Buchbesprechung

Legitimer Protest

Plädoyer für einen kulturellen und akademischen Boykott Israels von Eyal Sivan/Armelle Laborie Promedia Verlag, Wien 2018, 184 Seiten, 17,90 €

Hermann Dierkes

Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Büchern und Artikeln zu der palästinensischen zivilgesellschaftlichen Kampagne BDS auch im deutschen Sprachraum. Das aktuelle Buch von Eyal Sivan und Armelle Laborie, „Legitimer Protest“, zunächst 2016 in Frankreich erschienen, widmet sich einem wichtigen Zweig von BDS, der Kampagne PACBI (Akademischer und kultureller Boykott Israels), die noch weniger bekannt ist. PACBI war 2004 der Starter für die ein Jahr später aus der palästinensischen Zivilgesellschaft hervorgegangenen und breiter angelegten Kampagne BDS (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen). BDS hat inzwischen, quasi als Sammelbegriff für beide Kampagnen, einen großen internationalen Bekanntheitsgrad gewonnen – nicht zuletzt durch die Gegner der hinter diesen Kürzeln stehenden Ideen und Aktionen. Das Buch über PACBI liegt nun auch auf Deutsch vor.

Zahlreiche Akademiker unterstützen inzwischen den Boykott israelischer Universitäten und Institutionen, obwohl sie damit oftmals Stellung und Karriere riskieren. Es geht darum, die Beziehungen zu diesen abzubrechen, wenn und solange diese die Besatzung von Palästinensergebiet, Landraub und Unterdrückung schönreden, verschweigen oder praktisch durch militärische F&E-Aufträge unterstützen. Ähnlich ist das Herangehen von PACBI an die Kulturszene. Alle Aktivitäten/Auftritte, die von staatlichen Geldern gefördert werden, bei denen Kulturschaffende sich vertraglich gegenüber offiziellen Instanzen binden müssen, als „Botschafter Israels“ aufzutreten oder die – soweit es sich um internationale Künstler handelt – zur sog. „Normalisierung (von Besatzung, Unterdrückung und Apartheid) beitragen sollen, sollen boykottiert werden. Weltbekannte Künstler sagen inzwischen Auftritte in Israel ab, wie zuletzt Gilberto Gil und Shakira, nachdem sie angesichts des letzten Gaza-Massakers von der PACBI-Kampagne und zahlreichen Menschen dazu aufgefordert worden war. Hunderte Filmschaffende (so auf dem Filmfestival in Cannes) prangern die Unterdrückung der Palästinenser und die undemokratische, ausgrenzende Kulturpolitik in Israel selbst an. Anfang Juni griff Roger Waters (Ex-Pink-Floyd) auf seinen ausgebuchten Konzerten in Berlin die in der Bundesrepublik laufenden Versuche an, die BDS-Kampagne gegen Israel im Namen des „Kampfes gegen Antisemitismus“ zu verunglimpfen und zu bekämpfen. Waters, dem 2017 die Übertragung einer Konzertaufzeichnung von deutschen Sendern wegen seines angeblichen Antisemitismus verweigert worden war, nahm sich den unlängst von der Bundesregierung ernannten Antisemitismus-Beauftragten Klein vor. Der Kampf gegen Antisemitismus, so Waters, sei wichtig und unterstützenswert. Er dürfe sich aber nicht gegen die berechtigten Forderungen der Palästinenser und die Erklärung der Menschenrechte von 1948 richten. Roger Waters unterstützt seit Jahren engagiert und couragiert die Solidaritätsbewegung mit Palästina, namentlich die BDS-Bewegung, die sich ausdrücklich an den Kampf gegen Apartheid-Südafrika anlehnt. Soeben hat die argentinische Fußball-Nationalmannschaft ein Freundschaftsspiel mit Israel abgesagt, nachdem die Palästinenser und Menschen aus aller Welt dies gefordert hatten aus Protest gegen die brutale Verletzung, die israelische Scharfschützen einem hoffnungsvollen Nachwuchs-Fußballer aus Gaza im Rahmen des Massakers gegen unbewaffnet Protestierende zugefügt hatten.


BDS/PACBI wirken


BDS/PACBI bereiten der rechtslastigen israelischen Regierung erhebliches Kopfzerbrechen. Nachdem BDS zunächst heruntergespielt wurde, ja sogar von Netanjahu selbst für tot erklärt worden war, sieht sich das Kabinett inzwischen veranlasst, Dutzende Millionen Euro in die Entwicklung von Gegenstrategien zu stecken, massiv die Botschaften einzuspannen, ein bezahltes und freiwilliges Bekämpfungsnetzwerk aus angeblichen „Freunden Israels“ (die sog. Hasbara) bis hin zu evangelikalen, faschistoiden und offen antisemitischen Kreisen zu stricken, das Regierungen, Parlamente, Institutionen und Medien weltweit auf die Regierungslinie Israels bringen soll.

Fühlbar sind inzwischen wirtschaftliche Auswirkungen und empfindliche „Prestige-Verluste“. Mit den letzten Beschlüssen der Merkel-Regierung und der so gut wie einstimmigen Positionierung des Bundestags gegen BDS muss leider festgestellt werden, dass die Propaganda-Offensive der israelischen Regierung und ihrer Lobby auf offizieller Ebene Erfolge erzielt hat, obwohl es die Mehrheit der Bevölkerung anders sieht. Je offener die repressive Kolonial- und Apartheidpolitik-Politik Israels zutage tritt und auch in der breiten Öffentlichkeit so wahrgenommen wird, umso unverschämter hält die deutsche Mainstream-Politik die Hand darüber, beschwört Freundschaft und „gemeinsame Werte“. Dutzende Veranstaltungen, die sich kritisch mit der israelischen Politik auseinandersetzen wollten, wurden inzwischen massiv behindert, Ratsbeschlüsse wie in München und Frankfurt grenzen Kritiker im Namen des „Kampfes gegen Antisemitismus“ aus – unter ihnen reihenweise jüdische bzw. israelische! Was nur beweist, dass es sich um eine politische Auseinandersetzung handelt und nicht um „Rassismus/Antisemitismus“.


Es geht längst um mehr


Damit ist aber auch klar, dass die Bedeutung von BDS längst über die Frage Israel/Palästina hinausgewachsen ist, wie die Autoren zu Recht feststellen. Es geht nicht mehr allein darum, sich mit den geschundenen Palästinensern zu solidarisieren, sondern in der Tat um die Verteidigung von Demokratie und Völkerrecht. Nicht nur gegen den israelischen Kolonialismus, sondern auch gegen die Trump, Macron, May, Merkel, Nahles, Scholz, Söder und Co., die nicht nur umfangreiche Waffengeschäfte und Handel von „Sicherheitstechnologie“ zwischen Israel und ihren jeweiligen Ländern absegnen, sondern auch die an den Palästinensern erprobten Repressionsmethoden schleichend bis galoppierend übernehmen (die Runderneuerung von Landespolizeigesetzen lässt grüßen!). Sie verraten – wieder einmal – die eigenen „Verfassungswerte“ – aus Verantwortung vor der Geschichte versteht sich ...

Umso wichtiger ist es, dass über die Ziele, Mittel und Methoden von PACBI und BDS immer wieder wahrheitsgemäß aufgeklärt wird (im Anhang zum Buch sind die Aufrufe für PACBI und BDS sowie die Leitlinien zu ihrer Umsetzung von PACBI dokumentiert). Umso wichtiger ist es, einer breiteren Öffentlichkeit die Ziele, Mittel und Methoden des israelischen Macht- und Propaganda-Apparats aufzudecken.


Eine politische Kriminalgeschichte


Das Buch von Sivan/Laborie leistet dazu einen hervorragenden Beitrag. E. Sivan ist israelischer Regisseur und lebt in Frankreich. A. Laborie ist eine französische Filmproduzentin. Kenntnisreich, detailliert, gut strukturiert und engagiert für die Sache der Palästinenser und der demokratischen Rechte und „ohne Angst vor Königsthron“ (BDS-Unterstützung kann in Israel inzwischen zivilrechtlich verfolgt werden, soll auch strafrechtlich relevant werden und gilt als „Verrat“. In Frankreich wurden in den letzten Jahren mehrmals BDS-Unterstützer verurteilt) sprechen die beiden Autoren Klartext. Streckenweise liest sich das Buch nicht nur wie ein Krimi – es ist eine politische Kriminalgeschichte! Gestützt auf eine Fülle von Fakten, Beweisen und Zitaten analysieren die Autoren die Gegenstrategien des israelischen Macht- und Propaganda-Apparats.

So zitieren Sivan/Laborie aus dem (kulturpolitischen) Arbeitsprogramm der israelischen Regierung für das Jahr 2011. Danach gehören zu den Hauptzielen des Außenministeriums: „Die Delegitimierung bremsen; israelfreundliche Aktivisten im Internet mobilisieren; den Schwerpunkt auf den Auftrag israelischer KünstlerInnen im Ausland, insbesondere an Design-Ausstellungen und Messen in Europa, legen und Schauspiele mit israelischer Kultur produzieren, die sich an ausländische Universitäten richten, um dem liberalen Publikum die kulturelle Vielfalt und geistige Offenheit Israels zu zeigen“.

Besser, so die Autoren, ließe sich die Bedeutung der Kultur in der israelischen Auslandspropaganda nicht beschreiben. Das alles hat allerdings mit legitimer Werbung für Staat und Gesellschaft nichts zu tun, es handelt sich um planvolle Aktivitäten zur Rechtfertigung, Vertuschung und Verewigung von kolonialer Herrschaft.


Gegenstrategien und Maßnahmen


Gestützt auf akademische Ausarbeitungen, loyale Wissenschaftler, Geheimdienste und Marketing-Strategen zielen diese Maßnahmen bewusst darauf ab, die koloniale und repressive Realität in Israel und den geraubten Gebieten „weißzuwaschen“, der internationalen Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen und schwerwiegende Eingriffen in die demokratischen Strukturen anderer Länder zu organisieren. Die Besatzung und Annexion werden gerechtfertigt, die inneren – sozialen und kulturellen - Widersprüche des Landes werden verkleistert, Israel wird ein sympathisches „Nation Branding“ (z.B. mit der liberalen LGBT-Szene in Tel Aviv) verpasst; kulturelle Aktivitäten und entsprechende internationale Auftritte werden gezielt im Interesse des Staates eingesetzt, ausgewählte Autoren, Kultur- und Filmschaffende (in aller Regel privilegierte jüdische und keine arabischen Israelis), die sich mal ein kritisches Wort gegenüber der Besatzung erlauben, aber die grundlegenden zionistischen Staatsdogmen niemals infrage stellen, werden international platziert, um damit die „lebendige Demokratie Israels“ zu beweisen; die Berufung auf grundlegende demokratische und Freiheitsrechte wird systematisch untergraben, ihre Unterstützer verleumdet, um ihre berufliche Existenz gebracht; kritische Politiker (prominentestes Beispiel: Labour-Vorsitzender Jeremy Corbyn) sollen aus dem Weg geräumt werden. All dies tue man, um die „Zerstörung Israels“ zu verhindern. Dagegen zitieren die Autoren den Mitbegründer von PACBI und BDS, Omar Barghouti: „Wenn Freiheit, Gerechtigkeit und gleiche Rechte für alle die Zerstörung Israels bedeuten, was sagt das über Israel aus?“

Sivan/Laborie behandeln auch eine Reihe von Einwänden gegen PACBI/BDS und widerlegen diese. So richtet sich PACBI/BDS eindeutig nicht gegen Individuen, gegen ihre Herkunft, ihre Religion oder ihre politischen Einstellungen. Die Zusammenarbeit mit Gegnern der offiziellen israelischen Politik ist im Gegenteil ausdrücklich erwünscht.


Kolonialismus hat auf Dauer keine Chance


      
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Eins dürfte nach der Lektüre dieses verdienstvollen Buchs klar werden: Die brutale Wirklichkeit eines Apartheid- und Besatzerstaats kann auf Dauer auch nicht mit wechselnden Strategien des Verleugnens, der Manipulation, Sympathie-Werbung und immer neuen Verschönerungsbegriffen vertuscht werden. Die dahinter stehende Angst, dass – wie bei Südafrika – Entwicklungen eintreten können, die irgendwann einmal ganz schnell die „Firewall gegen die Delegitimierung“ Israels zum Einsturz bringen, ist mit Händen zu greifen. Natürlich geht es nicht um Israel an sich oder den jüdischen Teil der israelischen Bevölkerung. Es geht um die Aufgabe des zionistischen Staatsdogmas und seiner – dem Völkerrecht hohnsprechenden – kolonialen und Apartheid-Praxis. Es geht darum, für beide Völker – Israelis und Palästinenser – einen Weg in eine friedliche und gerechte Zukunft zu bahnen. Jedes neue Massaker an den um ihre Existenz und Zukunft kämpfenden Palästinensern, jede Verhaftung und Verteilung von Jugendlichen wie der tapferen Ahed Tamimi, jeder weitere Abbau von demokratischen Rechten in Israel selbst stellt die letzte Kolonialmacht der Erde bloß, wie den Märchenkaiser mit seinen angeblich „neuen“ Kleidern.

Dem Buch ist weite Verbreitung und politische Wirksamkeit zu wünschen.


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2018 (Juli/August 2018). | Startseite | Impressum | Datenschutz