Ukraine

Schuldenerlass für die Ukraine

Das folgende Interview mit Julija Jurtschenko wurde am 12. Mai veröffentlicht. Die Fragen stellte João Biscaia.

Interview mit Julija Jurtschenko

 João Biscaia: Sie sind knapp eine Woche vor der russischen Invasion in die Ukraine zurückgekehrt und erst kürzlich wieder nach London abgereist. Warum haben Sie sich zunächst entschieden, in der Ukraine zu bleiben?

Julija Jurtschenko: Ich war mit einer britischen Delegation von Journalist*innen und Gewerkschafter*innen bis zum 22. Februar in der Ukraine. An diesem Tag unterzeichnete Wladimir Putin das Dekret, in dem er die Unabhängigkeit der separatistischen „Republiken“ in der Ostukraine anerkannte. Es war klar, dass ein Krieg bevorstand, aber ich entschied mich, zu bleiben. Und in gewisser Weise war ich geschockt. Ich wollte nicht glauben, dass es zu einer Invasion kommen könnte, da dieser Krieg absoluter Wahnsinn ist und auch Russland viel dabei verliert.

Ich blieb nicht nur in der Ukraine, weil ich bei meiner Familie sein wollte, sondern auch, weil ich wissen wollte, was passieren würde und wie ich helfen konnte. Am 24. Februar, als die Bombenangriffe begannen, floh ich mit einem Freund und seiner Familie aus Kiew. Er blieb in der Region Kiew und ich ging nach Winnyzja.

 Was haben Sie in den Monaten gesehen, in denen Sie in Winnyzja waren?

Vom ersten Tag an spürte ich, dass die Lage beängstigend war. In der ersten Woche waren alle geschockt und versuchten, die Situation zu verstehen. Niemand konnte schlafen. Da Winnyzja im westlichen Teil der Zentralukraine nahe Moldawien liegt und sich ein Großteil des Konflikts auf andere Regionen konzentrierte, wurde es mit der Zeit ruhiger, obwohl die Stadt und ihre Vororte hier und da bombardiert wurden.

In den ersten Wochen gab es oft Bombenalarm. Und da die Absichten Russlands nicht klar waren, war die Lage sehr schwierig. Das ganze Land war in Aufruhr. Man musste rennen und Treppen hinabsteigen, um sich im Keller des Hauses zu verstecken. Meine Mutter hat Herz-Kreislauf-Probleme und ist außerdem ein ziemlich emotionaler Mensch, daher war sie von der ganzen Situation, den Sirenen und dem Lärm der Militärflugzeuge sehr verwirrt. Ich hatte Angst, dass sie einen weiteren Schlaganfall erleiden und keine richtige medizinische Versorgung erhalten würde. Es gab zahlreiche Tote unter der Zivilbevölkerung aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung: Krebstherapien wurden unterbrochen und Medikamente für Herz-Kreislauf-Erkrankungen fehlten. Viele Frauen hatten Fehlgeburten.

Mein Freund, mit dem ich aus Kiew geflohen war, lebte mit seiner Familie unter russischer Besatzung. Als ihm erneut die Flucht gelang und er mit seiner Familie in die Westukraine kam, wurde bei einer seiner Töchter eine Bauchfellentzündung diagnostiziert und sie musste notoperiert werden. Glücklicherweise passierte dies nicht, als sie unter der Besatzung standen und russische und tschetschenische Soldaten vor ihrer Tür standen.

 Wie hat sich in einer Stadt, die nicht einmal direkt von Kriegshandlungen betroffen war, der Alltag verändert?

Da es in Winnyzja relativ ruhig geblieben ist und kaum gekämpft wird, kommen viele Binnenflüchtlinge, und viele Verletzte werden dorthin geschickt. Dies bedeutet, dass die Krankenhäuser überlastet sind, ebenso wie die Hotels und der Wohnungssektor. Einige Menschen schlafen in den Bahnhofshallen und warten auf eine Bleibe. Andere wurden in Schulen oder Universitätsschlafsälen untergebracht.

Zwangsläufig musste der soziale Alltag vieler Städte umorganisiert werden. Lwiw zum Beispiel hat viele Vertriebene aufgenommen. Schätzungen zufolge hat sich die Bevölkerungszahl von Lwiw fast verdoppelt. Dies schafft natürlich Probleme für die lokale Infrastruktur und die Versorgung mit Dienstleistungen – mit entsprechenden sozialen Spannungen. Ein Taxifahrer erzählte mir kurz vor meiner Abreise, dass viele Taxifahrer aus anderen Städten mit ihren Autos nach Winnyzja gekommen seien, um dort zu arbeiten. Dies schafft mehr Konkurrenz zwischen den Fahrern und drückt auf die Fahrpreise.

Es gibt viele interessante, aber auch unangenehme, Entwicklungen. Eine meiner Kolleginnen, Aljona Ljaschewa, die ebenfalls der Sozialnyj Ruch (Soziale Bewegung) angehört, hat den Immobilienmarkt und die Auswirkungen der Flüchtlingsströme auf die Mieten in Lwiw und anderen Grenzstädten untersucht. Einige Vermieter nehmen Flüchtlinge und Vertriebene großzügig auf, andere wiederum verdoppeln oder verdreifachen die Mieten. Erpressung und Spekulation gehören zum Alltag.

Letztlich wurde das Leben völlig auf den Kopf gestellt. Schienen- und Straßenwege wurden unterbrochen und dadurch die Versorgung mit bestimmten Waren und Dienstleistungen erschwert. Fliegeralarm beeinträchtigt den normalen Betrieb vieler Dienstleistungen. Laut Gesetz dürfen keine Verwaltungsbüros geöffnet bleiben, wenn der Alarm losgeht. Überall gibt es Kontrollpunkte, in vielen Städten herrscht Ausgangssperre.

Auch das Bildungswesen leidet stark. Obwohl Lehrer- und Schüler*innen nach zwei Jahren Pandemie an Fernunterricht gewöhnt sind, hat der Krieg in den verschiedenen Regionen zu ganz unterschiedlichen Folgen geführt. In Polen oder Deutschland gibt es Jugendliche, die am Fernunterricht teilnehmen, aber es gibt auch Jugendliche in der Ukraine, die monatelang keinen Unterricht hatten. Ganz zu schweigen von dem psychischen Stress, der damit verbunden ist, in einem Kriegsgebiet zu leben, und trotz aller Bemühungen, Kindern und Jugendlichen ein Gefühl der Normalität zu vermitteln.

 Haben Sie auch positive Dinge erlebt?

Die Situation war für alle schwierig und wir werden die wahren Auswirkungen dieses Krieges erst später erleben. Trotz allem habe ich auch viel Solidarität gesehen. Ich bekam Nachrichten aus dem ganzen Land und von unserem Aktivistennetzwerk, die von außergewöhnlicher Solidarität zeugen. Die Menschen gaben ihr letztes Geld, spendeten Kleidung, Lebensmittel oder Medikamente oder öffneten ihre Häuser für die Flüchtlinge. Eisenbahner halfen dabei, Menschen aus Orten zu holen, die tagelang heftigen Bombenangriffen ausgesetzt waren, wobei viele ihr Leben dabei verloren.

Die letzten Monate waren hart, aber es gab auch viel Verbindendes. Ein starkes Gemeinschaftsgefühl hat sich entwickelt durch die Netzwerke und Initiativen zur gegenseitigen Unterstützung, die es seit 2013 oder 2014 gibt, parallel zu anderen, die noch im Aufbau sind. Die Ukrainer*innen erleiden ein kollektives und geteiltes Schicksal, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Diejenigen, die schnelles Geld verdienen wollen, erfahren wenig Respekt. Es ist ein Gefühl der gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft des Landes entstanden, und das wird auch so bleiben.

Verschiedene Bürgerinitiativen, deren Aktivist*innen freiwillige Arbeit leisten, zeigen, dass die Menschen dort Verantwortung übernehmen können, wo der Staat abwesend ist oder versagt. Sie führen direkte politische Aktionen durch und reagieren aktiv auf auftretende soziale Probleme. Und das schafft ein Gefühl des Vertrauens, das dazu beiträgt, die Vorstellung zu widerlegen, dass die ukrainische Gesellschaft machtlos ist und von Bürokraten und Oligarchen regiert werden muss. Es reicht nicht aus, auf die Straße zu gehen, um zu protestieren und bloß Politiker an der Regierung auszutauschen. Man muss die Ärmel hochkrempeln und sich an die Arbeit machen. Die Menschen merken das und das ist außergewöhnlich.

Ich hoffe, dass dies auch nach dem Ende des Krieges so bleiben wird. Die Bürgerinitiativen, die auf lokaler oder regionaler Ebene staatliche Aufgaben übernehmen, müssen von offizieller Seite unterstützt werden, damit sie bestehen können, denn sie wissen, was sie tun, und machen es gut: Wälder roden, kommunale Tierheime betreiben oder sich um ältere Menschen kümmern. Wir müssen dezentrale Verwaltungssysteme fördern, die Machtmissbrauch verhindern, zumindest auf regionaler Ebene. Das gibt mir Hoffnung.

 Glauben Sie, dass die „westliche“ Presse die Ursachen und die Bedeutung dieses Konflikts unterschätzt hat?

Es gibt sicherlich ein falsches Verständnis von der Ukraine. Selbst die wohlmeinendsten Kommentatoren, Aktivisten oder Politologen übersehen, dass Russland nicht die Sowjetunion ist. Russland wird noch immer als Gegengewicht zu den USA betrachtet. Die Sowjetunion war ein ideologisches Gegengewicht, aber Russland ist es nicht.

Die Russische Föderation – man muss sie bei ihrem vollen Namen nennen – ist eine Föderation zahlreicher Regionen, die Rechte übertragen bekommen haben, aber durch den russischen Imperialismus – von den Zaren bis zur UdSSR – in Eurasien zu einem Teil dessen geworden sind, was international als Russland bekannt ist. Ich gehöre nicht zu jenen Intellektuellen, die sagen, dass die UdSSR wie das imperiale, zaristische Russland war. Sie waren komplett verschieden und es ist lächerlich, einen solchen Vergleich anzustellen.

 

Borodianka (bei Kiew), 8.4.2022

Foto: dsns.gov.ua – Schild: “ACHTUNG MINEN“

Man darf jedoch nicht vergessen, dass es eine russische Hegemonie über die anderen Regionen und Republiken gab und dass diese Hegemonie des imperialen Russlands in der Sowjetunion fortgesetzt wurde. Die russische Kultur war dominant, ebenso wie ihre Sprache und Literatur. Intellektuelle, Künstler- und Schriftsteller*innen mussten auf Russisch publizieren.

Ich betrachte die Dinge durch ein gramscianisches Prisma. Man muss beachten, wo die Kultur verortet ist und welche Rolle die Sprache und ethnische Politik in allen politischen Strukturen spielen, denn das sind wichtige Dinge. Wer sagt, dass dies nicht wichtig ist, neigt zu einem kolonialistischen Verständnis von Nationen.

 Was hat das mit der jüngeren Geschichte der Ukraine zu tun?

In der Tat war die Sowjetunion nicht immer so wie auf dem Papier. Die Sowjetrepubliken, einschließlich der Ukraine, erinnern sich noch sehr gut daran. Der Ukraine ging es unter der Sowjetherrschaft nicht schlecht. Sie war die zweitgrößte Volkswirtschaft, hatte eine gute Infrastruktur und gute öffentliche Dienstleistungen, eine gut ausgebildete Bevölkerung und einen großen Technologiesektor. Sie war in den Vereinten Nationen vertreten. Im Vergleich zu einigen zentralasiatischen Sowjetrepubliken ging es der Ukraine also viel besser.

Trotzdem galten die ukrainische Sprache und Kultur ebenso wie die der anderen Republiken als fremd. Die russische Kultur, die das Russische zur Lingua franca machte, war dominant und andere Kulturen wurden als etwas Dekadentes und Vergangenes betrachtet. Die gemeinsame Kultur musste russisch sein. So etwas prägt. Um die Wende zu den 1990er Jahren besuchte ich eine ukrainische Sprachschule, wo ich Ukrainisch lernte und sprach. Ich erinnere mich, dass ich ausgelacht wurde, weil ich in die Schule der „Versager“ ging und in meiner Sprache sprach.

