Palästina

Dschenin – das Bemühen um Widerstandsfähigkeit

Der wiedererstarkte Widerstand in Dschenin zeigt, dass ein kleines Flüchtlingslager mit begrenzten Möglichkeiten eine ganze Armee aufhalten und die eigene Widerstandsfähigkeit bewahren kann.

Abdaljawad Omar

Carl von Clausewitz hatte eine einzigartige Theorie der Fähigkeit zum Widerstand. Er schmähte diejenige Kriegsführung, die in tragischer Weise von den Soldaten verlangte, im Angesicht des Feindes zu sterben, statt sich zu verstecken oder sich zurückzuziehen. Er propagierte ein anderes Verständnis von Konfrontation und Rückzug, eines, das nicht die Konfrontation als wahrhaft heroischen Akt der Tapferkeit verherrlichte und den Rückzug als Akt der Feigheit beschimpfte. Clausewitz entwickelte neue Prinzipien für den Guerillakrieg, die die Fähigkeit des Widerstands, zu überleben und sich neu zu erfinden, als das entscheidende Ziel ansahen und somit die Entscheidung, zu kämpfen oder sich zurückzuziehen, als Teil desselben dynamischen Konzepts begriffen, das die Langlebigkeit des Widerstands in den Vordergrund stellte.

 

Protest in Ohio, 2021

Foto: Paul Becker

In den vergangenen zwei Jahren hat der Widerstand im Westjordanland um seine Existenz und um sein Überleben gekämpft. Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb das Flüchtlingslager Dschenin nicht nur weiter existiert, sondern auch gewachsen ist und sich weiterentwickelt hat. Einer dieser Gründe ist die unmittelbare Besorgnis, die die Entstehung der „Höhle der Löwen“ (arab.: Arîn al-Usûd) in Nablus für den israelischen Geheimdienst (Schabak, auch als Schin Bet bekannt) aufgrund der Nähe von Nablus zu den nördlichen Siedlungsblöcken im Westjordanland hervorgerufen hat, denn eine bewaffnete Präsenz in Nablus stellt eine größere Gefahr für das tägliche Leben der Siedler in diesem Gebiet dar. Deshalb konzentrierte sich die Strategie der Besatzungstruppen zur Aufstandsbekämpfung auf die Region Nablus und war zumindest anfänglich halbwegs erfolgreich bei der Eindämmung des Phänomens. Die „Höhle der Löwen“ geriet nämlich ins Wanken, zum einen wegen der Zermürbung und zum anderen wegen der Unfähigkeit, einen sicheren Zufluchtsort zu errichten, den sie mit verschiedenen Verteidigungsmitteln befestigen konnte.

Der zweite Grund für den relativen Erfolg von Dschenin liegt in den organisatorischen Beziehungen in dem Lager und in der Fähigkeit, interne Konflikte einzudämmen. Damit gelang es, den Widerstand vor Interventionen seitens der Palästinensischen Autonomiebehörde zu schützen, etwa der Verbreitung von Gerüchten, dem Schüren von Misstrauen oder sogar dem Ködern von Widerstandskämpfern. Mit anderen Worten: Das Vorhandensein bestimmter sozialer und politischer Bedingungen im Flüchtlingslager Dschenin trug zur Herausbildung eines allgemeinen sozialen Bewusstseins bei, das den Widerstand stärkte und jedem politischen Diskurs, der ihn zu untergraben versuchte, die Stirn bot.

Der dritte Grund ergab sich aus der Antwort auf die spezifische Taktik des Feindes, die bewaffneten Gruppen einzudämmen und zu besiegen (blitzartige Interventionen, bei denen in erster Linie Spezialkräfte auf der Grundlage spezifischer Informationen eingesetzt wurden). Diese Operationen, die nur sporadisch stattfanden, konnten der Widerstandsfähigkeit keine entscheidenden Schläge versetzen. Die Armee verzichtete auf großangelegte Verhaftungsaktionen in Nablus und Dschenin, weil sie ihre Soldaten nicht opfern wollte, aber auch, weil sie befürchtete, dass der Kampf auf die gesamte palästinensische Gesellschaft übergreifen würde, und weil sie vermeiden wollte, dass die von ihr durchgeführten kaltblütigen Tötungen verurteilt würden. Sondereinsatzkommandos boten sich daher als eine, wenn auch langsame Lösung an. Dies gab dem Widerstand die Möglichkeit, im Flüchtlingslager Dschenin eine ganze Infrastruktur aufzubauen.


Schwere Infanterie, heftige Bewegung


Nachdem sie die „Höhle der Löwen“ in Nablus eingedämmt hatten, wandten sich die Militäreinheiten dem Flüchtlingslager Dschenin zu und führten mehrere Operationen am Rand des Lagers und gelegentlich auch innerhalb des Lagers durch. Dabei waren sie jedes Mal mit neuartigen Widerstandsmethoden konfrontiert: immer größere Sprengfallen, heftiger Beschuss seitens des Widerstands und auch Angriffe aus dem Hinterhalt. Dies machte das Lager zu einem schwierigen Terrain, insbesondere vor dem Hintergrund der von der Armee oft gepriesenen „operativen Freiheit“, d. h. der Möglichkeit, sich überall im Westjordanland frei zu bewegen.

Aus diesem Grund wurde die jüngste Intervention zwar als begrenzte Operation heruntergespielt, aber sie erforderte dennoch den Einsatz von 1000 Soldaten, was übrigens die Truppenstärke war, die 2002 in der Schlacht von Dschenin eingesetzt wurde. Im Zusammenhang mit dieser Operation findet jedoch auch ein politischer Kampf statt, bei dem es darum geht, die Führer der Siedler zufriedenzustellen. Kurz gesagt, es gibt einen wachsenden Druck auf die Armee, so etwas wie einen Sieg feiern zu können, insbesondere was die operative Freiheit in Dschenin angeht, und die Forderungen der Siedlerführer, den Widerstand wirksam zu beenden, ohne auf bestimmte „Gesichtspunkte“ wie zivile Opfer oder die Notwendigkeit diplomatischer Absicherung mit Europa und den USA Rücksicht zu nehmen.

Diese Spannungen führten dazu, dass der Umfang der Operation heruntergespielt wurde. Daraus ergaben sich Unsicherheiten der Armee bei der Bezeichnung der Operation. Man nannte sie „Operation Haus und Garten“, um die Siedlungen im Westjordanland zu schützen, und lehnte es auch ab, ihr überhaupt einen Namen zu geben. So schwankten die Behauptungen des Armeesprechers zwischen „die Kämpfer selbst ins Visier nehmen und eliminieren“ und „Ausschaltung und Zerstörung der Infrastruktur“ (der Widerstandsgruppen).

Außerdem wurde die Operation in Dschenin von verschiedenen Spezialeinheiten durchgeführt, darunter Maglan (eine Eliteeinheit, die hinter den feindlichen Linien operiert), Egoz (spezialisiert auf Guerillakrieg) und die Duvdevan (Spezialist für verdeckte Operationen). Das heißt: Die reguläre Armee ist nicht direkt mit dem Widerstand konfrontiert.

Die Armee hat auch versucht, mit der Expertise der Operation zu werben, indem sie die enge Abstimmung mit dem Geheimdienst und seine Einbeziehung in die militärischen Einheiten sowie die ständige Luftunterstützung für die Bodentruppen und das Vermeiden direkter Konfrontation mit dem Widerstand betonte. Direkte Scharmützel sind eher für die Widerstandsgruppen von Vorteil.

Im Grunde ist die Armee bestrebt, sicheren Abstand zu wahren, der es ihr erlaubt, die Luftwaffe oder andere Formen der Feuerkraft einzusetzen, die der des Widerstands überlegen sind. So begann die Operation mit einem Luftangriff; die meisten der Gefallenen waren entweder Opfer von Luftangriffen oder von Scharfschützen. Im Grunde genommen wurde die Armee zu einer langsamen und umständlichen Streitmacht, die inmitten eines überfüllten Flüchtlingslagers Verluste vermeiden wollte. Sie war vor allem darauf ausgerichtet, jede Konfrontation mit dem Widerstand nicht zu einer Schlacht werden zu lassen.

Wir können feststellen, dass die Aufblähung der Erfolge der Armee bei der Zerschlagung der Infrastruktur des Widerstands ein Zeichen der Schwäche ist, die sich aus der Einhaltung des unmöglichen Ziels ergibt, jegliche israelischen Opfer zu vermeiden. Die wirkliche Infrastruktur des Widerstands in Dschenin sind die Kämpfer und ihr Wille zum Widerstand. Das ganze Gerede von der Aufdeckung von Bombenlabors und unterirdischen Tunneln ist lediglich ein Versuch, relativ kleine Erfolge zu schönreden, wenn man bedenkt, dass die Armee den Nahkampf mit den Widerstandskämpfern vermeidet. Die Struktur des Widerstands lässt sich nicht durch das Beschießen von vier oder fünf Häusern, die Beschlagnahmung von Sprengstoff oder die Zerstörung einiger Tunnel zerschlagen.

Die Gefahr der Operation liegt in dem, was danach kommt. Wird diese Operation die Rückkehr von Spezialoperationen im Zentrum des Lagers ermöglichen und damit dem Feind die operative Freiheit geben, die er in den vorangegangenen Monaten verloren hatte? Und: Können damit auch wieder die allmähliche Eindämmung und die Ermordungen, die gegen die „Höhle der Löwen“ eingesetzt wurden, zur Anwendung kommen? Und schließlich, werden die Ergebnisse der Operation dem Feind helfen, zukünftige Operationen auf der Grundlage der gewonnenen Erfahrungen besser zu planen?


Die Fähigkeit zum Widerstand bewahren


Offenbar profitierte der Widerstand auch von der Beschaffenheit des Lagers – innerhalb der Häuser, ober- und unterirdisch –, die es ihm ermöglichte, vorzurücken und sich zurückzuziehen. Wenn er in direkten Kontakt mit den Streitkräften geriet, erlitt er keine größeren Verluste, sondern konnte sogar einige Scharmützel in Gang setzen, bevor er sich unverletzt zurückzog.

Hinzu kommt, dass der Widerstand nach allem Anschein keine Panik, Angst oder Zögern an den Tag legt, sondern eher ein Verständnis dafür, wann eine Konfrontation zu vermeiden ist, wenn sie nicht zu seinen Gunsten ausfällt, und wie die Kampfbedingungen zu gestalten sind, um die Fähigkeit zu bewahren, Militäroperationen zu behindern oder zu verzögern.

Im Kern ist die Situation im Lager folgende: Der Widerstand vermeidet es, sich auf eine „letzte Schlacht“ einzulassen – auch wenn die Kämpfer bereit sind, alles für den Widerstand zu opfern. Mit anderen Worten, der Widerstand zeigt ein Maß an kämpferischer Flexibilität, das von Kampfreife zeugt und die Fähigkeit einsetzt, dynamisch aufzutauchen, zu verschwinden und wieder aufzutauchen. Dies ängstigt den Feind und lässt die Armee davor zurückschrecken, ihre Soldaten einem möglichen Hinterhalt auszuliefern, der große Verluste zur Folge hätte. Der Sinn der Scharmützel liegt darin, den Vormarsch der Armee zu verlangsamen und ihre Bewegung zu behindern, die Kämpfe waren schnell und kurz und dienten dem Schutz der Widerstandskämpfer.

      
Mehr dazu
Helmut Dahmer: Israel in Palästina, die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023) (nur online)
Gilbert Achcar: Erste Kommentare zur Gegenoffensive der Hamas im Oktober, die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023) (nur online)
Koordination der ISO: Palästinasolidarität. Wider die deutsche Staatsräson, die internationale Nr. 4/2023 (Juli/August 2023). Bei intersoz.org
Erklärung des Büros der Vierten Internationale: Solidarität mit den Palästinenser*innen gegen die neokoloniale Aggression, die internationale Nr. 3/2021 (Mai/Juni 2021) (nur online). Auch bei intersoz.org
Julien Salingue: Von der Nicht-Anerkennung zum „Normalisierungs­abkommen“, die internationale Nr. 3/2021 (Mai/Juni 2021)
Gilbert Achcar: Israels Rassismus, intersoz.org (18.5.2021)
Hermann Dierkes: Legitimer Protest (BDS), die internationale Nr. 4/2018 (Juli/August 2018)
Internationales Komitee der IV. Internationale: Erklärung der IV. Internationale zu Palästina, Inprekorr Nr. 3/2015 (Mai/Juni 2015)
 

Wir haben es also mit einer Verteidigungsstrategie zu tun, die sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzt, über große Flexibilität verfügt und vor allem darauf abzielt, das zu erhalten, was Clausewitz die Fähigkeit zum Widerstand nannte. Dies ist an sich schon ein Erfolg des Widerstands, auch wenn dabei kein einziger Soldat getötet wird. Er spiegelt die Tatsache wider, dass es dem Feind nicht gelungen ist, Widerstandskämpfer zu töten oder festzunehmen, und ist insofern ein Sieg, als er die militärischen Operationen im Umkreis des Lagers erschwert.

In den sozialen Medien gibt es viel Kritik an der Aktivität der verschiedenen Widerstandsbewegungen außerhalb von Dschenin, die sich nicht am Kampf beteiligen oder das Lager unterstützen. Die meisten dieser Kommentare sind Ausdruck der Angst vor der Fähigkeit der Besatzungsmacht, den Widerstand in Dschenin auszulöschen. Es ist jedoch klar, dass den Feind die Gefahr umtreibt, dass der Gazastreifen oder der Libanon in den Kampf eingreift, wenn die Schlacht weitergeht (in seinen Operationsplänen ist dies sogar als mögliches Szenario benannt).

Es ist allerdings auch klar, dass der Gazastreifen noch immer unter den Folgen der vorangegangenen Kämpfe leidet und daher versuchen wird, sich nicht an den Kämpfen zu beteiligen. Es scheint, dass das Flüchtlingslager Dschenin diese Art von Unterstützung bisher nicht benötigt – es reicht, wenn die Möglichkeit eines Eingreifens des Gaza­streifens weiter besteht.

Wir wissen nicht, was die nächsten Tage bringen werden und wie sich der bewaffnete Widerstand in Dschenin entwickeln wird. Es ist auch nicht ganz klar, ob die Bedingungen des Engagements darauf beschränkt bleiben werden, dass beide Seiten versuchen, eine direkte Konfrontation zu vermeiden, oder ob die Dinge eskalieren werden. Die letzten Tage haben aber eine Momentaufnahme des wiederauflebenden Widerstands im Flüchtlingslager Dschenin gezeigt. Das Fortbestehen dieses Phänomens wird vielen, insbesondere den gegnerischen Kräften, Sorgen bereiten, schließlich offenbart es, dass selbst ein kleines Flüchtlingslager mit begrenzten Fähigkeiten und ohne viele Unterstützung eine ganze Armee dazu zwingen kann, im Schneckentempo vorzurücken.

6. Juli 2023
Dieser Artikel erschien zuerst auf Arabisch auf 7iber.com und wurde von Mondoweiss mit Genehmigung ins Englische übersetzt.
Übers. aus dem Englischen: Jakob S.



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2023 (September/Oktober 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz