Catherine Samary ist den Leserinnen und Lesern von Inprekorr (wie von Le Monde diplomatique und anderen Zeitungen) als erfahrene Kennerin der Situation auf dem Balkan bekannt. In diesem Beitrag skizziert sie kurz nach Ausbruch des Krieges den Charakter des Abkommens von Rambouillet und die Interessen der verschiedenen Parteien in Serbien und auf Seiten der Nato.
Catherine Samary
Kaum war der Euro gestartet, wollten die europäischen Regierungen unter Beweis stellen, daß sie auch zu einer gemeinsamen "Außenpolitik" fähig sind. Sie hofften, Kosova würde für die EU, was Bosnien-Herzegowina für Clinton war, und Rambouillet würde ein zweites Dayton. Der politische Teil des für die Verhandlungen in Rambouillet von der sogenannten "Kontaktgruppe" (Vereinigte Staaten, Deutschland, Großbritannien, Italien und Rußland) vorgelegten Plans wurde in Wirklichkeit zuerst von den serbischen Unterhändlern als akzeptable Grundlage angesehen. Er forderte von den Kosovaren die Aufgabe jeder Hoffnung auf Unabhängigkeit. Konkret wurde ihnen eine "substanzielle Autonomie" vorgeschlagen, wobei Kosova Bestandteil Serbiens oder des gegenwärtigen Jugoslawischen Bundesstaates bleiben sollte. Die Durchführung einer wie auch immer gearteten Volksbefragung über die Selbstbestimmung war selbst nach Ablauf einer Übergangsperiode ausgeschlossen worden. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, sollten die Kosovaren auch ihre Waffen abliefern. Die westlichen Regierungen brachten unverhohlen ihre Befürchtung zum Ausdruck, die Unabhängigkeit des Kosova werde in der albanischen Bevölkerung Mazedoniens (ca. 25 Prozent der mazedonischen Bevölkerung) und die bosnischen Serben im instabilen Bosnien-Herzegowina zu ähnlichen Forderungen bewegen.
Doch die westlichen Regierungen hatten die Delegation aus dem Kosova nicht "im Griff". Ihre Stütze war bis vor kurzem der Schriftsteller Ibrahim Rugova, Führer der LKD (Demokratischer Bund von Kosova), der im März 1998 als Präsident der "Republik Kosova" wiedergewählt worden war, während mehrere Oppositionsparteien und die Befreiungsarmee des Kosova (UCK) ohne großen Erfolg zu einem Boykott der Wahlen aufgerufen hatten. Rugova hatte zehn Jahre lang an der Spitze von Doppelinstitutionen (Parlament, Schulen, Gesundheitseinrichtungen) einen friedlichen Widerstand angeführt und die serbisch kontrollierten Institutionen boykottiert. Das hat ihn zu einer nach wie vor geachteten Persönlichkeit gemacht. Dennoch wurde er immer öfter für seinen autoritären Stil wie auch für seine äußerst stark vom Wohlwollen des Westens abhängige Politik kritisiert. Darüber hinaus hatte ein Teil der öffentlichen Meinung nach Dayton eine negative Bilanz von der Situation in Kosova gezogen, die immer mehr einer Art von Apartheid gleicht und in eine Sackgasse gemündet hat. Nach und nach breitete sich insbesondere unter den Jugendlichen das Gefühl aus, auf internationaler Ebene nur verstanden zu werden, wenn man zu den Waffen greift. Die UCK, die anfangs weitgehend unbedeutend war, gewann vor diesem Hintergrund und angesichts der Repression durch paramilitärische serbische Kräfte zunehmend an Gewicht. Bis vor kurzem wurde die UCK von Rugova als eine Machenschaft Milosevics dargestellt. Die ursprünglich aus einem kleinen Kreis ehemaliger "Marxisten-Leninisten" hervorgegangene UCK ist zu einer undurchschaubar, aber zweifellos offenen, heterogenen Kraft geworden. Ihr bewaffneter Widerstand hat in den letzten Monaten die Dimension eines Guerillakampfes angenommen, der sich auf manche Dörfer stützt, die zur Zielscheibe der serbischen Repression werden. Zahlreiche aus der Emigration zurückkehrende Freiwillige haben sich ihr angeschlossen. Wenn auch niemand den Vertretungsanspruch Rugovas in Frage stellen kann, ist er doch zu umstritten, um die Umsetzung von Verträgen durchsetzen zu können, die er allein unterzeichnet. Die zunehmende Popularität der UCK bewog die Parteien zum Versuch, sie in ihre politische Strategie einzubeziehen. Umgekehrt brauchte die UCK Rugovas internationales Renommee, um gehört zu werden.
Aus diesem Grund gehörten die Vertreter der Kosova-Albaner in Rambouillet schließlich verschiedenen politischen Richtungen an. Angesichts der Weigerung der serbischen Regierung, mit "Terroristen" zu verhandeln, war es sehr wichtig, daß der Sprecher der UCK in die Delegation integriert wurde. Diese setzte sich neben fünf Mitgliedern der LDK, darunter Rugova, aus sechs unabhängigen Persönlichkeiten oder Vertretern der Oppositionsparteien und fünf Mitgliedern der UCK zusammen. Diese gewannen damit trotz ihrer Zurückhaltung gegenüber den westlichen Plänen an internationalem Ansehen. Das Ziel der westlichen Regierungen war es, sie im Gegenzug zu gemäßigteren Forderungen bezüglich der Unabhängigkeit zu bewegen. Die Anwesenheit der UCK schweißte tatsächlich die Reihen der ganzen Delegation eher zusammen, und sie schwor sich gemeinsam auf eine unbeugsame Haltung ein. In der ersten Verhandlungsrunde beschlossen die Kosova-Albaner, ihre Basis zu befragen, und lehnten eine Unterzeichnung des Plans ab.
Damit brachten sie die Regierungen der europäischen Staaten und der USA in große Bedrängnis, da diese Milosevic für den Fall, daß er nicht zur Unterzeichnung bereit sei, schon mit NATO-Angriffen gedroht hatten. Niemand war davon ausgegangen, daß die Kosova-Albaner wagen würden, Widerstand zu leisten. Es war das schlimmste, was passieren konnte, wo doch Milosevic bereits als Feind auserkoren war. Adem Demaci, ein führende Figur der Kosova-Albaner, der unter Tito 20 Jahre im Gefängnis gewesen war, hatte sich geweigert, nach Rambouillet zu kommen und warnte vor der Annahme eines Plans, der sich als Falle erweisen würde, weil er eine allfällige Unabhängigkeit von vornherein ausschloß. Der Westen und insbesondere die USA übten enormen Druck aus. Sogar der albanische Schriftsteller Ismael Kadaré wurde aufgeboten, um die Presse des Kosova zu kritisieren, die "am Vorabend der Konferenz und während der Verhandlungen eine regelrechte antiwestliche Kampagne gestartet hat, die vor allem gegen die Vereinigten Staaten und gegen die NATO gerichtet ist" (erschienen in Koha Ditore, nachgedruckt in Courrier International vom 4.-10. März 1999). Er prangerte einen Teil der Delegation, die nach Rambouillet gekommen war, offen an: "Sie fordern die Hilfe der NATO an, um gegen die serbische Barbarei vorzugehen, und beginnen gleichzeitig in völlig unmoralischer und schamloser Weise, sich diesem Bündnis zu widersetzen." Es gehe darum, als ein Volk anerkannt zu werden, das der "europäischen Zivilisation" würdig sei, die von der NATO verteidigt werde. Abgesehen von seinem Versuch, ideologisch Druck auszuüben, sprach Kadaré jedoch einen Punkt an, der für die Kosovaren ein tatsächliches Dilemma darstellt: Um "ein neues Drama, die Isolation Kosovas, zu verhindern", müsse der westliche Plan akzeptiert werden. Adem Demaci wurde also aus seiner Verantwortung "entlassen". Und die Kosova-Albaner unterzeichneten den Plan und willigten unter zwei Bedingungen in ihre Entwaffnung ein: innerhalb von drei Jahren müsse eine Volksbefragung durchgeführt und die NATO müsse vor Ort präsent sein, um das Abkommen durchzusetzen. Alle wußten, daß die serbische Regierung dieser Bedingung nicht würde zustimmen können.
Man kann sich über die enorme Kurzsichtigkeit der westlichen Regierungen nur wundern, die damit rechneten, Milosevic werde sich dem Druck fügen. Um diese Hoffnung zu nähren, wurde im übrigen behauptet, er habe sich bereits in Bosnien dem Druck der NATO fügen und nachgeben müssen. Das ist eine absurde Verdrehung der Tatsachen. Die serbische Seite hatte in Dayton die Bedingung gestellt, die "Republika srpska" müsse als eine eigenständige Einheit innerhalb Bosniens anerkannt und Karadzics zugunsten Milosevics verdrängt werden, der im Namen aller Serben sprach. Das Dayton-Abkommen bedeutet alles in allem eine Legitimierung der ethnischen Säuberungen und die Konsolidierung der Herrschaft Milosevics, anstatt seines angebliches "Nachgeben".