Wenn man die Geschichte des russischen Imperialismus und der nationalen Ungleichheiten innerhalb der Sowjetunion nicht versteht und nicht verstehen will, was in Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion passiert ist (zu was für einem Land es geworden ist und was es derzeit tut, nicht nur im Innern, sondern auch in den ehemals sowjetischen Mitgliedsländern), dann kann man nicht begreifen, was die Ukraine ist.

Viele Leute reden noch immer über Russland, als ob es sich um die Sowjetunion handelte. Wir hören linke Kommentatoren, die – vernebelt von ihrem Antiamerikanismus und ihrer NATO-feindlichen Haltung – offenbar nicht in der Lage sind, Russlands imperialistische Ambitionen zu begreifen. Natürlich sind die USA ein internationaler Despot. Natürlich ist die NATO kein Kuschelkätzchen und sie war an mehr Kriegsverbrechen beteiligt, als man hier aufzählen kann. Das rechtfertigt jedoch nicht, was Russland tut. Die Verbrechen des einen rechtfertigen nicht die des anderen.

 Angesichts all dessen ist die Stärke des ukrainischen Nationalismus nicht überraschend, sowohl was seine zivilen und patriotischen als auch seine radikalsten Ausdrucksformen angeht.

Meiner Meinung nach ist es schwierig, die Frage des ukrainischen Nationalismus zu verstehen, ohne zuvor die Kolonialgeschichte der Ukraine zu verstehen. Oder aber, man begreift den ukrainischen Nationalismus so, wie ihn die westliche Presse darstellt. Darunter gibt es verabscheuungswürdige Bataillone, die inzwischen vielleicht milder geworden sind, aber keinen Grund haben, auf sich stolz zu sein. Sie tragen Insignien des Dritten Reichs und ihre Selbstverständnistexte sind mitunter rassistisch oder schwärmen von der Überlegenheit der ukrainischen Nation. Dies muss man ehrlicherweise zugeben.

Sie sind bei den Euromaidan-Demonstrationen 2013 in Erscheinung getreten. Diese rechtsextremen Gruppen waren die einzigen, die die Mittel und Leute hatten, um die Demonstrationen zu „wappnen“ und sie gleichzeitig für sich zu instrumentalisieren. Nicht sie haben die Menschen mobilisiert, sondern lediglich die Kontrolle über die Demonstrationen übernommen. Viele Menschen wussten nicht einmal, wer sie waren oder was sie wollten. Stattdessen herrschte Konfusion.

Zu diesen Gruppierungen gibt es generell zwei verschiedene Meinungen: diejenigen, die sie für unbedeutend halten, und diejenigen, die behaupten, dass die Ukraine zu einem Nazi- oder faschistischen Staat geworden ist. Es gibt diejenigen, die bagatellisieren, und diejenigen, die übertreiben. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Im Vergleich zu anderen Ländern sind diese Gruppen nicht so einflussreich, wie sie gerne dargestellt werden. Ihre Ideen sind auch im Parlament nicht nennenswert vertreten. Niemand zieht aus dem Ergebnis, das Marine Le Pen bei den französischen Präsidentschaftswahlen erzielt hat, den Schluss, dass Frankreich eine faschistische Nation ist.

 Gibt es faschistische Tendenzen in der politischen Debatte der Ukraine?

Ja, und das ist beunruhigend. Natürlich befinden wir uns in einem Krieg, in dem es um das Existenzrecht einer ganzen Nation geht. Vor diesem Hintergrund erklären sich das mediale Wiederaufleben von bestickten Hemden und nationalen Gesängen und der Ruf nach der „alten“ Kultur. Das ist an sich kein Problem, geht aber mit einem manchmal berechtigten Misstrauen gegen Russland einher, das leicht in eine allgemeine Russophobie umschlagen kann. Es ist ein Hass, der die Ukraine als „alles andere als russisch“ definiert und zu einer fanatischen Ablehnung der gemeinsamen Geschichte der beiden Länder führt.

