1989

Unsere Lehren

Henri Wilno

Bis zum Fall der Berliner Mauer und dem Ende der Sowjetunion hatten die revolutionären Marxist*innen ein weitgehend gemeinsames Verständnis von der Weltlage und ihren Aufgaben darin, das sich grob in der Perspektive zusammenfassen ließ, dass die „drei Sektoren der Weltrevolution“ zusammenwachsen würden.

In den kolonial oder neokolonial beherrschten Ländern bestand die unmittelbare Aufgabe in der national-demokratischen Revolution – einem Prozess, in dem dem städtischen und ländlichen Proletariat eine vorantreibende Funktion zukommen sollte und die eigenen Interessen verteidigt werden sollten, um so den Sozialismus zu erreichen. In den bürokratischen Staaten stand eine politische Revolution auf der Tagesordnung, die den Herrschaftsapparat der Bürokratie niederringen und den Übergang zu einem wirklichen Sozialismus bewerkstelligen sollte. In den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern schließlich zielte die Perspektive auf die sozialistische Revolution. Also waren die unmittelbaren Aufgaben zwar unterschiedlich, aber das Zusammenwachsen der Kämpfe der Ausgebeuteten und Unterdrückten galt als eine objektive Tatsache und unmittelbare Perspektive.


Unser roter Leitfaden


Daniel Bensaïd verwies 2007 darauf, dass „diese Sichtweise in den 60er Jahren durchaus durch die Faktenlage gestützt wurde: die von der chinesischen Revolution ausgehenden Impulse, die siegreiche Revolution in Kuba und die Befreiungskämpfe in Algerien, Indochina und den portugiesischen Kolonien; der antibürokratische Aufstand in Budapest 1956, der Prager Frühling 1968 und die antibürokratischen Kämpfe in Polen; das Wiedererwachen sozialer Kämpfe und großer Streikbewegungen in Frankreich, Italien und Großbritannien in den 60er Jahren und der Sturz der Diktaturen in Spanien und Portugal“.

Er fügte aber auch hinzu: „Infolge der Abwürgung der portugiesischen Revolution 1975, des institutionellen Übergangs (transición) in Spanien, der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Vietnam und Kambodscha, des neoliberalen Schwenks der institutionellen Linken in Europa, des Normalisierungsprozesses in der Tschechoslowakei und dann des Staatsstreichs in Polen hatte sich der Wind gedreht und die „drei Sektoren“ hatten sich auseinander entwickelt, statt einander harmonisch zu stützen. Die Zentrifugalkräfte überwogen …“ Er schreibt, dass die iranische Revolution 1979, die tatsächlich vom Volk getragen wurde und in der die Arbeiter*innen und besonders diejenigen in der Ölindustrie eine wichtige Rolle gespielt haben, symptomatisch für die geänderte Lage war. Allerdings gab es 1979 auch die sandinistische Revolution in Nicaragua, die das Schema der „drei Sektoren“ zu bestätigen schien.

Der Vorzug dieser Konzeption lag nicht nur darin, den revolutionären Marxist*innen einen Rahmen für ihre Aufgaben auf internationaler Ebene zu liefern, sondern auch einen roten Faden zum Verständnis der komplexen Weltlage. Dies war weit entfernt von der von den dogmatischen Strömungen gepflegten Phraseologie der bedingungslosen und ewiggültigen Einheit des Weltproletariats, das einzig und allein die Welt wirklich ändern könne. Mochten die sozialen und antiimperialistischen Kämpfe auch verschiedene Wege verfolgen, so schienen sie doch unausweichlich in dieselbe Richtung zu tendieren.


Ein gewaltiger Dämpfer für den revolutionären Optimismus


Aber dieses Schema vom weltweiten Zusammenwachsen der Kämpfe und überhaupt der revolutionäre Optimismus haben einen gewaltigen Dämpfer erlitten durch den Untergang der UdSSR und ihrer osteuropäischen Satelliten, ohne dass es dort auch nur im Geringsten ein Anzeichen für eine „politische Revolution“ im Sinne eines Sturzes der Bürokratie durch eine gleichzeitige Bewegung für eine wahrhaft sozialistische Transformation gegeben hätte. Obwohl der Sturz des Kapitalismus und die Errichtung einer anderen Gesellschaft objektiv immer dringlicher erscheinen angesichts der weltweit zunehmenden Verwerfungen mit Massenarbeitslosigkeit, Missachtung der elementaren Bedürfnisse, wachsende Ungleichheit, Flüchtlingshetze, Ressourcenverschwendung, Klimawandel, drohende Kriege etc. Der Niedergang oder gar Zerfall der Parteien, die nach wie vor dem „real existierenden Sozialismus“ mehr oder weniger die Stange halten, oder die Verwandlung der regierenden KPen (besonders in China) in aktive Betreiber der kapitalistischen Transformation ihrer Länder, die jeweils zugleich auch die Gewerkschaften in den Abwärtsstrudel mitgerissen haben, ohne dass andererseits die revolutionären Strömungen davon profitieren konnten – diese Prozesse werfen etliche Fragen auf. Zumal im Gefolge auch die antikolonialistischen und antiimperialistischen Strömungen, besonders in Lateinamerika und der arabischen Welt, einen Dämpfer erlitten haben.


Der Kampf beginnt täglich aufs Neue


Angesichts der vorherrschenden Demoralisierung werden sich die herrschenden Klassen an ihre Privilegien klammern und dabei im Zweifelsfall auch bestimmte bürgerlich-demokratische Rechte opfern, und es werden Abenteurer an die Macht gelangen, die die Klaviatur des Fremdenhasses und alle Arten reaktionärer Phantasien (namentlich gegen die Rechte der Frauen) bedienen.

Sicherlich wächst das Proletariat zahlenmäßig beständig. Und in allen frisch industrialisierten Ländern, besonders in Asien (Vietnam, Kambodscha, Bangladesh etc.) kämpfen die Arbeiter*innen allen Widrigkeiten und Repressionen zum Trotz für ihre Rechte. Dasselbe gilt für China und die Türkei, und auch in Russland erwacht die Arbeiterbewegung wieder.

      
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Zwischen „ökonomistischen“ Kämpfen, auch wenn sie konsequent geführt werden, einerseits und solchen für eine Veränderung der Gesellschaft, die Überwindung der Zersplitterung und einen Internationalismus andererseits können Welten liegen. Der objektiv antikapitalistische Charakter einer sozialen Bewegung (wie der gegen den Klimawandel) führt nicht automatisch dazu, dass sich die Beteiligten auch subjektiv als antikapitalistisch und solidarisch mit den anderen Kämpfen verstehen.

Schon Daniel Bensaïd verwies darauf, dass „der Zusammenschluss der Kräfte, die Widerstand leisten und die vom Kapital errichtete Ordnung untergraben, beileibe nicht automatisch aus der Entwicklung des Kapitalismus folgt, sondern täglich aufs Neue erkämpft werden muss und niemals sicheren Bestand haben wird.“

Der Zerfall der UdSSR bedeutet nicht, dass die Revolution und der Sozialismus (und somit international organisierte revolutionäre Parteien als unabdingbares Instrument hierfür) als Ziel obsolet geworden wären, sondern lediglich, dass die Gewissheiten über deren unvermeidliches Auftreten überholt sind. Die Krise der politischen Vertretung und der alltäglichen Organisation eines Proletariats, das einem tiefen Wandel unterworfen ist, und – darüber hinaus – all derer „von unten“ als politisch handlungsfähiger Kraft lässt sich nicht auf das Fehlen einer revolutionären Führung reduzieren. Vielmehr muss eine Einheitsfront auf allen Ebenen aufgebaut werden. Oder wir werden nicht den katastrophalen Folgen eines Systems entrinnen, das stets die schlimmsten Wege wählen wird, wenn wir ihm nicht in den Arm fallen. Die Alternative lautet: Sozialismus oder Barbarei!


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz