Damit sich das Land nach Jahren des Kriegs wieder erholen kann, wird es notwendig sein, die Bevölkerung einzubeziehen und bereits während der Übergangszeit demokratische Strukturen aufzubauen, um den nationalen Zusammenhalt nicht zu gefährden.
Joseph Daher
Der Sturz des Assad-Regimes am 8. Dezember 2024 hatte Hoffnungen auf eine bessere Zukunft für Syrien geweckt. Der anfängliche Optimismus wurde jedoch durch eine Reihe von Schwierigkeiten gedämpft. Die territoriale und politische Zerrissenheit des Landes, ausländische Einflussnahme und Besatzung sowie konfessionelle Spannungen erschweren die wirtschaftliche Erholung und den dringend benötigten Wiederaufbauprozess des Landes. Die Kosten für den Wiederaufbau werden auf 250 bis 400 Milliarden US-Dollar geschätzt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist nach wie vor nicht an ihren Wohnort zurückgekehrt, 90 % leben unterhalb der Armutsgrenze, und im Jahr 2024 waren laut UNO 16,7 Millionen Menschen in Syrien (75 % der Bevölkerung) auf humanitäre Hilfe angewiesen.
![]() Freude nach dem Sturz Assads Deutschland, 8.12.2024 (Foto: Shark1989z) |
Im Mai 2025 kam in Syrien ein neuer Wind der Hoffnung auf, nachdem die USA, die EU und Japan eine Reihe wichtiger Entscheidungen zur Lockerung der Wirtschaftssanktionen gegen Syrien beschlossen hatten. Vor allem die Erklärung des US-Präsidenten, die Sanktionen zu lockern, wurde in mehreren syrischen Städten mit öffentlichen Feiern begrüßt. Diese Entscheidungen haben bereits zu greifbaren politischen Ergebnissen geführt und die Voraussetzungen für ein weiteres Engagement auf regionaler und internationaler Ebene geschaffen. Sie ermöglichen die Reintegration der syrischen Wirtschaft in die regionalen und globalen Märkte, erleichtern Finanztransaktionen, beleben die Handelsströme und ebnen den Weg für ausländische Direktinvestitionen sowie für die Beteiligung der syrischen Diaspora. In diesem Zusammenhang verstärkte Damaskus seine Bemühungen, regionale und internationale Unternehmen für Investitionen in die Modernisierung der Infrastruktur und in einkommensschaffende Wirtschaftszweige zu gewinnen. So unterzeichnete Damaskus Ende Mai eine Absichtserklärung mit einem Konsortium von Unternehmen (unter anderem aus den USA, Katar und der Türkei) unter der Leitung der katarischen Gesellschaft UCC Concession Investments, um die Investitionen im Energiesektor auf bis zu sieben Mrd. US-Dollar zu erhöhen.
Mit anderen Worten: Die Aufhebung der US-Sanktionen hat ein entscheidendes Hindernis für den wirtschaftlichen Aufschwung beseitigt, was in der syrischen Bevölkerung große Hoffnungen geweckt hat. Dazu kommen jedoch noch weitere Faktoren, die einer erfolgreichen Erholung der syrischen Wirtschaft im Wege stehen.
Zunächst muss die Aufhebung der Sanktionen konkretisiert werden, was einige Zeit in Anspruch nehmen könnte. Syrien wurde 1979 auf die US-Liste der Staaten gesetzt, die den Terrorismus unterstützen, und steht seither unter US-Sanktionen. Vor allem das im Dezember 2019 verabschiedete Caesar-Gesetz [1] hat der syrischen Wirtschaft enormen Schaden zugefügt, indem es jeden Versuch, das ehemalige syrische Regime zu unterstützen und zum Wiederaufbau des Landes [während der Ära Assad, Anm. d. Ü.] beizutragen, mit Sanktionen belegt. Sowohl das Caesar-Gesetz als auch die Einstufung Syriens als Staat, der den Terrorismus unterstützt, bedürfen der offiziellen Zustimmung durch den Kongress. Allerdings könnte auch Präsident Trump selbst von den Sanktionen Abstand nehmen oder sogar deren informelle Aufhebung in Betracht ziehen.
Die UN-Sanktionen wiederum werden vom Sicherheitsrat und nicht allein von den USA beschlossen. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass es nach einer Entscheidung Washingtons zu einer Lösung kommen wird, da die regionale und internationale Rehabilitierung Syriens rasch voranschreitet.