Es gibt immer noch viele Ukrainer*innen, deren Muttersprache Russisch ist. Es gibt unbestreitbare Verbindungen unserer Kulturen, aber zum jetzigen Zeitpunkt haben wir meiner Meinung nach wegen dieses grausamen Kriegs den Rubikon überschritten. Offenbar hat jeder in der Ukraine einen Freibrief, eine möglichst entmenschlichende Rhetorik gegen die Russen zu verwenden. Wir hören es in den Reden der Minister, wir lesen es in den Telegram-Netzwerken. Abfällige und beleidigende Begriffe, die ich nicht wiederholen möchte, und eine entmenschlichende Sprache sind normal geworden.

Je länger dieser Krieg dauert, desto schwieriger wird es, dagegen vorzugehen. Das ist es, was mich beunruhigt. Ich finde Nationalismus als Teil eines Entkolonialisierungs- und Befreiungsprozesses vollkommen akzeptabel, wenn er nicht in Fremdenfeindlichkeit einmündet. Es ist wichtig, die nationale Geschichte, die nationale Musik, die Nationalgerichte und alles Mögliche hochzuhalten, aber so grausam dieser Krieg auch sein mag, wir können ein Volk nicht wegen seiner politischen Führung verurteilen. Wir möchten gerne glauben, dass wir aus dem Zweiten Weltkrieg etwas gelernt haben, aber wir scheinen die gleichen Fehler immer wieder zu wiederholen.

Ich hoffe aufrichtig, dass dieses „Gift“ nicht zur Normalität wird und verschwindet, wenn der Krieg vorbei ist, denn dies kann nicht Teil einer nationalen Emanzipation sein. Ständig bloß zu behaupten, dass man nicht russisch ist, reicht nicht aus, eine ukrainische Nation zu legitimieren. Das vernebelt nur die Sinne.

 Sie sind Teil einer Bewegung, die sich überall in Europa und darüber hinaus für den Erlass der ukrainischen Auslandsschulden eingesetzt hat. Inwiefern wäre dieser Erlass ein „Akt der Entkolonialisierung“, wie Sie es genannt haben?

Der Kampf für einen ukrainischen Schuldenerlass ist auch deshalb wichtig, weil er anderen Ländern als Beispiel dienen kann. Wir haben über Sozialnyj Ruch und die Solidaritätskampagne mit der Ukraine mit Politiker*innen und Aktivist*innen in mehreren Ländern zum Thema Schulden zusammengearbeitet.

Das ist ein Problem, das eng mit dem imperialistischen Kapitalismus verbunden ist, aber auch mit der Sabotage der Freiheit, die die einfache Bevölkerung und ihre Regierungen für ein besseres Leben brauchen. Das ist verheerend und diese Verschuldung ist unmoralisch. Es ist unmoralisch, ein Land, das sich im Krieg befindet, mit weiteren Schulden zu belasten. Es ist unmoralisch, von einer Regierung zu erwarten, dass sie der Rückzahlung ihrer Auslandsschulden Priorität einräumt, inmitten einer humanitären Krise, in der Millionen Menschen vertrieben wurden, Tausende ihr Leben verloren haben und noch viel mehr verletzt und verstümmelt in den Krankenhäusern liegen. Zumal der Großteil seiner Infrastruktur zerstört wurde und sein Budget für den bewaffneten Kampf gegen die Invasion aufgebraucht wurde.

Dies gilt für die Ukraine und jedes andere Land, das sich im Kriegszustand befindet oder dessen Wirtschaft eingebrochen ist. Das Überleben der Menschen sollte oberste Priorität haben und die privaten Investoren können ein paar Jahre warten. Seit der Annexion der Krim ist die ukrainische Währung dreimal abgestürzt und die Schulden müssen in Euro oder Dollar bezahlt werden. Der Wert der Schuldenzahlungen hat sich daher über Nacht verdreifacht. Es spielt keine Rolle, wie gut Sie mit Ihren Schulden umgehen können, wenn Sie sie aufgrund gravierender Einschläge von außen nicht zurückzahlen können.

 Und es ist nicht die Schuld der Ukraine, dass sie überfallen wurde.

Genau! Diese Krise ist nicht Folge einer Misswirtschaft. Den jüngsten Prognosen zufolge wird das BIP der Ukraine um die Hälfte sinken. Diese Strafe hat die Ukraine nicht verdient. Wenn es im Interesse der Ukraine ist, ihre Verpflichtungen zu erfüllen und ihre Schulden zurückzuzahlen, dann sollten wir umso mehr die Möglichkeit haben, unsere Wirtschaft zu retten, anstatt die wichtigsten Sektoren fallen zu lassen.

Sozialnyj Ruch (Soziale Bewegung)

 

Wir brauchen daher ein Schuldenmoratorium bis Ende des Jahres, einen Schuldenerlass und eine ernsthafte und gründliche wirtschaftliche Umstrukturierung, die in Form von Kriegsreparationen finanziert werden muss. Einige Länder bieten Spenden an, aber diese Spenden wären nicht notwendig, wenn die Ukraine ihre Schulden nicht bezahlen müsste. Warum sollten andere Länder die Zahlung der Schuldzinsen an private Investoren finanzieren, wenn sie doch eigentlich einem Land, seiner Bevölkerung und seiner Wirtschaft helfen wollen?

Schulden sind stets dazu da, ein Land von außen zu kontrollieren. Sie dienen also der Enteignung des nationalen Reichtums. Marx hatte bereits festgestellt, dass Schulden autonome Entscheidungen und damit die Ausübung der politischen Souveränität nachhaltig untergraben. Höhere Schulden gehen mit mehr Auflagen einher, wobei in den Memoranden festgelegt wird, was die Regierungen tun dürfen und was nicht. Dazu gehören Haushaltskürzungen und fiskalische Sparmaßnahmen – Dinge, die Sie in Portugal nur zu gut kennen. Es ist bekannt, dass Sparhaushalte nicht funktionieren und kein Wirtschaftswachstum schaffen. Das erkennt selbst der IWF an.

Marx beschrieb auch die so genannte Entfremdung eines Staates, nämlich wenn Nationalstaaten aufhören, als eine autonome Autorität zu agieren und die Bevölkerung zu vertreten, weil sie von außen auferlegten Bedingungen folgen müssen. Dies ist eine Steigerung des Wirtschaftsimperialismus: Die Länder sind nicht mehr für ihren eigenen Haushalt verantwortlich. Bestimmte Wirtschaftssektoren arbeiten nur noch für die Rückzahlung der Schulden. Das ist grotesk.

Ich hoffe, dass das Beispiel der Ukraine andere Länder inspirieren kann, insbesondere die ehemaligen europäischen Kolonien, die zwar inzwischen unabhängig sind, aber immer noch unter der neokolonialen Ausbeutung durch die Schulden leiden. Der Schuldenerlass war früher eine gängige Praxis. Es ist an der Zeit, ihn wieder einzuführen.

 Wie sehen Sie es, dass in der Ukraine unter dem Kriegsrecht jede politische Partei, die die Begriffe „sozial“, „links“ oder „fortschrittlich“ in ihrem Namen führt, suspendiert worden ist?

Putin sorgt für seine eigene Geschichtsschreibung, ein Konglomerat, in dem russischer Imperialismus, Stalinismus und die Größe des heutigen Russlands zu einem einzigen historischen Schicksal verschmelzen. Die Ukraine betreibt seit 2014 reflexartig das Gleiche. Nicht in demselben Ausmaß wie Putins Geschichtsklitterung, aber trotzdem unnötig oder kontraproduktiv. Was wir in der Ukraine erleben, ist eine Gleichsetzung des russischen Imperialismus mit der Sowjetunion, dem Kommunismus und Putin.

Dagegen muss man sich politisch entschieden verwahren. Die berüchtigten Dekommunisierungsgesetze setzten die Verbrechen des Nationalsozialismus mit denen des Kommunismus gleich. Diese ganze Terminologie ist mir zuwider. Es ist eine Sache, über den roten Terror und Stalin zu sprechen, aber eine andere, zu sagen, dass der Kommunismus daran schuld ist. Diese Gleichsetzung erschwert der Linken ihr Auftreten im Land und ist ein großes Hindernis für die fortschrittliche Linke.

Viele Parteien, die von dieser Suspendierung betroffen sind, gelten als Agenten des Kremls. Da der Kommunismus sowjetisch ist und alles, was sowjetisch ist, russisch ist, arbeiten sie für den Kreml – so die offizielle Lesart. Das mag zwar manchmal zutreffen, aber in den meisten Fällen stimmt das nicht. Einige dieser Parteien haben mit pro-russischen Oligarchen zusammengearbeitet und gegen Gesetze für bessere Arbeitsbedingungen gestimmt. Daher verdienen sie es nicht einmal, als Sozialisten bezeichnet zu werden.

Das Problem ist jedoch nicht, dass eine Partei eine Ideologie hat, die nicht zum eigenen Namen passt. Es geht darum, jeder linken Partei, die sich registrieren lassen und eine Alternative zur neoliberalen Politik aufzeigen möchte, das Leben zu erschweren und sie umgehend als stalinistisch oder als Agenten des Kremls zu diffamieren. Dadurch wird eine solche Partei negativ wahrgenommen und hat es schwer, Wähler*innen zu gewinnen.

 Gibt es in der Ukraine Platz für eine linkssozialistische, populäre und anti-oligarchische Partei?

Durchaus. Wir haben versucht, diese negative Wahrnehmung zu umgehen und mit Sozialnyj Ruch einen Platz im politischen Leben einzunehmen. Aber das ist nicht einfach. Wenn wir mit den Menschen sprechen und sie nach ihren politischen Vorstellungen fragen, nach ihren Bedürfnissen und welche Wirtschaft und Gesellschaft sie sich wünschen, merken wir, dass sie für einen Staat mit einem starken sozialen Sicherungssystem und einer sozialistischen Wirtschaft sind.

Der Kapitalismus wird ihnen nie das geben, was sie wollen, aber was vorherrscht, sind diese Diskurse, die soziale Verbesserungen mit der Sowjetunion verbinden, und die Vorstellung, dass alles, was aus dem Westen kommt, automatisch besser ist. Da gibt es noch viel zu tun. Sozialnyj Ruch trägt den Namen „soziale Bewegung“ und nicht „sozialistische Bewegung “, damit die Bevölkerung nicht sofort ablehnend reagiert.

Das ist frustrierend, aber vielleicht ist es sinnvoll, die Sprache anzupassen, um die Botschaft zu vermitteln, dass wir ein anderes Wirtschaftssystem brauchen und nicht noch ein Privatunternehmen, das das Gesundheitswesen monopolisiert. Oder dass die Bahnverbindungen gut funktionieren, weil sie trotz mehrerer Anläufe noch nicht privatisiert wurden.

Wo sind die Oligarchen in diesem Krieg? Sie werfen hier und da mit Geld um sich, aber sie sind nicht diejenigen, die den Alltag organisieren. Das tun die einfachen Leute und die staatlichen Unternehmen. Dies ist ein sehr wichtiger Aspekt, um eine anti-oligarchische Bewegung aufzubauen. Die Oligarchen sind in ihren Privatjets ans Mittelmeer oder in die Alpen geflogen und sitzen auf ihren Millionen und warten darauf, dass der Krieg vorbeigeht, während die einfachen Leute ihre Familienmitglieder und Freunde verloren haben. Manche haben ihre Beine oder Arme verloren und mussten mit ansehen, wie ihre Häuser von den Bomben zerstört wurden.

Die Menschen beginnen zu verstehen. Es waren die Oligarchen, die die Wahlen manipuliert und die Differenzen zwischen Ost und West geschürt haben, um Wählerstimmen zu erhalten und an die Macht im Staat zu gelangen. Sie sind es, die die Spaltungen geschaffen haben, die Russland bei dieser Invasion ausnutzt. Sie haben sich die Taschen mit Krediten gefüllt, die die Ukrainer*innen nun zurückzahlen müssen. Sie müssen verschwinden oder ins Gefängnis gesteckt werden. Und ihre Unternehmen, die von Ukrainer*innen aufgebaut und betrieben werden, und der von diesen geschaffene Reichtum muss für den Wiederaufbau der Ukraine herangezogen werden, anstatt auf einem Offshore-Konto zu landen.

 Wie stark haben sich einzelne anarchistische und antifaschistische Bewegungen militärisch engagiert?

Es gibt einige linke, anarchistische und sozialistische Bataillone, die die Invasion bekämpfen. Sie sind nicht weniger entschlossen oder patriotisch als jedes andere Bataillon. Für uns ist es ein existenzieller Krieg. Es geht um das Überleben der Ukraine. Und wenn das erst einmal gesichert ist, können wir alle darüber diskutieren, wie wir sie wieder aufbauen wollen. Ich kenne Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer, die letztendlich in den Krieg gezogen sind. Es ist keine Gewissensfrage mehr, sondern: Entweder du kämpfst oder du verlierst dein Land.

Am 25. Februar beschloss einer meiner Freunde, der schon immer Anarchist war, in die Armee einzutreten. Er dachte, dass dies das Einzige sei, was er tun könne. Und die Tatsache, dass es mehrere anarchistische, sozialistische und antifaschistische Bataillone gab, belegt die Behauptung, dass es das Volk ist, das um sein Überleben kämpft.

      
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Es gibt durchaus rechtsextreme Bataillone. Aber trotzdem kann ich in der Schlacht um Asowstal [Asow-Stahl] sehr wohl erkennen, wer angreift und wer beschützt. Es ist das Asowsche Bataillon, das die Zivilbevölkerung bis zum letzten Mann beschützt. Und es sind die russischen Truppen, die sie bombardieren. Und selbst in dieser schrecklichen Situation höre ich Stimmen, die sagen, dass man nicht bei der Bewaffnung der Ukraine helfen dürfe, weil es in Asow rechte Typen gibt. Es gibt auch russischsprachige Menschen, Juden und Krimtataren, an deren Seite sie kämpfen.

 Könnten sie aber nicht trotzdem nach Ende des Kriegs zum Problem werden?

Dieses Phänomen ist sehr komplex und muss umfassend untersucht werden. Ich verstehe, dass es für manche Menschen schwierig ist, sich für eine Seite zu entscheiden, aber in einem ungeordneten Krieg wie diesem wird es immer so sein. In dieser speziellen Situation weiß ich, dass ich gegen die russischen Bomben bin. Probleme mit dem Asow-Bataillon zu haben, bedeutet nicht, dass der Ukraine nicht geholfen werden sollte. Es ist schwierig und schmutzig, aber so ist der Krieg.

Wenn sich herausstellt, dass die Soldaten des Asow-Bataillons unter dem Verdacht von Kriegsverbrechen stehen, dann muss gegen sie ermittelt werden. Wenn sie für schuldig befunden werden, müssen sie verurteilt werden. In diesem speziellen Fall der Azowstal-Fabrik ist meiner Meinung nach klar, wer im Recht und wer im Unrecht ist. Derzeit ist Asow Teil der Streitkräfte und erhält Befehle. Wenn sie die Zivilbevölkerung nicht aus Azowstal herausgelassen haben, wie in einigen Videos behauptet wird, dann weil sie keinen Befehl dazu hatten und es keinen humanitären Korridor gab. Sie herauszulassen hätte bedeutet, sie in den Tod zu schicken, und der Befehl, den sie erhalten hatten, lautete, die Zivilbevölkerung zu schützen.

Mit anderen Worten: All dies wird den Militärhistorikern viel Arbeit bescheren. Man muss sich mit unseren ideologischen Positionen und mit den Menschen auseinandersetzen, mit denen wir Probleme haben, aber man muss auch verstehen, wer Gewalt ausübt und Leben auslöscht und wer dagegen kämpft. Es mag nicht einfach oder bequem sein, aber einen sauberen Krieg gibt es nicht. Das ist ein Luxus des bürgerlichen Lebens. So etwas kann auch nicht rein sein, denn dahinter steht die Ausbeutung der Arbeiter*innen, ergo gibt es keine Reinheit!

Julija Jurtschenko, Aktivistin von Sozialnyj Ruch (Ukrainische Soziale Bewegung), ist Dozentin und Forscherin für politische Ökonomie an der Greenwich University. Sie hat das Buch Ukraine and the Empire of Capital: From Marketization to Armed Conflict (Pluto, 2018) veröffentlicht. João Biscaia ist Redaktionsmitglied der Online-Zeitschrift Setenta e Quatro.

Übersetzung aus dem Frz.: MiWe



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