Israels ethnische Säuberungsaktion im Westjordanland wird von der internationalen Gemeinschaft akzeptiert, weil sie bereits den Völkermord im Gazastreifen und die Zwangsvertreibungen der Palästinenser:innen seit 1948 hingenommen hat. Aber es gibt Hoffnung, dass eine neue Welt entsteht.
Qassam Muaddi
Als die israelischen Kampfflugzeuge Anfang dieser Woche ihre Flächenbombardements im Gazastreifen wieder aufnahmen, weitete Israel auch seine Offensive im Westjordanland aus und traf diesmal das Flüchtlingslager al-Ain westlich von Nablus. Israelische Streitkräfte drangen in den frühen Morgenstunden in das Lager ein, als eine verdeckte israelische Einheit das Feuer auf ein Fahrzeug eröffnete, dessen Fahrer Odai Qatouni tötete und seine Leiche beschlagnahmte.
Die israelischen Streitkräfte besetzten mehrere Häuser, nutzten sie 14 Stunden lang als militärische Stellungen und zwangen dadurch 10 palästinensische Familien, ihre Häuser zu verlassen. Amir Said, 32, ein Bewohner des Lagers al-Ain, sagte der palästinensischen Tageszeitung al-Ayyam, israelische Soldaten seien in das dreistöckige Gebäude eingedrungen, in dem er lebt, und hätten alle zwanzig Bewohner gezwungen, es zu verlassen. Laut Said ließen die israelischen Soldaten ihm, seiner Familie und seinen Nachbarn keine Zeit, ihre Habseligkeiten mitzunehmen.
Der Direktor des Palästinensischen Roten Halbmonds in Nablus, Amid Ahmad, sagte, seine Mitarbeiter:innen hätten mehrere kranke Palästinenser evakuiert, darunter mehrere Dialysepatient:innen und ein Neugeborenes, die während der Razzia in der Moschee des Lagers Schutz gesucht hätten. Schließlich zogen sich die israelischen Streitkräfte aus al-Ain zurück, nachdem sie dreißig Palästinenser:innen festgenommen und Flugblätter abgeworfen hatten, in denen den Bewohnern das gleiche Schicksal wie in den Flüchtlingslagern von Dschenin und Tulkarem angedroht wurde, falls sie militante Palästinenser in dem Lager operieren „lassen“. Nach Berichten palästinensischer Medien kehrten die vertriebenen Familien nach dem Rückzug der israelischen Armee in ihre Häuser zurück. Im Gegensatz zu Dschenin und Tulkarem gibt es im Flüchtlingslager al-Ain keine bekannte palästinensische Widerstandsgruppe wie die Dschenin-Brigade oder die Tulkarem-Brigade.
In Dschenin veröffentlichte die israelische Armee unterdessen eine Karte, auf der bis zu 100 Häuser im Flüchtlingslager verzeichnet waren, die abgerissen werden sollten. Die vertriebenen Palästinenser begannen, über das Volkshilfekomitee des Lagers Dschenin Anträge an die israelische Armee zu stellen, um ein letztes Mal in ihre Häuser zurückkehren zu dürfen und so viel wie möglich von ihrem Hab und Gut zu retten. Etwa 95 % der Bewohner wurden aus dem Lager vertrieben. Nach Angaben der Bezirksverwaltung Dschenin sind rund 18 000 Palästinenser aus dem Lager in verschiedenen Unterkünften und Privatwohnungen in der Stadt Dschenin untergebracht.
Noch vor drei Monaten, als Israel die letzten Details des Waffenstillstandsabkommens in Gaza verhandelte, konnte niemand ahnen, dass bald 40 000 Palästinenser:innen ohne Aussicht auf Rückkehr aus ihren Häusern im Westjordanland vertrieben werden würden. Noch weniger erwartet wurde die andauernde Ausweitung der israelischen Offensive auf immer neue Gebiete des Westjordanlands, verbunden mit der Drohung, die gesamte Region zu okkupieren. Was jedoch am meisten überraschte, war die Tatsache, dass es kaum oder gar keine Reaktionen geben würde – weder auf lokaler noch auf regionaler oder internationaler Ebene.
Als US-Präsident Donald Trump erklärte, die USA wollten den Gazastreifen „besitzen“, die Bevölkerung vertreiben und auf den zerstörten Häusern eine „Riviera des Nahen Ostens“ errichten, war der Aufschrei groß. Die arabischen Staaten, in die die Bewohner des Gazastreifens nach Trumps Plänen abgeschoben werden sollen, lehnten den Vorschlag rundweg ab. Ebenso die europäischen Staaten, darunter auch Deutschland, die während des 15-monatigen Völkermords Israels Vorgehen stets unterstützt hatten.
