (1993) bildete die Grundlage für eine massive Ausdehnung der israelischen Siedlungen im Westjordanland und das permanente Schikanieren der palästinensischen Bevölkerung auf einem extrem zerstückelten und immer kleiner werdenden Flecken Land. Fortgesetzter Landraub und Angriffe der Siedler auf Zivilist:innen haben seit dem 7. Oktober 2023 sprunghaft zugenommen. Ich füge hinzu: Von Oktober 2023 bis Anfang Juli 2025 sind im Westjordanland 924 palästinensische Todesopfer und 8 515 Verletzte bestätigt worden. Baumgarten fasst die Gesamtentwicklung folgendermaßen zusammen:

„Ein integraler Bestandteil des Siedlerkolonialismus ist die kontinuierliche Expansion, um immer mehr Land in Besitz zu nehmen. Damit einher geht die ethnische Säuberung mit dem Ziel, auf dem neu erworbenen Land die volle Souveränität des siedlerkolonialistischen Regimes durchzusetzen. In besonderen Fällen führt die ethnische Säuberung nicht nur zur Vertreibung, sondern zu einem regelrechten Völkermord, wenn sich nämlich die Kolonisierten weigern, ihr Land und ihre Heimat zu verlassen und wenn die Siedlerkolonialisten nicht bereit sind, eine wie auch immer geartete Koexistenz mit den Kolonisierten zu akzeptieren.“ (S. 80)

Baumgartens Gesamtüberblick und die von ihr angeführten Belege – es sind international nicht angezweifelte Fakten, offizielle Regierungserklärungen sowie programmatische Aussagen führender Zionist:innen – sind hilfreich für die Argumentation mit Menschen und Institutionen, die sich in der Beurteilung der israelischen Politik unschlüssig sind.

Zwei Kritikpunkte müssen wir allerdings benennen, auch wenn sie für die Gesamtaussage des Buchs ohne Bedeutung sind. Baumgarten schreibt (S. 76):

„Das Scheitern jeglichen friedlichen Massenwiderstands ließ den Menschen im Gazastreifen und ihren politischen Führungen nur zwei Alternativen:

Dies mag den Menschen so – also im Grunde als ein unausweichliches Dilemma – erschienen sein, aber es ist nicht weit genug gedacht, vor allem, was die Folgen angeht. Denn angesichts der militärischen (einschließlich der geheimdienstlichen), der ökonomischen und strategischen sowie geopolitischen Kräfteverhältnisse kann das Einschlagen des militärischen Wegs nur in eine Sackgasse führen, genauer: nur zum Liefern neuer Vorwände für die israelische Regierung, die ethnische Säuberung und den Völkermord noch brutaler voranzutreiben, und zwar nicht nur im Gazastreifen. Will die palästinensische Bevölkerung für ein Ende des Kriegs kämpfen, bleibt nur der politische, internationalistische Weg. Und der muss auf drei Ebenen beschritten werden:

  1. Die Brücken zur (zugegebenermaßen kleinen) regierungskritischen und humanistisch gesinnten Opposition in Israel müssen ausgebaut und gefestigt werden.

  2. Mindestens genauso wichtig – letztlich die entscheidende Ebene – ist die enge politische Kooperation mit den breiten Volksmassen in den Nachbarländern, vor allem in Jordanien, Ägypten, Libanon und Syrien.

  3. Nicht ganz unerheblich ist aber auch eine Stärkung der Solidaritätsbewegung in den imperialistischen Ländern (etwa im Zusammenhang mit der BDS-Kampagne).

Ohne wesentliche Fortschritte auf diesen Ebenen kann das Überleben der palästinensischen Bevölkerung nicht gesichert werden, von einer Überwindung des „Konflikts“ noch gar nicht zu reden.