Erneut führen die Bomben der NATO eher dazu, die serbische Bevölkerung hinter Milosevic zusammenzuschweißen, als ihn zu schwächen. Und dies um so mehr, als die Opposition durch das Einschwenken Milosevics auf den Führer der Serbischen Erneuerungspartei, Vuk Draskovic, heute Vizeminister der Bundesrepublik, bereits stark geschwächt ist. Draskovic war einer der Führer der heterogenen Koalition, die vor zwei Jahren die Kommunalwahlen gewann. Die Bevölkerung lebt unter immer schlimmeren Bedingungen, sieht die Sozialistische Partei Milosevics aber als das kleinere Übel. Milosevic kann sich als gewählter Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien mit seiner Regierung nach wie vor auf die Unterstützung der JUL (Jugoslawische Linke, die sich auf Tito beruft), die Partei seiner Frau Mira Markovic, verlassen, die sowohl in der einfachen Bevölkerung als auch unter "sozialistischen" Managern Mitglieder gewinnt. In der Regierungskoalition in Serbien ist daneben auch die ultranationalistische Partei von Vojislav Seselj vertreten. Der Angriff der NATO kann ihm nur zu noch mehr Einfluß verhelfen. Die jüngste Welle von Pressezensur durch die Regierung wurde dementsprechend mit der Notwendigkeit des Schutzes der "angegriffenen Heimat" gerechtfertigt. Die einzige Stimme, die zur Zeit aus dem Chor ausbricht, kommt aus Montenegro. Es ist Milo Djukanovic, der vor eineinhalb Jahren die Regierung übernommen hat und offensichtlich zu jenem Teil des ehemaligen kommunistischen Apparats gehört, der in den Vereinigten Staaten finanzielle und politische Unterstützung sucht und sich dafür als "Demokrat" gibt. Er hat bis jetzt den Kosova-Albanern keinerlei Unterstützung zukommen lassen. Was ihn in erster Linie kennzeichnet, ist der Wille, die Privatisierungen voranzutreiben und Montenegro die Devisen aus dem Tourismus zu sichern. Die Distanzierung von Milosevic wird in dem Maße schwächer werden, als auch in Montenegro Bomben niedergehen, wie dies bereits der Fall ist. So kann man auch nicht ausschließen, daß Milosevic davon profitieren wird, um diese abweichende Stimme zum Schweigen zu bringen und die Position Bulatovics, der von Belgrad in Montenegro aufgebaut wird, zu stärken.
Die Gefahr ist groß, daß Kosova im Schatten der NATO-Bombardierungen eine Repressionswelle erleben könnten. Es ist sogar denkbar, daß Belgrad einen der Pläne umsetzt, die seit Monaten in den Regierungskreisen zirkulieren. Sie sehen vor, die Kosovaren loszuwerden, indem Kosova zerschnitten wird und sich Serbien nicht nur ein paar Klöster, sondern auch beträchtliche Bodenschätze sichert.
Der Krieg in den Medien ist natürlich nur eine Begleiterscheinung des Krieges an sich. Dies gilt auf seiten der NATO ebenso wie in Belgrad. Da sich im Kosova keine Journalisten aufhalten, können die Berichte über Racheakte an der albanischen Bevölkerung nicht nachgeprüft werden. Sie sind aber glaubhaft. Und der bereits in Kroatien und Bosnien zu zweifelhaftem Ruhm gekommene Söldner Arkan heuert immer schlimmere Personen für seine Truppen an. Was momentan auch nicht überprüfbar ist, sind die "Verluste auf beiden Seiten", wie es so schon heißt. Doch steht fest, daß die NATO ihre Militärintervention verstärken wird müssen, wenn sie diese mit dem Schutz der Kosovaren legitimieren will, und auch die mobilen, in den bewohnten Gebieten operierenden Kräfte treffen muß, was die Gefahr von Opfern in der Zivilbevölkerung zusätzlich erhöht. Wenn sie die Logik ihrer Ziele ernst nimmt, müßte sie eigentlich Bodentruppen einsetzen. Das zieht keine der NATO-Regierungen ernsthaft in Erwägung. Das Selbstbestimmungsrecht der Kosova-Albaner wird explizit ebenso wenig in Erwägung gezogen. Mit anderen Worten: Die NATO müßte, um die Kosova-Albaner zu schützen, im Namen der Kosova-Albaner ihre Angriffe auf Serbien (auf die "serbische Spielart des Kommunismus"?) intensivieren; sie tut dies nicht gegen die Türkei im Namen der Kurden.
In Wirklichkeit geht es darum, die Rolle der NATO kurz vor ihrem fünfzigjährigen Bestehen neu zu definieren. Gleichzeitig geht es auch um die Form des zukünftigen Europa. Tony Blair hat bereits mehr Bombardierungen zugestimmt als all seine Vorgänger seit Bestehen der NATO. Die französische Linke hat sich schon mit den Privatisierungen ihre Lorbeeren verdient. Sie wird sich auch anrechnen können, einen NATO-Krieg legitimiert zu haben. Unter der Führung reaktionärer Regime, die auf der Grundlage der Auflösung des ehemaligen Jugoslawien tiefgreifende soziale Rückschritte eingeleitet haben, bekämpfen sich die Völker am Balkan gegenseitig. Eine fortschrittliche Alternative, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker anerkennt und die Grenzen durchlässig macht, kann nur auf Ebene des ganzen Balkans entstehen.
Paris, 29.3.1999
Übersetzung: Birgit Althaler
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 330