Niederlande

Neue sozialistische Organisation entsteht

Über 120 Sozialist*innen beendeten ihr Treffen im niederländischen Utrecht mit dem Gesang von allen drei Strophen der „Internationale“. „Viel mehr, als die Sozialdemokraten singen“, bemerkte ein Teilnehmer. Nicht nur beim Gesang hofft das Treffen einer neuen Organisation, die sich einfach „De Socialisten“ nennen, über die Sozialdemokratie hinauszugehen.

Alex de Jong

Die Versammlung am 25. September folgte auf einen Diskussionsprozess, bei dem eine politische Grundsatzerklärung ausgearbeitet und über den Aufbau einer neuen Organisation beraten wurde. Ziel ist es, den Grundstein für eine Partei zu legen, die für die „Sozialisierung der Wirtschaft“ durch einen radikalen Transformationsprozess kämpft, eine „soziale Revolution“.


Wir brauchen eine Alternative


 

Viele der Teilnehmer*innen des Treffens waren ehemalige Mitglieder der niederländischen Sozialistischen Partei (SP), der wichtigsten linken Partei des Landes; sie wurden entweder ausgeschlossen oder verließen die Partei aus Enttäuschung. Von einer maoistischen Sekte in den siebziger Jahren entwickelte sich die SP in den neunziger und frühen zweitausender Jahren zu einer linken sozialdemokratischen Massenpartei. Die SP erregte eine gewisse internationale Aufmerksamkeit, als sie 2006 kurzzeitig zu einer der wichtigsten Parteien des Landes zu werden schien. Aber seit diesem Höhepunkt stagnierte die Partei und ging dann zurück. Bei den nationalen Wahlen 2021 gewann sie weniger als zehn Prozent der Stimmen und verlor fünf ihrer 14 Sitze. Die Mitgliederzahlen sind von einem Höchststand von 50 000 um das Jahr 2008 auf heute 32 000 gesunken. Besonders besorgniserregend für eine linke Partei ist, dass Umfragen darauf hindeuten, dass die Wählerbasis der SP jetzt zu den ältesten des Landes gehört.

Das Unbehagen führte zu einigen Spannungen in der straff geführten Partei. Einige Parteiführer*innen versuchen, die Bereitschaft, Regierungskoalitionen mit rechten Parteien einzugehen (wie es die SP zuvor schon auf regionaler und kommunaler Ebene getan hat), mit einem aktivistischeren Profil auszugleichen. Andere, darunter Parteichefin Lilian Marijnissen, streben ein respektableres, moderateres Image der Partei an. Die wirklichen politischen Unterschiede sind gering; die Forderungen beispielsweise bleiben innerhalb der Grenzen, die in den EU-Standards für „freien und fairen Wettbewerb“ und durch die Haushalte festgelegt sind.

In den letzten Jahren ist die SP nach rechts gedriftet, was sich zum Teil durch ihre Ausrichtung auf Wahlen erklären lässt. Angesichts von Stimmeneinbußen kämpft die SP darum, ihr Image als Protestpartei mit Signalen nach rechts zu verbinden, um ihre „realistische“ und „seriöse“ Natur zu beweisen. Themen, die nach Meinung der Leitung unter potenziellen Wählern umstritten sein könnten, werden ausgelassen. Eine gewisse Arbeitertümelei, die zum Teil aus ihrer maoistischen Vergangenheit stammt und nun durch Umfragen gestärkt wird, die das angebliche Potenzial einer „sozial konservativen, aber wirtschaftlich fortschrittlichen“ Orientierung aufzeigen, bedeutet, dass Klimagerechtigkeit, Antirassismus und Feminismus nicht aufgegriffen werden. [1] Typisch war eine Erklärung von SP-Parlamentariern Anfang dieses Jahres, dass sie bei Themen wie Klima und Einwanderung „eher konservativ als links“ seien. Die Orientierung der SP auf Wahlen führt auch zu einer Fokussierung auf Alltagsfragen wie zum Beispiel die Erhöhung des Mindestlohns. Und vor allem Erklärungen der Parteiführung, dass die SP den Eintritt in künftige Koalitionen mit der rechtsorientierten VVD von Ministerpräsident Mark Rutte nicht ausschließe, ließen bei linkeren Mitgliedern die Nackenhaare sträuben.

Unter den SP-Mitgliedern nahm die Unzufriedenheit zu. Wenig überraschend herrschte vor allem in ROOD, dem Jugendflügel der Partei, eine radikalere Stimmung. ROOD-Mitglieder wollten, wie auch andere radikale Parteimitglieder, mehr Gewicht auf Aktivismus, mutigere Forderungen und mehr Engagement in Bewegungen wie zu Klimagerechtigkeit und Antirassismus. Und ganz sicher keine Bündnisse mit der traditionellen Partei des Klassenfeindes: der VVD. Ende 2020 gab die ROOD-Führung eine Erklärung ab, dass sie sich gegen die Bildung von Koalitionen mit der VVD ausspricht. Als Reaktion darauf „entdeckte“ die SP-Führung, dass mehrere führende ROOD-Aktivisten Unterstützer der Kommunistischen Plattform waren, einer Gruppe, die den Herausgebern des Weekly Worker in Großbritannien politisch nahesteht. Die Parteiführung bezeichnete die Plattform dann als „Partei“ – was bedeutet, dass Mitglieder ausgeschlossen werden können, da die SP ein Verbot für Doppelmitgliedschaften hat. So begann ein Prozess eskalierender Ausschlüsse. Manchmal wurden ganze Ortsgruppen ausgeschlossen, ebenso die gesamte Jugendorganisation, als ROOD-Mitglieder sich weigerten, die Unterstützung von ausgeschlossenen Aktivisten zurückzuziehen. Andere gingen angesichts der bürokratischen Manöver der SP-Führung, die jeden Kompromiss ablehnte, empört von selbst. Einige hundert Mitglieder, darunter viele sehr aktive, befanden sich plötzlich außerhalb der Partei.

Die Risse in der SP ähnelten manchmal einem Generationenkonflikt. Für viele sich radikalisierende junge Menschen stehen Antirassismus sowie Feminismus und Trans-Rechte im Mittelpunkt, aber die SP hat zu solchen Themen wenig zu sagen. Für eine Generation, die in einer vom Klimawandel dramatisch betroffenen Welt leben muss, ist Ökologie kein zweitrangiges Thema, das aufgeschoben werden kann. Neben der Generationenfrage spielte auch die Geographie eine Rolle. Vor allem SP-Mitglieder in größeren Städten sind mit der Realität einer sich wandelnden Arbeiterklasse und der Notwendigkeit konfrontiert, sich dem Rassismus zu widersetzen, gerade um eine vielfältige Klasse vereinen zu können. Ganz allgemein haben schärfere soziale Widersprüche wie eine große Wohnraumknappheit und prekäre Arbeitsbedingungen zu einer erneuten Anerkennung der Bedeutung der Klasse und von Klassenwidersprüchen geführt, die nicht nur durch Wahlen ausgekämpft werden können. Die Menschen suchen nach radikalen Lösungen, aber im politischen Terrain finden sie nur wenige, die diese unterstützen.


Politische Schritte vorwärts


Black Lives Matter Protest in Utrecht

Sylvana Simons, Vorsitzende von BIJ1 (rechts). Foto: Myrthe Minnaert

 

