Ökonomie

Der Kapitalismus am Anschlag

Das Komitee zur Streichung der illegitimen Schulden (CADTM) führte am 14. Juni das folgende Interview mit Eric Toussaint.

Interview mit Eric Toussaint

 CADTM: Befindet sich der Kapitalismus in der Krise?

Eric Toussaint: Ja, alle Warnsignale stehen auf Rot, als da wären: Ein außerordentlich starker wirtschaftlicher Abschwung (Stagnation in der Eurozone im letzten Quartal 2022 und im ersten Quartal 2023), ohne dass dadurch die Treibhausgasemissionen und die sonstigen Umweltschäden rückläufig wären; dramatische Auswirkungen der Umweltkrise, insbesondere in Hinblick auf das Klima; ein sehr starker Anstieg der öffentlichen und privaten Schulden; hohe Inflation und Kaufkraftverlust der unteren Einkommensschichten; zunehmende prekäre Beschäftigung; explosionsartige Zunahme der Ungleichheiten mit kolossalem Anstieg des Vermögens und der Einkommen des reichsten Prozents; Rückgang des Index der menschlichen Entwicklung, insbesondere der Lebenserwartung, in vielen Ländern einschließlich des Nordens; verschärfte Handelskriege; schwere weltweite Ernährungskrise; Kriege in Europa, auf der arabischen Halbinsel, im Osten der DR Kongo, im Sudan, am Horn von Afrika etc.; Zunahme autoritärer Regierungsformen (immer härtere Unterdrückung von Protesten, Ausschaltung der Legislative etc.); Angriffe auf grundlegende Menschenrechte wie das Recht auf Abtreibung; immer restriktivere und tödlichere Einwanderungspolitik; Wahlerfolge der extremen Rechten etc.

Der einzige sehr stark expandierende Wirtschaftssektor ist der Rüstungssektor. Es handelt sich um eine große Krise des globalisierten kapitalistischen Systems, die größte Krise seit denen der Jahre von 1914 bis 1945.

 In welcher Phase der Krise befindet sich die Weltwirtschaft?

Es ist noch kein Licht in Sicht, vielmehr stehen weitere Verschärfungen bevor: Spekulationsblasen können jederzeit platzen und zu einer drastischen Verschlechterung der Wirtschaftslage führen; es kann zu noch schwereren Kriegshandlungen als heute kommen; Klima- und Umweltkatastrophen werden sich wahrscheinlich noch verschlimmern; Gesundheitskrisen sind noch lange nicht überwunden; Regierungen und Zentralbanken ergreifen keine relevanten Maßnahmen zur Überwindung der Krise, die den Menschen zugute kämen, im Gegenteil; die Konzentration der strategischen Produktionsmittel und des Finanzwesens in den Händen einer immer kleineren Zahl privater Großaktionäre hält weiter an, und zwar im Energiesektor, in der Rohstoffindustrie, im Handel mit Lebensmitteln und anderen Rohstoffen, in der Pharmaindustrie, im Bankensektor etc.

 Was sind die Ursachen dafür?

Trotz der enormen Anhäufung von Reichtum durch das reichste Prozent, trotz der kolossalen Gewinne etlicher Konzerne, vor allem in den Bereichen Energie, Lebensmittel, Big Pharma, Schifffahrt, Rüstungsindustrie etc. steigt die Profitrate im Ganzen nicht stark genug, um das Großkapital wieder zu umfassenden produktiven Investitionen zu veranlassen.

Man darf nie aus den Augen verlieren, dass das Kapital nach der Maximierung der Profitrate strebt. Wenn ihm dies nicht gelingt, konzentriert es sich vorwiegend auf die Spekulation. Dies ist Teil der inhärenten Widersprüche des kapitalistischen Systems.

Abgesehen von sehr großen Unternehmen, die außerordentliche Gewinne erzielen, indem sie Krisen wie die Pandemie-, Energie- oder Kriegskrise ausnutzen, steht die Masse der Unternehmen trotz verschärfter Ausbeutung und Prekarisierung der Arbeitskraft einer fallenden Profitrate und einer sinkenden Produktivität gegenüber.

Auch auf der Seite des Warenangebots gibt es ein Problem: Es kam zu Unterbrechungen der Lieferketten im Zusammenhang mit dem Lockdown während der Corona-Pandemie in den Jahren 2020/21 (in China gar bis einschließlich 2022). Die Halbleiterindustrie, deren Produktion auf wenige Länder konzentriert ist, hat Produktionsprobleme und kann die Nachfrage kaum befriedigen. Dieses Phänomen wird durch den Handels- und Technologiekrieg zwischen den USA und China verschärft (da Washington momentan immer aggressiver wird und versucht, die wirtschaftliche und kommerzielle Expansion Chinas einzudämmen).

