Faschismus

„Faschisierung“?

Häufig wird von Linken bei der Beschreibung bzw. Analyse von aktuellen Entwicklungen der bürgerlichen Demokratien der Begriff „Faschisierung“ benutzt – und er liegt ja auch nahe.

Johann-Friedrich Anders

Zur Charakterisierung der gegenwärtigen Entwicklungen zitiere ich aus der Potsdamer ISO-Broschüre von 2025 (gelegentlich stilistisch leicht verändert) „Warum ist die AfD gefährlich?“ [1]:

 

„Faschisierung“

Schon vor 50 Jahren sahen manche bei jedem Polizeieinsatz den Faschismus heranschleichen

„Auf die anhaltende Krise und die Verunsicherung der Bevölkerung antwortet die bürgerliche Politik mit Scheinlösungen. Alle bürgerlichen Parteien (einschließlich der SPD) bieten für die Lösung der aktuellen Probleme Sündenböcke an, die von den eigentlichen Ursachen ablenken. Hier treffen sie sich mit Trump, Orban, Meloni, Wilders usw.“

Und:

„Es gelingt der AfD, das allgemeine Unbehagen großer Teile der Bevölkerung auf die ihrer Ansicht nach zentrale Frage zuzuspitzen und den Eindruck zu erzeugen, die Änderung der Flüchtlingspolitik (und allgemeiner: der Einwanderungspolitik) könne den größten Teil aller Probleme lösen.

Die AfD ist auf dem Vormarsch, und sie treibt die offizielle Regierungspolitik in der Flüchtlingsfrage vor sich her. Dies kann sie deswegen, weil die anderen Parteien (ausgenommen DIE LINKE) selbst rassistische Positionen vertreten, wenn auch weniger offen. Auf diese Weise finden offen rassistische und faschistische Positionen immer breitere Zustimmung in der Gesamtgesellschaft und sind längst in der „bürgerlichen Mitte“ angekommen …

Ein weiteres Kernelement der Politik der AfD ist die Praktizierung von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele. Besonders in den östlichen Bundesländern versucht die AfD mit Erfolg – zusammen mit neonazistischen Gangs –, andersdenkende Menschen einzuschüchtern und zu terrorisieren.“

Und schließlich das Programm der AfD und dessen Nähe zur NS-Ideologie: Zentrales Ziel der AFD ist die Wiederherstellung einer Volksgemeinschaft, die rassisch homogen ist – eine faschistische Vorstellung.

„Diese völkisch-nationalistische Sicht führt zur Gleichschaltung der Gesellschaft, zur Abschaffung der sozialen Kämpfe, zur Unterordnung der arbeitenden Menschen unter die Interessen des Kapitals … Die ‚Remigrations‘-Projekte der AfD würden für Millionen Menschen die Zwangsvertreibung bedeuten …

Offiziell reden die AfD-Anhänger*innen nicht von rassischer Reinheit; sie verwenden heute die Begriffe ‚ethnokulturelle Identität‘ und ‚Leitkultur‘. Aber ihr populistischer Politikstil kann nicht darüber hinwegtäuschen, was sie damit meinen. Sie wollen den angeblichen ‚kulturellen Zerfall der Nation‘ verhindern, sie konstruieren den Popanz des ‚demographischen Niedergangs des deutschen Volkes‘.“ Die Frage ist: Ist diese Situation bzw. Entwicklung mit dem Begriff „Faschisierung“ zutreffend charakterisiert?


Zur Kritik


Wer heute von „Faschisierung“ spricht, spricht vor allem eine Warnung vor schlimmen, an den Faschismus erinnernden Ereignissen bzw. Entwicklungen aus. Zugrunde liegt diesem Wortgebrauch eine Theorie, die eine nur wenig zutreffende Faschismus-Theorie ist, die politisch in die Irre führt.