Politisch obdachlos geworden bildeten die ausgeschlossenen Sozialist*innenen neue Netzwerke und Gruppen. In Utrecht, Rotterdam und Amsterdam organisierten sich ehemalige SP-Mitglieder in neuen lokalen Parteien, um an den Kommunalwahlen im März 2022 teilzunehmen. ROOD bildete sich als unabhängige sozialistische Jugendorganisation neu und verabschiedete ein neues, radikales Programm. Der neue Text beschreibt den Wunsch von ROOD, „den Kampf der Arbeiterbewegung mit dem Kampf für den Sozialismus“ zu verbinden“. „Wir müssen die Unterstützung einer Mehrheit der Bevölkerung sammeln, um den kapitalistischen Staat zu stürzen und eine demokratische Republik unter Führung der arbeitenden Klasse zu schaffen. Dieser Machtwechsel, in dem die Arbeiterklasse die Institutionen des gegenwärtigen Systems erobert, abwickelt und ersetzt, ist die Revolution, für die wir kämpfen.“

Gemeinsam mit einigen regionalen Netzwerken und einer Reihe anderer Sozialisten, darunter niederländische Unterstützer*innen der Vierten Internationale, beschlossen diese Gruppen am Sonntag, den Grundstein für eine künftige neue sozialistische Partei zu legen, mit ROOD als eng verbündeter Jugendbewegung.

Was wird die Grundlage der neuen Organisation sein? In De Socialisten betrachten sich viele als Marxisten, sogar als Kommunisten und Revolutionäre. Als der ehemalige SP-Europarlamentarier Erik Meijer, der ebenfalls ausgeschlossen wurde und jetzt eine zentrale Figur in De Socialisten ist, sich zum „linken Sozialdemokraten“ erklärte, ging ein leichtes Raunen der Überraschung durch den Raum. Der Wunsch nach Radikalismus ist stark, aber unter „Sozialismus“ werden inzwischen viele verschiedene Dinge verstanden.

Eine positive Entwicklung ist, dass die Diskussionen und Dokumente, die am Sonntag angenommen wurden, zeigen, dass es große Übereinstimmung über gemeinsame radikale Prinzipien gibt. Der Sozialismus wird als politisches Projekt für die Transformation der Gesellschaft beschrieben und als Ziel eines Kampfes, der sich aus widersprüchlichen Klasseninteressen ergibt. Das ist etwas ganz anderes als das vage ethische Ideal, das die SP „Sozialismus“ nennt. Die angenommenen Grundsätze sind auch in anderen Aspekten recht weit fortgeschritten. Es wird anerkannt, dass verschiedene soziale Kämpfe artikuliert werden müssen, wie Antirassismus und Feminismus, die Weigerung, „klassenkollaborationistische“ Bündnisse zu unterstützen, und die Ablehnung des Aufbaus von Frontorganisationen, anstatt sich an bestehenden sozialen Bewegungen zu beteiligen. Das starke Beharren auf der Notwendigkeit einer internen Demokratie und einer offenen Debatte ist ebenfalls sehr positiv.


Künftige Aufgaben


Künftige Diskussionen müssen Positionen zu Themen wie der Haltung der künftigen Partei gegenüber den Institutionen des Staates sowie der Gewerkschaftsbürokratie und Fragen der Strategie und der Rolle verschiedener Formen der Selbstbefreiung im Kampf klären. In der kommenden Periode müssen De Socialisten zwischen der Skylla, zu langsam voranzugehen und Enttäuschung und Verlust von Aktivist*innen zu riskieren, und der Charybdis, voranzueilen und die organisatorische Schwäche durch individuelle Anstrengungen besonders engagierter zu kompensieren, manövrieren.

Die Notwendigkeit einer radikalsozialistischen Bewegung ist angesichts der rasch steigenden Lebenshaltungskosten und des Wachstums rechtsextremer Kräfte klar. Die Entwicklung der SP bedeutet, dass sich auf der Linken eine Lücke entstanden ist. Aber das ist nur ein Potenzial, keine Selbstverständlichkeit. Örtliche Gruppen von De Socialisten beispielsweise gewannen Anfang des Jahres keine Sitze bei den Kommunalwahlen. Viele Aktivisten hatten dieses Ergebnis bei einer Wahl, bei der kaum gebildete Gruppen mit etablierten Parteien konkurrierten, bereits erwartet und betrachteten die Kampagne nur als einen ersten Schritt, um das neue Projekt sichtbar zu machen.

      
Mehr dazu
Kjell Östberg: Politisches Erdbeben, die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022) (nur online)
Alex de Jong: Warum die niederländische Sozialistische Partei in der Krise steckt, die internationale Nr. 3/2021 (Mai/Juni 2021) (nur online)
Alex de Jong: Wohin geht die Sozialistische Partei?, Inprekorr Nr. 1/2015 (Januar/Februar 2015)
Murray Smith: Linkswende bei Kommunalwahl, Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006)
 

De Socialisten sind auch nicht die einzige neue Kraft auf dem linken Flügel der niederländischen Politik. Seit den Parlamentswahlen 2021 ist die junge Partei BIJ1 (in niederländischer Aussprache „gemeinsam“) [2] durch einen Sitz im Parlament und lokal in einigen größeren Städten vertreten. Für BIJ1, denen es gelungen ist, in einigen der größeren Städte zusätzliche Sitze zu gewinnen, waren die Wahlen im März ein Erfolg. Auf nationaler Ebene steht BIJ1 eindeutig auf der radikalen Linken, obwohl ihre Ideologie ziemlich heterogen ist. Die Partei beschreibt ihre Politik als die der „radikalen Gleichheit“ und kombiniert Begriffe, die dem intersektionalen Feminismus und dem Antirassismus entlehnt sind, in einer Ausrichtung, die antikapitalistisch ist, ohne explizit sozialistisch zu sein. Die Partei hat sich weitgehend auf von der SP ignorierten Themen aufgebaut, und einige ihrer Aktivisten haben ihre Wurzeln in der sozialistischen Linken. In größeren Städten war sie erfolgreich, Unterstützung bei Gruppen zu finden, die zuvor von den extremen Linken nicht erreicht wurden, insbesondere bei Schwarzen und People of color. Aber die Partei erlebt schwierige Kämpfe zwischen einem radikalen linken Flügel und Befürwortern liberalerer Interpretationen von Antirassismus. Ein am Sonntag angenommener Entschließungsantrag forderte die Sondierung einer möglichen künftigen Zusammenarbeit zwischen BIJ1 und De Socialisten.

Das Treffen in Utrecht zeigte das reale Potenzial für eine neue sozialistische Organisation auf radikaler Basis. Eine klare Aufgabe für die neue Organisation besteht nun darin, eine Organisation von Aktivisten aufzubauen, die in sozialen Kämpfen verwurzelt ist. Unter den meist jungen Teilnehmern gab es ein starkes Gefühl der Begeisterung. Von ihrer ursprünglichen Basis in Utrecht, Amsterdam, Rotterdam und anderswo aus kann eine neue Bewegung aufgebaut werden, die sozialistische Ideen in soziale Kämpfe und Mobilisierungen einbringen wird.

Die Versammlung war ein Schritt nach vorn auf einem langen Weg. So, wie die Genossen es in der niederländischen Version der Internationale sangen, hat „der Wunsch uns bewegt“ – ein Wunsch nach radikaler Veränderung und nach einer Organisation, die dazu beiträgt.

30. September 2022
Quelle: International Viewpoint
Übersetzung und Fußnoten: Björn Mertens



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Auch die schwedische Vänsterpartiet (Linkspartei) hat – ohne großen Erfolg – eine ähnliche Orientierung verfolgt. Siehe: Kjell Östberg: Politisches Erdbeben, die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022) (nur online).

[2] „BIJ1“ wurde Ende 2016 als „Artikel 1“ unter Bezugnahme auf den entsprechenden Artikel der niederländischen Verfassung gegründet, der Diskriminierung und Rassismus verbietet. Wegen einer Namenskollision musste sie ihren Namen ändern, ohne auf die „1“ zu verzichten. Zu den Mitgliedern zählt auch die feministische Schriftstellerin und frühere SP-Senatorin Anja Meulenbelt. Siehe: Wikipedia. Website: bij1.org