Doch als Israel begann, im Westjordanland genau dasselbe zu tun, war und ist die Reaktion erschreckend bescheiden. Der Effekt ist, dass man sich an die israelische Gewalt gegen Palästinenser im Westjordanland so sehr gewöhnt hat, dass sie nun als normal empfunden wird.
Aber diese Gewöhnung an eine ethnische Säuberungsaktion, die einem Drehbuch aus dem 18. Jahrhundert entnommen wurde, ist durchaus erklärbar – und zwar aus den folgenden Gründen:
Die Welt hat sich an den andauernden Zustand der Vertreibung, den das palästinensische Volk seit 1948 erlebt, bereits gewöhnt – andauernd deshalb, weil den Palästinensern, die vor 76 Jahren aus ihren Häusern vertrieben wurden, die Rückkehr nach wie vor verwehrt wird, und zwar bloß, weil sie nicht in Israels Schema ethnischer Überlegenheit passen. Dennoch hat die Welt sich mit dieser Tatsache abgefunden und akzeptiert sie als Ausnahme von der globalen Nachkriegsordnung, die angeblich auf den Menschenrechten und dem Völkerrecht beruht. Daher war kaum zu erwarten, dass eben diese Welt im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gegen ethnische Säuberungen aufsteht.
Die ethnischen Säuberungen im Westjordanland sind nicht über Nacht neu ausgebrochen, sondern es handelt sich lediglich um eine Intensivierung des Prozesses, der seit 1967 andauert. Das Allererste, was Israel nach der Besetzung Ost-Jerusalems in jenem Jahr tat, war, allen Palästinensern im Ostteil der Stadt und vor der Ankunft der ersten israelischen Siedler den Status „ständiger Einwohner“ zu geben. Mit einem Federstrich machte Israel unter einer „linken“ Arbeitsregierung Tausende von Familien, die seit Jahrhunderten in Jerusalem gelebt hatten, zu Ausländern nach israelischem Recht. In den 57 Jahren der Besatzung entzog Israel 14 000 Jerusalemern das Aufenthaltsrecht und schnitt sie und ihre Nachkommen damit von der Gegenwart und Zukunft Jerusalems ab.
Im Jahr 1979 traf der damalige israelische Landwirtschaftsminister Ariel Scharon mit dem Siedlungsausschuss der Zionistischen Weltorganisation zusammen. Laut den geheimen Sitzungsprotokollen, die von +972 Magazine 2022 veröffentlicht wurden, erklärte Scharon den Vertretern des Siedlungsausschusses, dass der Zweck der Schaffung von „Schießzonen“ im Westjordanland darin bestehe, „Reservegebiete“ für den Siedlungsausbau zu schaffen. Im darauffolgenden Jahr erklärte Israel die südlichen Hebron-Hügel, einschließlich der palästinensischen Gemeinde Masafer Yatta, zu einer „Schießzone“.
Masafer Yatta war eine von vielen Schießzonen, die Israel in den vergangenen fünf Jahrzehnten im Westjordanland eingerichtet hat, sowie „Naturschutzgebiete“. Alle diese Gebiete wurden im Rahmen des Osloer Abkommens in die Kategorie C aufgenommen, das 62 % des Westjordanlandes umfasst. Die Palästinenser dürfen in diesen Gebieten nicht bauen, keine Dienstleistungen in Anspruch nehmen und genießen keinerlei Autonomie. In diesen Gebieten haben sich auch die Siedlungen ausgebreitet und palästinensisches Land und städtische Gebiete in isolierte Ghettos zerschnitten.
All dies geschah, während die internationale Gemeinschaft untätig zusah. Israel wurde als Demokratie, als Start-up-Nation, als Eurovisionsstar und als Wunderkind der westlichen Moderne inmitten eines zurückgebliebenen Nahen Ostens gefeiert. Die ganze Zeit über führte Israel peu à peu seine ethnischen Säuberungen durch.
Die Vertreibung der Palästinenser wurde in Gaza nach dem 7. Oktober bereits zum Normalzustand. Alles, was im Westjordanland geschah, verblasste im Vergleich dazu. Im Dezember 2023 organisierten israelische Siedlergruppen eine Konferenz in Jerusalem, um die Besiedlung des Gazastreifens durch Israelis zu fordern. An der Konferenz nahm Itamar Ben-Gvir teil, Israels Minister für nationale Sicherheit und ein wichtiger Verbündeter von Premierminister Benjamin Netanjahu. Auch hier blieb die internationale Reaktion verhalten.
In den letzten zwei Monaten vor Abschluss des Waffenstillstandsabkommens in Gaza setzte die israelische Armee alles auf einen von pensionierten israelischen Generälen ausgearbeiteten Plan, um den Norden Gazas durch Belagerung, Aushungern, Zerstörung der zivilen Infrastruktur und Bombardierung frei von Palästinensern zu machen. Dies ist der sogenannte „Plan der Generäle“.
Gleichzeitig demonstrierten Siedlergruppen am Grenzzaun zu Gaza und verlangten, das Gebiet betreten und besiedeln zu dürfen. Israel wurde nicht unter Druck gesetzt, den Plan der Generäle zu stoppen, und die Regierung Biden unterstützte Israel uneingeschränkt. Bisher scheiterte der Plan lediglich daran, dass die Palästinenser, die aus dem Norden des Gazastreifens vertrieben worden waren, nach dem Waffenstillstand in einem historischen Marsch zurückkehrten und darauf bestanden, inmitten der Trümmer ihrer zerstörten Häuser zu bleiben. Sie sandten eine spontane und kraftvolle Botschaft an die Welt, dass nichts an der israelischen Vision der „freiwilligen Auswanderung“ tatsächlich freiwillig ist.
Als der US-Präsident die Massenvertreibung der Palästinenser aus Gaza absegnete, konnte man sich nicht mehr darauf berufen, dass die Vertreibung eine Folge von „Kollateralschäden“ oder ein Nebenprodukt des Krieges sei, wie Israel es noch bei der ethnischen Säuberung von 1948 behauptete. Das Ziel der ethnischen Säuberung wurde offiziell zu einem Ziel der USA und damit des Westens. Die arabischen Staaten, insbesondere Ägypten und Jordanien, wollten nichts mit einem solchen Verbrechen zu tun haben und wussten nur zu gut, dass ein neuer Zustrom palästinensischer Flüchtlinge in ihre Länder diese in einer Weise destabilisieren würde, die sie nicht kontrollieren könnten.
Die palästinensische Führung – die PLO und die Palästinensische Autonomiebehörde – setzte ihr ganzes Vertrauen in die internationale Gemeinschaft, das internationale Rechtssystem und den guten Willen des Westens, die Zwei-Staaten-Lösung umzusetzen. Sie hofften, dass die Welt dem israelischen Vorgehen irgendwann einmal eine Grenze setzen würde. Die palästinensischen Führer haben all ihre Druckmittel aufgegeben, um für internationale Geldgeber akzeptabel zu sein, wovon nun ihre gesamte politische Existenz abhängt. Das Einzige, was ihnen jetzt noch bleibt, sind verzweifelte Warnungen, Verurteilungen und Mahnungen an die Gültigkeit von Abkommen, verbunden mit halbherzigen Appellen an die Universalität der Menschenrechtsprinzipien.
Die liberale Ordnung der Nachkriegszeit hat gezeigt, dass sie nicht in der Lage ist, Völkermord und ethnische Säuberungen zu verhindern, vor allem dann nicht, wenn sie vom Westen oder seinen Schützlingen ausgeübt werden. Aber in dem Maße, in dem die Menschen erkennen, wie sehr diese Welt von Gleichgültigkeit regiert wird, entsteht auch eine neue.
|
||||||||
Lange Zeit wusste diese Welt nicht Bescheid über das israelische Siedlerprojekt, da die internationale Öffentlichkeit von der Realität abgeschirmt wurde, die dem palästinensischen Volk aufgezwungen wurde. Eine ganze Generation wuchs in dieser Welt nach der Nakba auf, wusste aber nur sehr wenig über sie oder über Palästina. Auch sie war von der universellen Gültigkeit der liberalen Werte überzeugt.
Doch der Völkermord im Gazastreifen hat alles verändert, die Nebel der Verschleierung zerrissen und Israel als Pariastaat entlarvt.
Die meisten der oben beschriebenen Realitäten mögen den Leser:innen heute bekannt sein. Vor zwanzig Jahren waren sie es noch nicht. So unvorstellbar die Massenvertreibung von Dschenin und Tulkarem und Dschabalia und Beit Hanoun vor dem Oktober 2023 war, so beispiellos war auch die Reaktion der Durchschnittsmenschen weltweit. Globale Unkenntnis war einer der Schlüssel für Israels Straffreiheit, und diese Straffreiheit wird nun in Frage gestellt.
Deshalb sind die Reaktionen auf die Palästina-Solidarität so drakonisch und brutal. Von der Ausweisungsverfügung gegen Mahmoud Khalil bis hin zu den Angriffen der US-Bundesbehörden auf die Hochschulen, die bereits vor der Trump-Regierung klein beigeben.
Aber dies wird nichts nützen, denn wenn das Wissen sich verbreitet hat, kann es nicht mehr eingefangen werden. Die Welt weiß jetzt schon zu viel, und keine repressive Politik kann das ändern. Das bedeutet nicht, dass dies der neuen Welt zum Sieg verhelfen wird, die jedoch unter der Führung von Menschen mit einem Gewissen im Entstehen begriffen ist, aber wir müssen unsere Hoffnung auf sie setzen. Ihnen muss die Zukunft gehören.
Aus Mondoweiss vom 21. März 2025 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2025 (Mai/Juni 2025). | Startseite | Impressum | Datenschutz