 

Geschlossene Brotfabrik

Buffalo (NY / USA), Foto: Andre Carrotflower

Im Immobiliensektor ist das Angebot im Verhältnis zur zahlungsfähigen Nachfrage inzwischen zu groß. Erneut wurde gemessen an der Nachfrage zu viel in den Neubau von Immobilien investiert, gerade in den USA, Großbritannien und China. Besonders macht sich dies bei den Gewerbeimmobilien (Büros, Geschäfte etc.) bemerkbar. In den Jahren 2018 bis 2022 hat sich eine Spekulationsblase entwickelt und eine neue Immobilienkrise nach sich gezogen.

Die Politik der Regierungen und Zentralbanken, massive Liquiditätsspritzen und eine rasche Erhöhung der Schulden, haben neue Finanzblasen verursacht und/oder aufrechterhalten. Besonders deutlich zeigt sich das bei der Börsenkapitalisierung, auf dem Markt für Schuldtitel, im Immobiliensektor vieler Länder, auf dem Rohstoffmarkt und bei den Kryptowährungen. Der 180-Grad-Schwenk der Politik seit 2022 von Quantitave Easing (QE) zu Quantitave Tightening (QT, Straffung der umlaufenden Geldmengen) führt zu großer finanzieller Instabilität und insbesondere zu Bankenpleiten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Entscheidung der Regierungen und Zentralbanken, die Zinssätze unter anderem zur Bekämpfung der Inflation zu erhöhen, zu Stagnation (oder sogar zu einer möglichen Rezession) und Finanzkrisen führt, ohne dass es dadurch gelingt, die Inflation wesentlich zu senken. Es ist möglich, dass die Finanzkrise, die bereits den Zusammenbruch mehrerer Kryptowährungsunternehmen im Jahr 2022 und den Zusammenbruch von vier großen Banken in den USA und Europa im März 2023 verursacht hat, wieder hochkocht und es zu weiteren Bankenpleiten oder finanziellen Einbrüchen in anderen Bereichen wie den Börsen, dem Immobiliensektor, insbesondere dem gewerblichen, dem Anleihenmarkt etc. kommt.

 Lässt sich von einer neuen Schuldenkrise des Südens sprechen?

Eine neue Schuldenkrise trifft eine ganze Reihe von Ländern des Südens, sei es in Asien (Sri Lanka, Pakistan, Bangladesch etc.), Subsahara-Afrika (Ghana, Sambia etc.), Nordafrika (Tunesien, Ägypten etc.), im Nahen Osten (Libanon etc.), in Lateinamerika (Argentinien) oder in der Karibik (Puerto Rico, Kuba etc.). Einige dieser Länder sind zahlungsunfähig oder haben, wie Sri Lanka, ihre Zahlungen bereits eingestellt. Weitere Zahlungsausfälle sind wahrscheinlich.

In der Regel wird eine Krise durch eine Reihe externer Schocks ausgelöst, die die Volkswirtschaften des Südens schwer treffen. Diese externen Schocks sind die Folge von Maßnahmen und Ereignissen, die aus dem Norden stammen:

  1. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie, die im Norden (China, Europa, Nordamerika) begann und sich dann in den Süden ausbreitete, auf die Verschuldung liegen auf der Hand: Erhöhung der Staatsverschuldung, um die Bekämpfung der Pandemie zu finanzieren, und Rückgang der „harten“ Währungsreserven, die unerlässlich sind, um die Tilgung der Auslandsschulden zu tätigen, oder der drastische Einbruch des Tourismus in den Jahren 2020 bis 2022, von dem einige Länder, wie Sri Lanka und Kuba, wirtschaftlich abhängig geworden sind.

  2. Die Auswirkungen des durch die russische Invasion in der Ukraine ausgelösten Krieges: Massiver Anstieg der Preise für Getreide und chemische Düngemittel, während eine ganze Reihe von Ländern des Südens zu Nettoimporteuren von Getreide wurden, da Organisationen wie die Weltbank und der IWF sowie die Regierungen des Nordens (mit Duldung der Regierungen der Länder des Südens) sie dazu drängten, die Produktion anderer Agrarprodukte voranzutreiben (tropische Früchte, Kaffee, Tee, Baumwolle, genmanipuliertes Soja als Viehfutter etc.). Durch diesen starken Preisanstieg für importiertes Getreide schrumpften die finanziellen Reserven zur Schuldenbedienung oder es mussten unhaltbare neue Schulden aufgenommen werden, um weiterhin importieren zu können. Der Krieg in der Ukraine hat auch zu einem Anstieg der Brennstoffpreise geführt, und eine ganze Reihe von Ländern des Südens sind Brennstoffimporteure. Für Länder wie Ägypten, Sri Lanka und Tunesien, die sowohl Getreide als auch Brennstoffe importieren, ist die Schuldensituation unhaltbar geworden.

  3. Dritter großer externer Schock: die Auswirkungen des Klimawandels und der Umweltkrise. Dies gilt insbesondere für Pakistan, das 2022 Opfer einer Flutkatastrophe wird.

  4. Vierter großer externer Schock: Der Anstieg der Kosten für die Refinanzierung der Schulden, der durch die einseitige Entscheidung der US-Notenbank, der Europäischen Zentralbank und der Bank of England ausgelöst wurde, die Zinssätze ab 2022 deutlich zu erhöhen. Die Länder des Südens, die vor dem Jahr 2021 Kredite zu 3 bis 6 % Jahreszins aufgenommen haben, sind nun mit einem drastischen Anstieg der Zinsen konfrontiert, die für neue Kredite 9 bis 15 % betragen. Auch dies ist unhaltbar.

 Der IWF soll sich gewandelt haben. Was ist davon zu halten?

Die Politik des IWF hat sich nicht geändert, ebenso wenig wie die der Weltbank. Sie sind genauso unheilvoll wie in der Vergangenheit. Und da viele Länder des Südens gerade erst IWF-Kredite in Anspruch genommen haben, müssen sie verstärkt neoliberale politische Maßnahmen gegen die Interessen der Bevölkerung umsetzen.

      
Mehr dazu
Michael Roberts: Zum Verhältnis von Lebenshaltungskosten und Profiten, die internationale Nr. 5/2023 (September/Oktober 2023)
Interview mit Brett Christophers: Asset-Management-Unternehmen, die internationale Nr. 5/2023 (September/Oktober 2023)
Claude Serfati: Ein Krieg mit anderen Mitteln, die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023)
 

In diesem Zusammenhang ist es umso wichtiger, den Aufruf des CADTM zur Durchführung eines Gegengipfels in Marrakesch vom 12. bis 15. Oktober 2023 anlässlich der Jahrestagung des IWF und der Weltbank zu unterstützen.

 Inwiefern sprichst du von dieser Krise als der schlimmsten seit 1945?

Nach 1945 gab es keine derart umfassende und facettenreiche Krise wie die aktuelle. Die Umweltkrise und ihre Auswirkungen auf das Klima haben ein bisher nicht gekanntes Ausmaß angenommen, wobei sie wohlgemerkt das Ergebnis des seit zwei Jahrhunderten herrschenden Systems der kapitalistischen Produktionsweise sind. Innerhalb von zwei Jahrhunderten hat diese Produktionsweise das Leben auf dem Planeten tiefgreifend beeinträchtigt und verschlechtert, und wir sind an einem absolut kritischen Punkt angelangt. Hinzu kommt die Gesundheitskrise, die wir gerade erst überstanden haben, die jedoch stets wieder aufflackern kann. Diese Gesundheitskrise hat mehr als 7 Millionen Menschen das Leben gekostet. Ihr Ausmaß hängt auch mit dem kapitalistischen System selbst zusammen. Außerdem ist das Atomwaffenarsenal im Vergleich zu 1945 gewachsen und das Ausmaß der internationalen Spannungen kann zu einem Holocaust führen. Auch nach anderen Kriterien ist die kapitalistische Krise tatsächlich die schwerste seit 1945, insbesondere weil die Wirtschaft schwächelt. Daneben erleben autoritäre und gewaltbereite Regierungsformen auf allen Kontinenten unterschiedlich starken Auftrieb. Der weltweite Anstieg rechtsextremer Kräfte ist der stärkste seit 1945. Menschenrechtsverletzungen häufen sich, insbesondere was Einwanderung und Recht auf Asyl anlangt. Angesichts dieser Entwicklungen dürfen wir nicht untätig bleiben, sondern müssen unsere Anstrengungen für eine echte Revolution zur Befreiung der Menschen deutlich verstärken.

Eric Toussaint ist Vorsitzender und Gründungsmitglied des Comité pour l‘Annulation de la Dette du Tiers Monde (CADTM) Belgien, Mitglied im Internationalen Rat des Weltsozialforums und im Internationalen Komitee der Vierten Internationale
Quelle: www.cadtm.org
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2023 (September/Oktober 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz