Isreal/Palästina

Dreißig Jahre nach Oslo

Das Osloer Abkommen war ein historisches Ereignis gewesen. Fast dreißig Jahre später spricht jedoch niemand mehr davon, wenn es um die Situation in Palästina geht. Vom „Friedensprozess“ oder dem „Quartett“, die in den 1990er und 2000er Jahren noch tonangebend waren, ist nicht mehr die Rede, so weit sind die Hoffnungen in die Ferne gerückt, die diese Abkommen geweckt hatten.

Edouard Soulier

Die Abkommen vom 13. September 1993, die vom israelischen Staat und dem Führer der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) unterzeichnet wurden, sollten eine dauerhafte Lösung des „Konflikts“ herbeiführen und die Gründung eines palästinensischen Staates ermöglichen – eine historische Forderung der nationalen Befreiungsbewegung. Das Abkommen sah vor, dass die Gebiete des Westjordanlandes nach und nach unter die Kontrolle einer neu geschaffenen Palästinensischen Behörde gestellt werden sollten.

Dieser Übergang sollte über eine Aufteilung der Gebiete des Westjordanlandes in drei Zonen erfolgen: die Zonen A, B und C für eine Übergangszeit von fünf Jahren. Diese Aufteilung entsprach der israelischen Forderung nach einer differenzierten Verwaltung dieser Zonen. Dabei handelt es sich bei den Gebieten in Zone A (18 % der Gesamtfläche der Gebiete) im Wesentlichen um die großen palästinensischen Städte (außer Hebron), in denen der Großteil der Bevölkerung lebt. Sie stehen unter palästinensischer ziviler und militärischer Kontrolle. Die Zone B, etwa ein Viertel des Gebiets, umfasst die palästinensischen Dörfer und steht unter palästinensischer Zivil- und israelischer Militärkontrolle. Der Rest, 60 % des Territoriums (Zone C), ist der einzige nicht fragmentierte Landstreifen und steht vollständig unter israelischer Kontrolle. Er umfasst die israelischen Siedlungen im Westjordanland, in Gaza (seit 2005 aufgelöst) und in Ostjerusalem, das unter israelischer Militärkontrolle steht.


Eine Scheinautonomie


 

Teilungsplan für die Westbank

Oslo-Abkommen: Zonen A (hellbraun), B (dunkelbraun), C (weiß). Rote Linie: Sperrmauer (Plan 2005) – Grafik: Wickey-nl (PD)

Fast dreißig Jahre später hat sich die Lage in diesen provisorischen Zonen kaum verändert, während die Zahl der Siedlungen (in Zone C) explodiert ist: Fast 14 000 Siedler lassen sich durchschnittlich jedes Jahr in den besetzten Gebieten nieder. Im Jahr 2021 wurden 460 000 Siedler gezählt, gegenüber 110 000 zum Zeitpunkt des Osloer Abkommens. Die Osloer Verträge wurden nie zwischen zwei gleichberechtigten Partnern geschlossen, sondern waren ein Abkommen, das von einem Besatzer einem Besetzten aufgezwungen wurde, der wenig Einfluss auf die Verhandlungen hatte. Darüber hinaus waren die Formulierungen vage, mehrdeutig und zugunsten von Israel gehalten. So sahen sie beispielsweise keinen Siedlungsstopp in Gebieten vor, die den Palästinenser*innen zurückgegeben werden sollten. Folglich baute Israel die Siedlungen auch nach der Unterzeichnung des Abkommens weiter aus.

Selbst wenn die Osloer Verträge wie geplant umgesetzt worden wären, hätten sie de facto ein Palästina geschaffen, das 10 % seines historischen Territoriums umfasst hätte – fragmentiert zwischen Gaza und dem Westjordanland und mit einem „Staat“ unter ständiger Vormundschaft ohne echte Autonomie für die Palästinenser*innen. Das palästinensische Volk wäre weiterhin zersplittert gewesen zwischen den Bewohner*innen des Westjordanlandes, den innerisraelischen Vertreibungsopfern von 1948 und natürlich den Flüchtlingen.


Besatzung unter anderen Vorzeichen


Demnach hätte der Oslo-Prozess niemals dazu führen können, die nationalen Rechte der Palästinenser*innen zu wahren. Die palästinensische Führung wurde de facto von den Besatzern aufs Schild gehoben und in die Organisation der Besatzung strukturell eingebunden. Diese Verträge und der „Friedensprozess“ dienten von Anfang an dazu, die Besatzung der palästinensischen Gebiete so umzustrukturieren, wie es von Teilen der israelischen Führung seit langem geplant war.

»So wie die Osloer Verträge konzipiert waren, ermöglichten sie es faktisch den israelischen Behörden, der paradoxen Situation zu entkommen, mit der sie seit dem Krieg vom Juni 1967 konfrontiert waren, als der Staat Israel ganz Palästina besetzt hatte – das 1947 bis 1948 auf dem Papier geteilt worden war. […] Der militärische Erfolg hatte ein politisches Problem geschaffen: Israel beherbergte nun die Palästinenser*innen des Westjordanlandes und des Gazastreifens, die zu den nach 1948 in Israel lebenden Palästinenser*innen hinzukommen. Der Anspruch des Staates Israel, gleichzeitig ein „jüdischer Staat“ und ein „demokratischer Staat“ zu sein, war somit ernsthaft gefährdet.« [1]

Unter diesem Blickwinkel muss man die israelische Strategie und die hinter der Aufteilung in „Zonen“ stehende Dynamik betrachten, nämlich als Verzicht auf die Souveränität über die am dichtesten besiedelten palästinensischen Gebiete, während die Kontrolle über das Jordantal, die Uferregionen des Toten Meeres und Jerusalem – unter Ausweitung von dessen Stadtgrenzen – bestehen blieb. Die Anordnung der Siedlungen, der Verlauf der den Siedlern vorbehaltenen Straßen und die Fragmentierung des Westjordanlandes sind nichts als die konkrete Ausgestaltung dieser Strategie. Somit handelt es sich auf israelischer Seite mitnichten um einen historischen Kompromiss, sondern vielmehr um einen Reflex auf die Intifada von 1987, die die Situation der Palästinenser in den besetzten Gebieten ins Licht der Öffentlichkeit brachte, zur Delegitimierung des Staates Israel beitrug und den Nahen Osten zu destabilisieren drohte.


Die Mär vom eigenen Staat


Die auf die Osloer Erklärung folgenden Abkommen schlugen sich im April 1994 in den Pariser Verträgen nieder, in denen die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den palästinensisch „kontrollierten“ Gebieten und dem Staat Israel festgelegt wurden. De facto steht die palästinensische Wirtschaft unter israelischer Kontrolle: Einfuhrbeschränkungen, Festsetzung der Steuersätze etc. Im Jahr 1995 wurden im Taba-Abkommen, auch Oslo II genannt, die Bedingungen für die Übertragung der besetzten Gebiete an die Palästinenser (Zonen A und B) unter der Bedingung festgelegt, dass die neue palästinensische Behörde die Sicherheit der Besatzer gewährleistet, d. h. den palästinensischen Widerstand gegen die Besatzung unterdrückt. Von der Osloer Erklärung bis heute sind die zahlreichen nachfolgenden „Verhandlungen“ oder „Friedens“-Pläne – Camp David 2000, das Quartett 2002, Anapolis 2007 – alle an der Weigerung Israels gescheitert, die Existenz eines unabhängigen palästinensischen Staates auf einem Teil der historischen Gebiete Palästinas zu akzeptieren, unter dem Vorwand, dass die „Sicherheit“ nicht gewährleistet sei.

Die Osloer Verträge waren nicht nur auf die Bedürfnisse des israelischen Staates zugeschnitten, sondern behandelten die Kolonialisierung der Palästinenser*innen durch Israel wie einen symmetrischen Konflikt zwischen zwei antagonistischen Staaten: Jeder noch so geringe Gewaltakt führt zu einer „Entsprechung“ auf der Gegenseite, ohne die eklatante Ungleichheit der Opfer, Zerstörungen etc. zu berücksichtigen. Oslo machte es erst möglich, eine als provisorisch vorgesehene „Staatsform“ der Palästinenser*innen zu einer Dauereinrichtung zu machen, da die Betroffenen die für sie nachteiligen Verträge nicht widerspruchslos hinnehmen wollten. Jeder noch so kleine Vorwand wurde genutzt, um die Repressionsschraube im Namen des „Friedensprozesses“ noch stärker anzuziehen und die Kolonialisierung noch weiter auszudehnen. Wohingegen die Verpflichtungen, die Israel durch Oslo auferlegt wurden, immer situationsbezogen waren, wobei Israel frei war, die „Situation“ jeweils selbst zu bewerten, insbesondere in Sicherheitsfragen.

Diese weder hinsichtlich des politischen noch des militärischen Einflusses bestehende Symmetrie des Konflikts nutzte Israel aus, um sich international sowohl politisch als auch medial eine wohlwollende Neutralität zu verschaffen.


Ein Apartheidstaat


Seit gut zehn Jahren spricht kein Mensch mehr über diesen „Friedensprozess“ oder beruft sich auf die Roadmap, die im Osloer Abkommen festgelegt wurde. Die damalige Sichtweise wurde vielmehr in ihr völliges Gegenteil verkehrt, wobei die internationale Gemeinschaft weiterhin die Maskerade der Symmetrie zwischen zwei Lagern aufrechterhält, während der israelische Staat sich immer weiter radikalisiert.

      
Mehr dazu
Daniel Berger: Es droht eine Verschärfung der ethnischen Säuberung, die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023)
Jakob Taut: Zionismus und palästinensische Befreiungsbewegung, die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023)
Position der IV. Inter­nationale zur Palästina-Frage, die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023)
Julien Salingue: Oslo – 20 Jahre danach, Inprekorr Nr. 6/2013 (November/Dezember 2013)
Salah Jaber: Ein Rückzug unter Druck, Inprekorr Nr. 268 (Februar 1994)
Sergio Yahni und Michael Warschawski: Der Kampf wird nicht aufhören, Inprekorr Nr. 268 (Februar 1994)
Tikva Honig-Parnass: Ein „Bantustan“ entsteht, Inprekorr Nr. 268 (Februar 1994)
Jakob Taut: Das Ziel muss ein geeinigter Staat sein, Inprekorr Nr. 267 (Januar 1994)
 

»Im Jahr 2018 verabschiedete das israelische Parlament ein neues Grundgesetz mit dem Titel „Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes“, in dessen Artikel 1 es heißt: „Die Ausübung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung im Staat Israel ist dem jüdischen Volk vorbehalten“, ein Recht, das den Palästinenser*innen also verwehrt wird; ein weiterer Artikel besagt, dass „der Staat die Ausweitung der jüdischen Siedlungen als nationales Ziel ansieht und dahingehende Initiativen und Bemühungen fördern und unterstützen wird“. Das bedeutet, dass ein Recht darauf besteht, Land zu beschlagnahmen, das Palästinensern gehört. Dieser Text institutionalisiert eine Praxis, die Israel seit Jahrzehnten zu einem Apartheidstaat macht. Im Jahr 2021 kam die israelische Organisation B’Tselem zu dem Schluss, dass es „ein [rassistisch konnotiertes] Regime jüdischer Vorherrschaft zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer“ gibt. Dem schlossen sich zwei große internationale Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Human Rights Watch und Amnesty International an.« [2]

Doch trotz der faktischen Unterstützung durch die USA und Europa wird das Image Israels immer stärker getrübt: Der hartnäckige Widerstand der Palästinenser*innen hat dafür gesorgt, dass ihre Situation immer noch international beachtet wird und das Thema trotz des systematischen Vetos der USA regelmäßig bei den Vereinten Nationen und anderen UN-Arbeitsgruppen auf der Tagesordnung steht.

Die Solidaritätskampagne BDS (Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen), die von der palästinensischen Zivilgesellschaft vorangetrieben wird, konterkariert die Selbstdarstellung Israels als normale Nation. Auch wenn es nur wenige und eher symbolische Siege via Boykott und Desinvestitionen gibt, so haben sie doch Früchte getragen und die Debatte über den Kampf der Palästinenser*innen und die Ungerechtigkeit, die sie im besetzten Palästina täglich erleben, in Gang gebracht. Die Faschisierung der israelischen Gesellschaft und der Widerstand, den sie in der israelischen Zivilgesellschaft hervorruft, dürfen nicht über das Ausmaß der Kolonialisierung und das Schicksal der Palästinenser*innen unter der Besatzung hinwegtäuschen.

Dreißig Jahre später wurden die Hoffnungen, die durch die Osloer Abkommen geweckt wurden, enttäuscht. Sie zeigen bloß, wie man es nicht machen sollte. Es kann keinen „Friedensprozess“ unter Besatzung und Kolonialisierung geben.

Quelle: l’Anticapitaliste vom 7. September 2023
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Julien Salingue: Oslo – 20 Jahre danach, Inprekorr Nr. 6/2013 (November/Dezember 2013)
[2] Le Monde Diplomatique, September 2022