Allerdings wird die Unsicherheit, was die Aufhebung der Sanktionen betrifft, eine schnelle Rückkehr von Finanzinstitutionen und Geschäftsleuten nach Syrien vermutlich verzögern. Aber auch ohne Sanktionen steht die syrische Wirtschaft vor gravierenden strukturellen Problemen.
Das syrische Pfund ist alles andere als stabil, und das könnte Investoren in ihrem Streben nach schnellen oder mittelfristigen Renditen abschrecken. Die Zerstörung der produktiven Wirtschaftszweige, insbesondere der verarbeitenden Industrie und der Landwirtschaft, sowie das anhaltende Handelsbilanzdefizit setzen das syrische Pfund unter Druck. Während der US-Dollar im ganzen Land im Umlauf ist, wird in einigen Regionen im Nordwesten des Landes neben der syrischen Landeswährung immer noch die türkische Lira verwendet.
Die Infrastruktur und die Verkehrsnetze Syriens sind noch nicht wiederhergestellt. Die Produktionskosten sind hoch, insbesondere für Strom. Generell leidet das Land unter einer erheblichen Knappheit an Rohstoffen und wichtigen Energieträgern, was durch eine Aufhebung der Sanktionen zumindest gemildert werden könnte. Die Ölversorgung ist zwar immer noch unzureichend, hat sich aber in letzter Zeit verbessert, da die Lieferungen aus Russland seit Anfang des Jahres zugenommen haben.
Weiters herrscht ein beträchtlicher Mangel an qualifizierten Arbeitskräften – ohne Aussicht auf eine massive Rückkehr dieser Arbeitskräfte in naher Zukunft. Die Privatwirtschaft, die hauptsächlich aus Kleinst-, kleinen und mittleren Unternehmen mit begrenzten Kapazitäten besteht, muss nach mehr als 13 Jahren Krieg und Zerstörung wiederaufgebaut und umfassend modernisiert werden.
Der Staatshaushalt wurde ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen, was wenig Spielraum für Investitionen lässt, wobei der wirtschaftspolitische Kurs der neuen Machthaber ein kommerzielles Wirtschaftsmodell bevorzugt, das kurzfristige Profite auf Kosten produktiver Wirtschaftszweige anstrebt.
Vor diesem Hintergrund haben zwischen den gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsträgern Syriens und den Vertretern aus dem Ausland bereits Gespräche über die wirtschaftliche Erholung und Entwicklung des Landes begonnen. Für einen erfolgreichen und nachhaltigen Wiederaufbau sind jedenfalls drei Faktoren ausschlaggebend:
erstens ein politischer Übergang unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Schichten,
zweitens die Schaffung eines Gegengewichts zur herrschenden Macht, um den Handlungsspielraum für eine Demokratisierung in Syrien zu erweitern und
drittens eine Verbesserung der sozio-ökonomischen Bedingungen, um auch den schwächsten Klassen der Gesellschaft, die unter schwierigen Verhältnissen leben, die aktive Teilnahme [an der Politik, Anm. d. Ü.] zu erleichtern.
Werden diese Bedingungen nicht erfüllt, steht es schlecht um eine wirtschaftliche Erholung Syriens. Und wenn unterschiedliche politische und gesellschaftliche Kräfte übergangen werden, steigt das Risiko der Instabilität. Schlimmer noch: Sollte die neue Regierung an ihrem Kurs festhalten, sind auch bewaffnete Konflikte nicht ausgeschlossen. Auch das Versäumnis, größere Teile der Bevölkerung aktiver in die Übergangsperiode einzubeziehen, könnte dem Ansehen der Übergangsregierung schaden. Ein Mangel an gesellschaftlichem Zusammenhalt würde zudem Kräfte, die ihr eigenes Süppchen kochen, auf den Plan rufen und ethnische Spannungen schüren, was die nationale Einheit weiter untergraben würde.
Nach dem Zusammenbruch des Assad-Regimes liegt die ganze Macht in den Händen von Hajat Tahrir asch-Scham (HTC), dem Bündnis, das die Offensive gegen die syrischen Regierungstruppen angeführt hatte. Kurz nach seiner Machtübernahme ernannte Ahmed asch-Scharaa, der Kopf der Gruppe, Mohammed al-Baschir zum Chef der Übergangsregierung. Baschir stand zuvor an der Spitze der Syrischen Heilsregierung [2] in Idlib, die sich ausschließlich aus Mitgliedern von Hajat Tahrir asch-Scham oder aus Personen, die der Gruppe nahestanden, zusammensetzte. Im Januar 2025 ging asch-Scharaa noch einen Schritt weiter und machte sich selbst zum Interimspräsidenten, bevor er am 29. März eine ihm unterstellte Übergangsregierung ernannte, die das Land bis zu den Wahlen führen sollte.
Nach seiner Machtübernahme bildete asch-Scharaa einen „interimistischen Legislativrat“, nachdem er das Parlament aufgelöst und die Verfassung aufs Eis gelegt hatte. Er ernannte Minister, Sicherheitsverantwortliche und regionale Gouverneure, die allesamt Hajat Tahrir asch-Scham oder ihr nahestehenden bewaffneten Gruppen der Syrischen Nationalarmee angehörten. So wurde Anas Khattab zunächst zum Chef des Geheimdienstes ernannt, bis er im Mai von Hussein al-Salama abgelöst wurde. Khattab ist ein Gründungsmitglied von Dschabhat an-Nusra, einem Vorgänger von Hajat Tahrir asch-Scham, und war dort die wichtigste Führungsfigur in Sicherheitsfragen. Seit 2017 leitete er die inneren Angelegenheiten und die Sicherheitspolitik von Hajat Tahrir asch-Scham. Er kündigte eine Umstrukturierung der Geheimdienste an, während gleichzeitig der Aufbau einer neuen syrische Armee in Angriff genommen wurde. Die höchsten Positionen in der Armee wurden mit Befehlshabern von Hajat Tahrir asch-Scham besetzt. So wurde Murhaf Abu Qasra zum Verteidigungsminister ernannt und zum General befördert. Über die neue Armee versucht das Regime, seine Kontrolle über die zahlreichen bewaffneten Gruppen in Syrien in den Griff zu bekommen und dem Staat das Waffenmonopol zu verschaffen.
Auch die Schlüsselpositionen in der neuen Übergangsregierung wurden mit Persönlichkeiten besetzt, die Sharaa nahestehen. So behielten Assad asch-Schaibani und Abu Qasra ihre Ämter als Außenminister bzw. Verteidigungsminister bei, während Khattab zum Innenminister ernannt wurde. Die tatsächlichen Befugnisse der Regierung sind jedoch unklar, zumal zur gleichen Zeit der Syrische Nationale Sicherheitsrat, der von Scharaa geleitet wird und sich aus seinen engsten Mitarbeitern (dem Außenminister, dem Verteidigungsminister, dem Innenminister und dem Leiter des Allgemeinen Nachrichtendienstes) zusammensetzt, gegründet wurde, um sich um Sicherheitsfragen und die Politik im Allgemeinen zu kümmern. In diesem Zusammenhang richtete das Außenministerium Ende März das Generalsekretariat für politische Angelegenheiten ein, das mit der Überwachung der innenpolitischen Aktivitäten, der Formulierung allgemeiner politischer Leitlinien und der Verwaltung der Vermögenswerte der aufgelösten Baath-Partei betraut wurde.
Die neue syrische Regierung hat auch Maßnahmen zur Festigung ihrer Macht über Wirtschaft und Gesellschaft ergriffen. So wurden die Handelskammern des Landes umstrukturiert und die Mehrheit ihrer Mitglieder durch ernannte Personen ersetzt, insbesondere in den Gouvernoraten [3] Damaskus, Damaskus-Land, Aleppo und Homs. Etliche neue Mitglieder des Verwaltungsrats sind für ihre engen Beziehungen zu Hajat Tahrir asch-Scham bekannt. Das gilt insbesondere für den neuen Vorsitzenden des Verbands der Syrischen Handelskammern, Alaa al-Ali, den ehemaligen Direktor der Industrie- und Handelskammer von Idlib, die ihrerseits Hajat Tahrir asch-Scham nahestand. Mitte April wurde Maher asch-Scharaa, der Bruder von Ahmed asch-Scharaa, zum Generalsekretär des Präsidialamts ernannt, wo er der Präsidialverwaltung vorsteht und als Verbindungsglied zwischen dem Präsidialamt und den staatlichen Organen fungiert.
Auch die Spitzenpositionen von Gewerkschaften und Berufsverbänden wurden mit regimenahen Persönlichkeiten besetzt. Die syrische Anwaltskammer etwa setzt sich aus Mitgliedern des zuvor in Idlib tätigen Freien Anwaltsrats zusammen. Darauf reagierten die syrischen Anwälte mit einer Petition, in der sie demokratische Wahlen zur Kammer forderten.
Die demokratisch fragwürdige Zusammensetzung des neuen Regimes spiegelt sich auch in den Initiativen, Konferenzen und Komitees wider, die mit der Gestaltung der Zukunft Syriens beauftragt wurden. Nachdem man die Konferenz des Syrischen Nationalen Dialogs zunächst verschoben hatte, wurde sie schließlich im Februar 2025 mit rund 600 Teilnehmern abgehalten. Das Procedere wurde jedoch heftig kritisiert. Das Vorbereitungskomitee war nicht einmal zwei Wochen vor der Konferenz gegründet worden, und die Einladungen wurden in der Regel erst zwei Tage vor der Konferenz verschickt, sodass viele geladene Gäste aus dem Ausland nicht teilnehmen konnten. Zudem war die Zeit für Diskussionen in den Arbeitssitzungen – zu den Themen Übergangsjustiz, Wirtschaft, persönliche Freiheiten und Verfassung – auf vier Stunden begrenzt, was einen intensiven Austausch verhinderte. Etliche Teilnehmer, insbesondere aus dem Süden Syriens und den Küstengebieten, fehlten oder waren unterrepräsentiert, und die wichtigsten politischen Organisationen der Kurden, die Autonomieverwaltung für Nord- und Ostsyrien (AANES) sowie der Kurdische Nationalrat, bemängelten, dass man sie erst gar nicht eingeladen hatte.
Auch die von Ahmed asch-Scharaa im März unterzeichnete provisorische Verfassung wurde von diversen politisch und gesellschaftlich relevanten Kreisen aufgrund ihres Inhalts und der intransparenten Auswahlkriterien bei der Bestellung der Redaktion kritisiert. Teilweise hatte man Bestimmungen aus der vorherigen Verfassung unverändert übernommen. So lautet der offizielle Name des Landes weiterhin Syrisch-Arabische Republik, Arabisch ist nach wie vor die einzige Amtssprache und der Präsident muss ein muslimischer Mann sein. Jedoch ist die islamische Rechtsprechung nunmehr „die Hauptquelle der Gesetzgebung“ und nicht mehr „eine wichtige Quelle der Gesetzgebung“. Die provisorische Verfassung spricht sich zwar für eine Gewaltenteilung aus, relativiert sie jedoch insofern, als sie dem Präsidenten eine breite Palette an Befugnissen einräumt. Der Präsident kann Gesetze einbringen, Dekrete verkünden und ein Veto gegen Entscheidungen des Parlaments einlegen. Außerdem ist er für die Ernennung der Richter des Verfassungsgerichts zuständig, was der Exekutive noch mehr Macht verleiht.
Der wirtschaftliche Kurs der Regierung wurde außerhalb eines engen Kreises von Entscheidungsträgern, deren oberstes Ziel der Machterhalt ist, weder besprochen noch mitgetragen. Die Eckpfeiler der neuen Regierung zielen darauf ab, ihr neoliberales Wirtschaftskonzept, inklusive Sparmaßnahmen, durchzuboxen. Eine solche Politik begünstigt in der Regel die Bourgeoisie. Ahmed asch-Scharaa und seine Minister hielten denn auch zahlreiche Treffen mit Vertretern der Industrie- und Handelskammern sowie mit syrischen Geschäftsleuten im In- und Ausland ab, um sich deren Anliegen anzuhören und ihnen ihre eigenen wirtschaftlichen Vorstellungen zu erläutern.
Vieles deutet darauf hin, dass Hajat Tahrir asch-Scham Privatisierungen fördern und Sparmaßnahmen durchsetzen will. Vor seiner Teilnahme am Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar, dem Sammelbecken der neoliberalen und kapitalistischen globalen Eliten, erklärte [Außenminister, Anm. d. Ü.] Schaibani der Financial Times, dass die syrische Regierung beabsichtige, staatliche Häfen und Fabriken zu privatisieren, ausländische Investoren einzuladen und den internationalen Handel anzukurbeln. Er fügte hinzu, dass die Regierung „öffentlich-private Partnerschaften erkunden werde, um Investitionen in Flughäfen, Eisenbahnen und Straßen zu fördern“. Zudem hat Damaskus die Zölle auf mehr als 260 türkische Produkte herabgesetzt, was der einheimischen Produktion schadet, insbesondere dem verarbeitenden Gewerbe und der Landwirtschaft, die nur schwer mit türkischen Importen konkurrieren können. Die türkischen Exporte nach Syrien beliefen sich im ersten Quartal dieses Jahres auf rund 508 Mio. US-Dollar, was laut dem türkischen Handelsministerium einem Anstieg um 31,2 % gegenüber dem gleichen Zeitraum des Jahres 2024 entspricht.
Gleichzeitig setzt die Regierung Sparmaßnahmen um. Im Dezember 2024 wurde der Preis für preisgestütztes Standardbrot von 400 syrischen Pfund auf 4000 syrische Pfund erhöht, wobei gleichzeitig das Standardgewicht von ursprünglich 1500 Gramm auf 1100 Gramm herabgesetzt wurde. Ein Ende der staatlich gestützten Preise für Brot wurde für die folgenden Monate angekündigt, jedoch ohne konkretes Datum. Im Januar 2025 erklärte der Minister für Elektrizität, Omar Chaqrouq, dass die Regierung die Subventionen für die Strompreise reduzieren oder sogar abschaffen werde, da „die [derzeitigen] Preise sehr niedrig sind und weit unter den Herstellungskosten liegen. Das soll aber nur schrittweise erfolgen und nur unter der Voraussetzung, dass die Durchschnittseinkommen steigen.“ Derzeit stellt der Staat den wichtigsten syrischen Städten nicht mehr als zwei Stunden Strom pro Tag zur Verfügung. Der Preis für eine Gasflasche, die zum Kochen verwendet wird, stieg im Januar von 25 000 auf 150 000 syrische Pfund und führte zu einer erheblichen Belastung syrischer Familien.
Auch die Kürzung oder Einstellung der Subventionen für Ölderivate, insbesondere für Treibstoff, Diesel und Benzin, wird sich negativ auf die gesamte Wirtschaft und die Bevölkerung auswirken. So stiegen durch die Aussetzung der Treibstoffsubventionen im Dezember 2024 die Produktionskosten für Landwirte, was die Aussaat für die Weizenernte 2025 erheblich beeinträchtigte.
Zwischen Dezember und Januar kündigte das Ministerium für Wirtschaft und Außenhandel die Entlassung von einem Viertel bis zu einem Drittel der Staatsbediensteten an, also derjenigen, die nach Ansicht der neuen Machthaber ein Gehalt beziehen, ohne zu arbeiten. Der Minister für Verwaltungsentwicklung, Mohammed al-Skaff, dem das Personal des öffentlichen Dienstes untersteht, ging sogar noch weiter, indem er erklärte, dass nicht mehr als 55 000 bis 600 000 Beschäftigte benötigt würden, also weniger als die Hälfte der derzeitigen Belegschaft. Seither wurden keine offiziellen Zahlen zu den Entlassungen bekannt gegeben. Einige Bedienstete wurden für drei Monate in einen bezahlten Urlaub geschickt, worauf es im ganzen Land zu Demonstrationen von entlassenen oder beurlaubten Beamten kam.
Nichtsdestotrotz hat die syrische Regierung Anfang des Jahres ihr Versprechen bekräftigt, die Gehälter der Staatsbediensteten um 400 % zu erhöhen und einen Mindestlohn von 1,12 Millionen syrischen Pfund (ca. 102 US-Dollar) festzusetzen. Auch wenn dieses Vorhaben in die richtige Richtung weist, wurde es immer noch nicht umgesetzt, obwohl die Höhe der Gehälter angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise nicht ausreicht, die Lebenshaltungskosten zu decken. Ende März wurden die monatlichen Mindestausgaben für eine fünfköpfige Familie in Damaskus auf acht Millionen syrische Pfund (727 US-Dollar) geschätzt.