Unser zweiter Kritikpunkt betrifft die Tatsache, dass Helga Buamgarten (auf S. 90) einen Artikel von Al Jazeera zitiert, ohne die dort gezogenen Schlussfolgerungen anzuzweifeln oder auch nur vorsichtig zu kommentieren. Es heißt dort: „Die israelische Arroganz und das Gefühl von Sicherheit, dass man ungestraft unterdrücken, morden und stehlen kann, wurden [mit der Aktion vom 7. Oktober 2023] zerbrochen. Israel hält uns als Geiseln seit Jahrzehnten fest. Seit Generationen sind wir Gefangene in unserem Land. Aber in diesem Oktober … hat der Tyrann einen Schock erlitten. Unsre Unterdrücker morden wieder in blinder Raserei, aber ein unangenehmes Gefühl breitet sich schleichend aus bei ihnen, dass nämlich das Gefängnis, in dem sie uns festhalten, angefangen hat, zu zerbröckeln.“

Vertreibung der arabischen Bevölkerung

Tantura, 1948 (Foto: Benno Rothenberg /Meitar Collection / National Library of Israel / The Pritzker Family National Photography Collection)

 

Sicher, Helga Baumgarten macht sich diese Einschätzung des Zerbröckelns des Gefängnisses nicht zu eigen (zumindest nicht explizit), aber das reicht nicht. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte nach einem solchen Zitat sinngemäß festgehalten werden: Der zionistische Staat ist heute international so diskreditiert wie er es noch nie war und auch innenpolitisch könnte es Schwierigkeiten geben, wenn sich herausstellt (erste Anzeichen dafür gibt es), dass die rassistische Politik der israelischen Regierung selbst im Interesse der religiösen Hardliner überdehnt wurde. Eine wachsende Zahl von Menschen kann Zweifel an der Raison d’être des Zionismus und an der ihm eingepflanzten Herrenvolkideologie und dem damit strukturell verbunden Rassismus kommen. Doch diese mögliche Perspektive (es ist kaum mehr als eine zarte Hoffnung) bedeutet in keiner Weise, dass das „Gefängnis, in dem sie [die Israelis] uns [die Palästinenser:innen] festhalten, angefangen hat, zu bröckeln.“ Sicher: dieser Artikel datiert vom 14. Oktober 2023, aber ihn heute ohne Kommentar oder Einordnung zu zitieren, ist eine schwer zu verstehende Unterlassung. Schließlich ging es der palästinensischen Bevölkerung noch nie so schlecht wie heute.


Rechtliche Bewertung des Völkermords im Gazastreifen


Norman Paech, ein über alle Zweifel erhabener Völkerrechtler, ist – wie übrigens auch Helga Baumgarten – seit Jahrzehnten in der Solidaritätsbewegung für Palästina aktiv. Auf gut hundert Seiten führt er eine ganze Reihe von Belegen an, die deutlich machen, dass Israel eine Besatzungsmacht ist, die sich noch nicht mal an die daraus sich ergebenden Verpflichtungen hält. „Für die Regelung der Besatzung gelten die Genfer Konventionen, die Israel am 6. Juli 1951 ratifiziert hat, und die HLKO [Haager Landkriegsordnung] von 1907, die Israel aber weder unterzeichnet noch ratifiziert hat. Der Oberste Gerichtshof in Jerusalem hat jedoch festgestellt, dass die HLOK von 1907 Teil des Völkerrechts geworden ist und damit für alle Staaten verbindlich ist, auch für diejenigen, die dem Vertrag nicht beigetreten sind. Das ist heute unter den Staaten Konsens. Doch die israelische Regierung ist anderer Ansicht: für die besetzten Gebiete, also auch den Gazastreifen, würden die Verpflichtungen nicht gelten.“ (S. 153 f.)

Paech gibt auch einen Überblick über die Vorgeschichte und die völkerrechtliche gebotene Bewertung der Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023. So können wir politisch wie rechtlich nachvollziehen, wie sich die Politik der ethnischen Säuberung verschärft, ja brutalisiert hat. Jahrzehntelang (im Grunde seit dem ersten Libanonkrieg in den 1980er Jahren und schließlich in kodifizierter Form seit 2006) wurde die israelische Strategie von der Dahiya-Doktrin bestimmt (Dahiya ist ein Vorort von Beirut). Damals befahl der seinerzeitige Generalstabschef Gadi Eisenklot im Libanonkrieg nach einem Beschuss der israelischen Invasionstruppe durch libanesische Kräfte die massive Vernichtung des „feindlichen Gebiets“ einschließlich der Vernichtung ziviler, lebenswichtiger Infrastruktur und Wohngebiete. Dies wurde seit jener Zeit zur Kriegsstrategie der israelischen Armee.

      
Mehr dazu
Solidarität mit Helga Baumgarten, Norman Paech und Roland Meister, Offene Akademie (Mai 2025)
Editorial: Israel als imperialistischer Stoßtrupp im Nahen Osten, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Jakob Schäfer: Bankrott der „westlichen Wertegemeinschaft“, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Auszüge aus Reden vor dem Internationalen Gerichtshof, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Jakob Taut: Über den Charakter des Zionismus und der palästinensischen Befreiungsbewegung, Inprekorr Nr. 342 (April 2000).
 

Mit der Operation „Eiserne Schwerter“ (seit dem 8.  Oktober 2023) ist selbst diese völkerrechtswidrige Strategie noch in den Schatten gestellt worden. Die Politik der ethnischen Säuberung hat inzwischen das Ausmaß eines Völkermords erreicht. Wir dürfen uns über die Absichten der israelischen Regierung nicht täuschen: Einer der maßgebenden Minister in Netanyahus Kabinett, Finanzminister Smotrich (Vorsitzender der Nationalen Religiösen Partei – Religiöser Zionismus) erklärte am 30. Mai 2024 zur anvisierten Ausdehnung des Kriegs auf das Westjordanland: „Wir werden euch in Schutt und Asche legen, wie wir es jetzt im Gazastreifen tun.“ Paech fügt an: „Vergleichbare Aussagen lassen sich bis in die Gegenwart dokumentieren.“ (S. 191)

Die Perspektiven sind eher düster. Paech führt aus: „Die letzten Jahre unter der immer stärker rassistisch auftretenden Regierung Netanyahu haben offensichtlich zu einer Radikalisierung der jüdischen Gesellschaft in der Besatzungsfrage geführt, und zwar nicht nur in rechtsextremen Kreisen. Die Rechtsradikalen wollen den Gazastreifen von Palästinenser:innen säubern und selbst dort siedeln. Der Polizeiminister Itamar Ben-Gvir war einer der Podiumsteilnehmer auf einer Konferenz am 20. Oktober 2023, die die Neubesiedlung zum Thema hatte. Das Motto lautete: ‚Erobern, rausschmeißen, neubesiedeln‘.“

Wir fügen hinzu: Das Verheerende ist, dass es zu solchen Vorhaben kaum Proteste in der israelischen Gesellschaft gibt und dass der zurzeit laufende Völkermord nur wenige Menschen in Israel berührt. So tief und nachhaltig ist der Rassismus in der israelischen Gesellschaft inzwischen verankert.

Zusammenfassend lässt sich zu dem vorliegenden Buch sagen: Die politische und rechtliche Analyse, die uns Helga Baumgarten und Norman Paech hier präsentieren, ist sehr wertvoll. Sie gibt der Solidaritätsbewegung Argumente an die Hand, vor allem in den Diskussionen mit Zweiflern in der Palästinafrage oder mit Anhängern der deutschen Staatsräson. Wir wünschen dem Buch eine weite Verbreitung.


Vorabdruck aus die internationale Nr. 5/2025 (September/Oktober 2025) (Online-Vorabdruck). | Startseite | Impressum | Datenschutz