Was die Faschisierungs-Behauptung nahelegt bzw. suggeriert

  1. Es sei eine evolutionäre (eine schleichende, allmähliche, organische) Entwicklung möglich, die ohne explosive Ereignisse, ohne Bruch, zum Faschismus führen könne.
  2. Es bestehe kein qualitativer Unterschied zwischen einem bürgerlich-parlamentarischen System und einem faschistischen System.
  3. Es gebe keinen qualitativen Unterschied zwischen einem autoritären „starken Staat“ und einem faschistischen System.

Was falsch ist an der „Faschisierungs“-Behauptung

zu 1. Tatsächlich ist der Übergang zum Faschismus keine schleichende Entwicklung, kein schleichender Übergang, sondern ein Bruch. Das ist durchaus keine neue Erkenntnis, sondern nur eine offenbar weitgehend in Vergessenheit geratene.

Unter linken Faschismus-Forschern dürfte bei allen Differenzen Einigkeit darüber bestehen, dass Ernest Mandel Recht hat mit dem, was er 1971 in seiner Einleitung zu Trotzkis „Schriften über Deutschland“ schrieb:

„Der Faschismus ist nicht bloß eine neue Etappe der Stärkung und Verselbstständigung der Exekutive des bürgerlichen Staates. Er ist nicht bloß die ‚offene Diktatur des Monopolkapitals‘. Er ist eine besondere Form der ‚starken Exekutive‘ und der ‚offenen Diktatur‘, die sich durch völlige Zerschlagung sämtlicher Arbeiterorganisationen – auch der gemäßigten, sicher der sozialdemokratischen – kennzeichnet. Es ist der Versuch, durch völlige Atomisierung der Werktätigen jegliche Form des organisierten Klassenkampfes, der organisierten Selbstverteidigung und der Lohnabhängigen, gewaltsam zu verhindern.“ (Mandel: „Trotzkis Faschismustheorie“, in Leo Trotzki: „Schriften über Deutschland“, Frankfurt am Main, 1971, S. 32) Um das durchsetzen zu können, braucht der Faschismus eine aggressive, gewalttätige Massenbewegung.

zu 2. Es besteht ein qualitativer Unterschied zwischen einem bürgerlich-parlamentarischen System und einem faschistischen System. Dazu führte 1932 Trotzki aus (in: „Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats“):

Marsch der Faschisten auf Rom, 1922

2.v.l.: Mussolini, Foto: unbekannt

 

„Zwischen Demokratie und Faschismus besteht ein Gegensatz. Er ist durchaus nicht ‚absolut‘ oder, um in der Sprache des Marxismus zu reden, bezeichnet durchaus nicht die Herrschaft zweier unversöhnlicher Klassen. Aber er kennzeichnet verschiedene Herrschaftssysteme ein und derselben Klasse.“ (Trotzki, S. 193) Trotzki schreibt zusammenfassend:

„Für die monopolistische Bourgeoisie stellen parlamentarisches und faschistisches System bloß verschiedene Werkzeuge ihrer Herrschaft dar: sie nimmt zu diesem oder jenem Zuflucht in Abhängigkeit von den historischen Bedingungen … Die Reihe ist an das faschistische Regime gekommen, sobald die ‚normalen‘ militärisch-polizeilichen Mittel der bürgerlichen Diktatur mitsamt ihrer parlamentarischen Hülle für die Gleichgewichtserhaltung der Gesellschaft nicht mehr ausreichen.“ (Trotzki, S. 194)

zu 3. Es besteht ein qualitativer Unterschied zwischen einem autoritären „starken Staat“ und einem faschistischen System.

Der „starke Staat“ kann zwar – und er tut es – „Gewalt und Repression einsetzen und der Arbeiterbewegung oder radikalen Gruppen schwere Schläge versetzen“, aber er ist nicht fähig zu dem, was der Faschismus leistet: “die Arbeiterorganisationen zu vernichten und die Arbeiterklasse zu atomisieren“ (Mandel: „Trotzkis Faschismustheorie“, S. 47).

Faschismus ist kein „starker Staat“, sondern „ein radikal autoritärer, terroristischer imperialistischer Staat, der die systematische Anwendung von Gewalt gegen seine – tatsächlichen, vermeintlichen oder angeblichen – Feinde im Innern wie im Ausland sozusagen institutionalisiert, ideologisch rationalisiert und zur Staatsdoktrin erhebt.“ (Mandel: „Der Zweite Weltkrieg“, Frankfurt am Main 1991, S. 239)


Was droht heute?


Aktuell keine Zerschlagung der Arbeiterbewegung erforderlich und in Sicht

Die bürgerliche Gesellschaft braucht zwar Autoritarismus, aber keine faschistische Massenbewegung, und die ist auch nicht in Sicht. Zur Begründung nochmal ein paar Zitate aus der Potsdamer ISO-Broschüre „Warum ist die AfD gefährlich?“:

„In der aktuellen Situation gibt es vor allem zwei Gründe, warum das deutsche Bürgertum auf mittlere Sicht nicht auf die Karte einer faschistischen Machtergreifung setzt:

Zum einen sprechen gegen einen solchen Weg heute ökonomische Faktoren: die Verflechtung der Weltwirtschaft, vor allem aber die Bedeutung der deutschen Exportindustrie. Diese würde durch einen Prozess faschistischer Machtergreifung massiv behindert.

Zum anderen hat es die herrschende Klasse in Deutschland nach wie vor nicht mit einer starken, klassenkämpferischen Arbeiter*innenbewegung zu tun, die (für die Bourgeoisie eine Gefährdung ihrer Macht darstellte und) durch ein faschistisches Regime zerschlagen werden müsste. Deshalb hat die herrschende Klasse aktuell keinen „Bedarf“ an einer faschistischen Machtergreifung … Und so ist die Gefahr einer faschistischen Machtergreifung in Deutschland nicht akut. (Dies ist keine Entwarnung vor den heutigen Folgen und Zielen der AfD.)“

Das zentrale Problem heute

„Das Problem heute ist die Gewöhnung an die Präsenz einer faschistoiden Partei, die sich stark im Aufwind befindet. Die aktuelle hauptsächliche Bedrohung durch die AfD liegt in der zunehmenden Enttabuisierung und der Verbreitung von tief reaktionären Ideologien, die es den bürgerlich demokratischen Parteien leichter macht, reaktionäre Maßnahmen ohne großen Widerstand zu propagieren und umzusetzen.

Die unmittelbare Gefahr, die die AfD darstellt, liegt hauptsächlich in der zunehmenden Änderung der Regierungspolitik (auch wenn die AfD nicht an der Regierung ist) in Richtung Autoritarismus (Beschneidung gewerkschaftlicher Rechte im Betrieb und außerhalb), Militarisierung, Abbau sozialer Sicherungssysteme. Die bürgerlichen Parteien werden sich nicht scheuen, weiterhin Teile des AfD-Programms selbst umzusetzen.

Eine weitere aktuell reale Gefahr, die von der AfD ausgeht, liegt darin, dass sie die faschistischen Gruppen unterstützt, die mit ihren terroristischen Aktivitäten (etwa mit ihren Anschlägen auf Sammelunterkünfte, aber auch mit ihren Angriffen auf Linke und auf andere Alternative) Menschen mit Gefahr für Leib und Leben bedrohen … Dadurch wird der Ruf nach dem „starken Staat“ lauter, was es der Regierung erleichtert, Bürgerrechte zu beschneiden.“

Welche weitere Entwicklung ist möglich?

„Die Herrschenden könnten eine Verschärfung ihrer Klassenpolitik – nicht zuletzt aufgrund der politischen Schwäche der Gewerkschaften – ohne einen Regimewechsel in Richtung Faschismus erreichen. Eine verschärfte „Sicherheitspolitik“ (schärfere Polizeigesetze usw.) und mehr Autoritarismus und Militarismus ließen sich ohne faschistische Massenbewegung und sogar besser (und leichter?) umsetzen. Die Rechtsentwicklung mit dem Abbau sozialer Sicherungssysteme und der Beschneidung von Bürgerrechten (wie das heute etwa in der Türkei und zunehmend in Ungarn, in Italien, den USA usw. zu erleben ist) könnte weitergehen und stünde sicherlich auf dem Programm der Herrschenden. Auch eine Beschneidung des Streikrechts dürfte unter den Herrschenden weiter diskutiert werden und könnte sich durchaus umsetzen lassen, wenn der Widerstand schwach bleibt.“

Diese – mögliche – Entwicklung wäre keine zunehmende „Faschisierung“ – ihr Ergebnis wäre kein faschistischer Staat, sondern eine autoritäre bürgerliche Demokratie, ein „starker Staat“.


Fazit


Wer heutzutage von „Faschisierung“ spricht, warnt zwar davor, dass die Gesellschaft der BRD sich zu einer faschistischen Gesellschaft entwickele. Doch mit dieser Begrifflichkeit werden die qualitativen und politisch wichtigen Unterschiede zwischen parlamentarischen Demokratien, einem „starken Staat“ und einem faschistischen Herrschaftssystem ignoriert bzw. verwischt.

Auch ist es keineswegs erhellend, eine Vielzahl von Ereignissen als zunehmende „Faschisierung“ moralisch zu verurteilen, dabei aber im Dunklen zu lassen, wer denn da konkret „faschisiert“.

Worauf kommt es an?

      
Mehr dazu
Thies Gleiss: Die AfD verbieten?, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025). Auch bei intersoz.org.
Helmut Born und Thies Gleiss: Der aufhaltsame Aufstieg der AfD, die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024).
H. Neuhaus: Faschismus bekämpfen, Grundrechte verteidigen, Widerstand organisieren, die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024).
Jakob Schäfer: Zu den Ursachen der Rechtsentwicklung, die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024).
Ernest Mandel: Zu Trotzkis Analyse des Faschismus, Inprekorr Nr. 230 (September/Oktobber 1990).
 

Erstens müssen die Analysen der gesellschaftlichen Prozesse, der Interessen der verschiedenen Klassen und der Kräfteverhältnisse vorangetrieben werden. Dabei muss deutlich gemacht werden, wer die Opfer und wer die Täter dieser Prozesse und vor allem der staatlichen Politik sind. Diese Analysen müssen in eine Form gebracht werden, die auch für politisch nicht aktive Menschen gut nachvollziehbar sind.

Zweitens muss verdeutlicht werden, dass gegen Rechts nur linke Politik hilft, also eine aktive, klassenkämpferische Politik, die sich an den Interessen der lohnabhängigen Bevölkerung und aller unterdrückten Schichten ausrichtet. Hier sind in erster Linie die Gewerkschaften gefordert. Sie müssen mit diesen Aufgaben konfrontiert werden. Aber es darf nicht darauf gewartet werden, bis die Gewerkschaften die Zeichen der Zeit erkannt haben.

Der Widerstand muss praktisch angegangen werden: auf der Straße, am Stammtisch, in der Schule, am Arbeitsplatz. Überall dort, wo rechtes Gedankengut (auch und gerade in der Migrationsfrage) auftaucht, müssen wir dagegenhalten und die Zusammenhänge und die Folgen einer Stärkung der autoritären Politik aufzeigen.

Letztlich entscheidend wird sein, dass mit klassenkämpferischer Politik eine reale, machbare und attraktive Alternative sichtbar wird, eine, für die zu kämpfen sich lohnt. Nur damit kann den Rechtsradikalen die Anziehungskraft und das Rekrutierungspotential entzogen werden.


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Bestellbar per E-Mail über die ISO-Ortsgruppe