Was den privaten Sektor betrifft, gab das Ministerium für Wirtschaft und Industrie Ende Mai bekannt, dass die Verpflichtung von Geschäftsleuten und Unternehmern, ihre Beschäftigten bei der Sozialversicherung anzumelden, in Zukunft entfallen würde – unter dem Vorwand, Verfahren zu vereinfachen und Investitionen zu fördern. Nachdem dieser Beschluss als Verstoß gegen die Arbeitnehmerrechte kritisiert wurde, stellte das Ministerium am nächsten Tag klar, dass keine grundsätzliche Aufhebung der Meldepflicht vorgesehen sei, sondern lediglich eine vorübergehende, und zwar bis zum Jahresende, um die Mitgliedschaft in den Handelskammern zu fördern. Diese Klarstellung hat jedoch die Angst vor einer weiteren Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung keineswegs zerstreut.
Während Syrien vor einer der schwersten Ernährungskrisen der letzten Jahrzehnte steht und eine akute Dürre im Jahr 2025 die einheimische Weizenernte zu dezimieren droht, kursieren Gerüchte, dass die Unterstützung für den Weizenanbau, einen traditionellen Eckpfeiler der landwirtschaftlichen Produktion des Landes, eingestellt werden soll, wie die Website The Syria Report unter Berufung auf eine Quelle im Landwirtschaftsministerium berichtet. Bereits vor dem Sturz des Assad-Regimes waren die laufenden Kosten [in der Landwirtschaft, Anm. d. Ü.] konstant hoch, aber seit 2023 haben sich die Preise für Düngemittel verdreifacht, was die Produktionskosten erhöht, den Zugang der Landwirte zu Produktionsmitteln erschwert und die gesamte landwirtschaftliche Produktion beeinträchtigt.
Eine der Voraussetzungen für einen gelungenen Wiederaufbau des Landes ist eine lebendige Zivilgesellschaft, die imstande ist, ein Gegengewicht zur Macht zu bilden. Unter Zivilgesellschaft sind nicht nur lokale und internationale NGOs zu verstehen, sondern auch politische Parteien, Gewerkschaften, Berufsverbände, feministische Gruppierungen, Umweltorganisationen, lokale Vereine usw. Sie müssten in der Lage sein, der neuen autoritären Dynamik im Land und der politischen und wirtschaftlichen Machtkonzentration von Hajat Tahrir asch-Scham die Stirn zu bieten. Um breiten Teile der Gesellschaft die Mitwirkung am wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau zu ermöglichen, ist die Schaffung demokratischer politischer Handlungsspielräume unter Einbeziehung der Bevölkerungsmehrheit, insbesondere der armen und arbeitenden Klassen, unerlässlich. Der Wiederaufbau darf nicht allein den politischen und wirtschaftlichen Eliten und den reichsten Schichten der Gesellschaft überlassen werden. Dafür sind zwei Voraussetzungen erforderlich: die Gewährleistung von Sicherheit und innerem Frieden sowie die Verbesserung der sozio-ökonomischen Lage der Mehrheit der syrischen Bevölkerung.
Der innere Frieden in Syrien liegt nach wie vor in weiter Ferne. In einigen Regionen, vor allem in Homs und in den Küstengebieten, herrscht Unsicherheit, die sich in gewalttätigen konfessionell begründeten Übergriffen durch die neuen Sicherheitskräfte und ihnen nahestehende bewaffnete Gruppen entlud, die auch vor Hinrichtungen und Morden nicht zurückschreckten. Im März verübten Hajat Tahrir asch-Scham und die Syrische Nationale Armee konfessionell motivierte Massaker an alawitischen Zivilisten in den Küstenregionen, bei denen Hunderte von Menschen ums Leben kamen. Zwar war die Gewalt von Überbleibseln des Assad-Regimes durch gezielte Angriffe auf Angehörige der Sicherheitskräfte sowie auf Zivilisten ausgelöst worden, doch die Gegenreaktion [des Regimes, Anm. d. Ü.] traf alle Alawiten und folgte einer Logik des konfessionellen Hasses und der Rache. Im April und Mai verübten bewaffnete Gruppen aus dem Umfeld der Regierung Angriffe auf die drusische Bevölkerung, während die Gewalt und die Morde an alawitischen Zivilisten unvermindert fortgesetzt wurden.
Die Verantwortung für die Massaker im März sowie für die Morde an alawitischen Zivilisten und neuerdings auch an den Drusen liegt in erster Linie bei der neuen syrischen Regierung. Sie hat es nicht geschafft, der Gewalt Einhalt zu gebieten, sondern war sogar direkt an den Ausschreitungen beteiligt. Vor allem aber hat sie die politischen Voraussetzungen für die Massaker geschaffen. Es wurde verabsäumt, im Rahmen der Übergangsjustiz, alle Personen und Gruppierungen zu bestrafen, die während des syrischen Konflikts in Kriegsverbrechen verwickelt waren, obwohl das maßgeblich zur Verhinderung von Racheakten und zum Abbau der wachsenden ethnisch-religiösen Spannungen beigetragen hätte. Ahmed asch-Scharaa und seine Verbündeten haben jedoch kein Interesse an einer Übergangsjustiz, da sie mit gutem Grund befürchten, für ihre eigenen Verbrechen und die Übergriffe auf Zivilisten vor Gericht gestellt zu werden. Am 17. Mai gab die syrische Übergangsregierung die Einrichtung von zwei neuen Regierungsorganen bekannt: die Kommission für Übergangsjustiz und die Nationale Kommission für Vermisste. Der im betreffenden Präsidialdekret definierte Auftrag der Kommission für Übergangsjustiz weist jedoch Lücken auf, da er zahlreiche Opfer unberücksichtigt lässt, insbesondere die von Hajat Tahrir asch-Scham und ihren verbündeten bewaffneten Gruppen. Diese selektive Justiz ist äußerst problematisch und könnte neue politische und konfessionelle Spannungen im Land entfesseln.
Mit Maßnahmen zur Rückholung von Staatseigentum und zur Verfolgung von Finanzverbrechen wird auch ein sozio-ökonomischer Aspekt angesprochen. Es geht dabei um die Privatisierung staatlichen Eigentums und die Verteilung von öffentlichem Grund und Boden an Geschäftsleute, die dem alten Regime nahestanden – zum Nachteil der Bevölkerung, die auf ihr Recht, aus öffentlichen Gütern Nutzen zu ziehen, verzichten muss. Im Sinne einer neoliberalen Politik der Privatisierung öffentlichen Eigentums sehen die wirtschaftlichen Schwerpunkte der neuen Regierung Versöhnungsabkommen mit Geschäftsleuten aus dem Umfeld des Assad-Regimes vor, was den eigentlichen Zielsetzungen der Übergangsjustiz widerspricht.
Anfang März unterzeichnete die Regierung ein Übereinkommen mit der [kurdischen, Anm. d. Ü.] AANES und suchte die Nähe zu Teilen der drusischen Bevölkerung in Suweida. Damit soll offensichtlich das Ansehen der Regierung, das aufgrund der Massaker in den Küstengebieten stark gelitten hatte, auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene wiederhergestellt werden. Eine abschließende Bewertung dieser Vereinbarung steht noch aus, da sich die lokalen Gemeinschaften im Nordosten Syriens und in Suweida dagegen ausgesprochen und mehrheitlich gegen die provisorische Verfassung und die Politik der neuen Machthaber im Allgemeinen demonstriert haben. Vor allem die Weigerung des Regimes, die für die Massaker in den Küstengemeinden verantwortlichen bewaffneten Gruppen zu bestrafen, hatte für Kritik gesorgt. Im April flammten in einigen Teilen des Landes erneut konfessionelle Kämpfe auf, die sich gegen die drusische Bevölkerung richteten. Um die Spannungen abzubauen und einer ausländischen Einmischung in die internen Angelegenheiten des Landes, insbesondere von Seiten Israels, vorzubeugen, schlossen die syrische Regierung und die Vertreter der Drusen Anfang Mai ein Abkommen über Sicherheitsfragen.
Abgesehen von der Gefahr, dass Syrien in einzelne Teile zerfallen könnte, haben einige Staaten, allen voran der Iran und Israel, ein Interesse daran, konfessionelle und ethnische Gewalt zu schüren, um sich als Verteidiger von bestimmten Gruppierungen ins Spiel zu bringen und die Instabilität anzuheizen. So haben israelische Regierungsverantwortliche ihre Bereitschaft erklärt, die syrischen Drusen auch mit militärischen Mitteln zu beschützen. Erst vor kurzem führte Israel nach Kämpfen in der Nähe von Damaskus Warnluftschläge gegen die mehrheitlich drusischen Städte Dscharamana und Sahnaja durch. Die wichtigsten Vertreter der Drusen haben die israelische Einmischung umgehend zurückgewiesen und ihre Loyalität gegenüber Syrien und der Einheit des Landes bekräftigt. Trotz des Abkommens zwischen Damaskus und der AANES hat auch die türkische Armee ihre Drohungen gegen die kurdische Bevölkerung im Nordosten [Syriens, Anm. d. Ü.] nicht vollständig eingestellt.
Eine weitere wesentliche Voraussetzung für die Erweiterung des politischen Handlungsspielraums in Syrien ist die Verbesserung der sozio-ökonomischen Grundlagen. Das ist angesichts der massiven Zerstörungen durch den Krieg und der Tatsache, dass 90 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, unumgänglich. Große Teile der Bevölkerung sind von einer Mitwirkung am Wiederaufbauprozess, der in ihrem unmittelbaren und objektiven Interesse liegt, praktisch ausgeschlossen, da sie kaum für die Deckung ihrer Grundbedürfnisse [Miete, Strom, Schulgebühren usw.) aufkommen können.
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Der wirtschaftliche Kurs der neuen Regierung hat zu einer zunehmenden Verarmung großer Teile der Bevölkerung geführt und die Unterentwicklung der produktiven Wirtschaftszweige Syriens verschärft. Daher sollte die Regierung nicht nur mit ausländischen Geschäftsleuten verhandeln, sondern auch relevante lokale gesellschaftliche und politische Kräfte einbeziehen. Damit sind in erster Linien Gewerkschaften sowie Bauernvereinigungen und andere Berufsverbände gemeint. Ihnen gilt es, den Rücken zu stärken, was durch die Mobilisierung der Wählerschaft im Zuge freier Wahlen sowie durch die Mobilisierung einheimischer Arbeitskräfte erfolgen kann.
Ein Wiedererstarken der demokratischen Massenorganisationen der arbeitenden Bevölkerung ist unumgänglich, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung zu verbessern und den politischen Handlungsspielraum der arbeitenden Klasse im Zuge des Wiederaufbaus zu vergrößern. In dieser Hinsicht waren die Demonstrationen, die im Januar und Februar 2025 in verschiedenen Provinzen von entlassenen Beamten organisiert wurden, vielversprechend, ebenso wie die Versuche, alternative Gewerkschaften oder zumindest Vernetzungsstrukturen aufzubauen. Abgesehen von Protesten gegen die Massenentlassungen forderten die neu entstandenen Gruppierungen höhere Löhne und Gehälter und erteilten den Plänen der Regierung zur Privatisierung von Staatseigentum eine Absage. Allerdings haben die konfessionellen Massaker in den Küstengebieten die Protestbewegung erheblich geschwächt, da befürchtet wurde, dass regimenahe bewaffnete Gruppen mit Gewalt reagieren würden.
Ein ausschließlich von der Elite gesteuerter Wiederaufbauprozess birgt die Gefahr von weiterer sozialer Ungleichheit, Verarmung, Konzentration des Reichtums in den Händen einer Minderheit und Stillstand der produktiven Entwicklung. All diese Faktoren haben den Volksaufstand gegen das Assad-Regime im Jahr 2011 ausgelöst. Es kann daher nur nach hinten losgehen, die Übergangsgesellschaft nach der Ära Assad auf einer solchen Grundlage zu gestalten.
Zweifellos wäre jeder Nachfolger des Regimes von Baschar al-Assad vor enormen politischen und sozio-ökonomischen Herausforderungen gestanden. Das ist nicht zu unterschätzen. Allerdings erschwert der politische und wirtschaftliche Kurs von Hajat Tahrir asch-Scham einen erfolgreichen und nachhaltigen Wiederaufbauprozess Syriens während der Übergangsperiode. In der verarmten, sozial wie politisch zerrissenen syrischen Gesellschaft kann es leicht zu neuerlichen Gewaltausbrüchen und zu einer Eskalation konfessioneller Spannungen kommen, was einer wirtschaftlichen Erholung, geschweige denn einem erfolgreichen Wiederaufbau, alles andere als förderlich wäre. Syrien befindet sich an einem Scheideweg. Wenn keine Schritte zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts und zur Demokratisierung unternommen werden, wird der Niedergang des Landes nicht aufzuhalten sein und unter Umständen in die Errichtung eines neuen autoritären Regimes mit neuen Formen der Ausgrenzung münden. Damit wäre der Weg in eine weitere Katastrophe vorgezeichnet.
9. Juni 2025
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Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2025 (September/Oktober 2025). | Startseite | Impressum | Datenschutz