Ukraine/NATO

Schlimmer geht immer

Dieser Beitrag von Gilbert Achcar erschien anlässlich des NATO-Gipfels Ende Juni in Madrid in The Nation vom 23.6.2022. Er beleuchtet die Neudefinition der strategischen Zielsetzung der NATO.

Gilbert Achcar

Ende Juni hält das Atlantische Bündnis zum zweiten Mal seit dem Beitritt des spanischen Staates zur NATO 1982 einen Gipfel in Madrid ab. Beide Gipfeltreffen in Madrid fanden zufälligerweise in einem entscheidenden Moment der Geschichte der Organisation statt.


Der Schritt zur US-Hegemonie …


Der vorige Gipfel 1997 war der Höhepunkt einer langen Debatte zwischen den Regierungen der NATO-Staaten über die Ost-Erweiterung des Bündnisses. In den USA wurde die Debatte öffentlich und lebhaft geführt und fast das gesamte außenpolitische Establishment war daran beteiligt. Dabei standen sich diejenigen gegenüber, die vor einer Ächtung Russlands warnten – und als solche würde ihrer Meinung nach von den Russen unweigerlich jede Expansion der NATO in ehemalige Satellitenstaaten Moskaus wahrgenommen werden. Andererseits diejenigen, die unbedingt die Gelegenheit ergreifen wollten, die der Kolumnist der Washington Post Charles Krauthammer 1990 als „unipolaren Moment“ bezeichnet hatte, um die US-Hegemonie auf Regionen auszudehnen, die früher Teil der sowjetischen Einflusssphäre waren.

Diese Position wurde vom Großteil der Clinton-Regierung geteilt, deren Stichwortgeber hinter den Kulissen Zbigniew Brzezinski war. Die Gegenposition innerhalb der Regierung vertrat Verteidigungsminister William Perry während der ersten Amtszeit von Bill Clinton. Perry wurde aus der Regierung entfernt und bezeichnenderweise in Clintons zweiter Amtszeit durch den Republikaner William Cohen ersetzt – im selben Jahr, in dem der Gipfel von Madrid stattfand.

Die Befürworter der NATO-Osterweiterung wollten das US-Imperium auf einen großen Teil des ehemaligen Sowjetreichs ausdehnen, da sie davon ausgingen, dass das postkommunistische Russland früher oder später versuchen würde, an seine lange imperiale Tradition wieder anzuknüpfen. Daher hielten sie es für notwendig, dieser unvermeidlichen Entwicklung zuvorzukommen, indem sie die Kontrolle der USA über einen möglichst großen Teil des ehemaligen Sowjetreichs sicherstellten. Da das Putin-Regime seit 2008 tatsächlich in den Staaten, die es als traditionellen Hinterhof seines Reichs ansieht, wie ein Usurpator auftritt – Intervention in Georgien 2008, Annexion der Krim und Intervention im Donbass 2014, Versuch eines „Regimewechsels“ durch die Invasion in der Ukraine 2022 und die laufenden Bemühungen, den gesamten Donbass und die angrenzenden Gebiete zu besetzen – könnte man fast glauben, dass diejenigen, die für die NATO-Erweiterung eintraten, im Recht waren.


… durch eine sich selbsterfüllende Prophezeiung


In Wahrheit jedoch ist diese Entwicklung genau das, wovor die Gegner der Erweiterung gewarnt hatten. Sie hatten zu Recht vorausgesagt, dass die Russen die Osterweiterung der NATO als feindlichen Akt betrachten und daher revanchistisch reagieren würden. Mit anderen Worten, sie warnten davor, dass die NATO-Erweiterung in Erwartung einer Rückkehr Russlands zu imperialem Auftreten in Wirklichkeit eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wäre.

Auf dem Gipfeltreffen von 1997 wurden Ungarn, Polen und die Tschechische Republik offiziell eingeladen, dem Bündnis beizutreten. Der Beitritt der drei osteuropäischen Länder wurde zwei Jahre später auf dem Gipfeltreffen in Washington vollzogen, auf dem das 50-jährige Bestehen der NATO gefeiert wurde. Dies geschah just, während die Allianz Jugoslawien unter Verletzung des Völkerrechts bombardierte, im Rahmen des ersten von den USA geführten Krieges nach 1990 ohne Genehmigung des UN-Sicherheitsrats.

 

Gemeinsames Manöver USA-Ukraine in Bayern, 2018

Foto: Ukrainisches Verteidigungsministerium

In Zusammenschau mit der US-Invasion in den Irak 2003, bei der der UN-Sicherheitsrat erneut umgangen wurde, und der Erweiterung der NATO 2004 um sieben weitere osteuropäische Länder, darunter die drei baltischen Staaten, die früher zur UdSSR gehörten, war diese Reihe von Ereignissen entscheidend für die feindselige Stimmung zwischen Russland und dem Westen, die der Invasion in der Ukraine vorausging.

Der Gipfel in Madrid bedeutet einen großen qualitativen Sprung im Selbstverständnis der NATO, mit nicht weniger gravierenden Folgen als beim Gipfel von 1997. Dabei geht es nicht so sehr um die formelle Einladung an Finnland und Schweden, dem Bündnis beizutreten, obwohl diese neue Erweiterung sicherlich sehr wichtig ist, vielleicht sogar wichtiger als alle vorherigen, da sie die direkte NATO-Grenze zu Russland erheblich verlängern wird (die Grenze Finnlands zu Russland ist 1340 Kilometer lang). Dabei ist das einzige [inzwischen ausgeräumte] Fragezeichen die Position der Türkei, denn jedes neue Beitrittsangebot muss von allen derzeitigen NATO-Mitgliedern einstimmig angenommen werden, ein Prinzip, das jedem Mitglied ein tatsächliches Vetorecht verleiht. Ankara will, dass die beiden skandinavischen Staaten gegen die kurdische Bewegung vorgehen, die unter den Flüchtlingen in beiden Ländern stark vertreten ist.


China im Visier


Die gefährlichste Neuerung des Madrider Gipfels besteht jedoch darin, dass die Ziele der NATO qualitativ stark erweitert werden. Ursprünglich als Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten gegründet, wandelte sich die NATO nach 1991 zu einer „Sicherheitsorganisation“ – was bedeutet, dass sie sich an militärischen Aktionen beteiligt (die NATO als solche war zu Zeiten der UdSSR formal in keinen Krieg verwickelt) – und definierte ihre Ziele neu, indem sie das postsowjetische Russland durch eine Expansion in Richtung seiner Grenzen demütigte. Der 1997 gegründete NATO-Russland-Rat war ein schwacher Trost für Moskau anstelle einer Einladung, dem Bündnis beizutreten, und wurde allseits auch so wahrgenommen. Aus der stillschweigenden Feindschaft der NATO gegenüber Russland wurde nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 eine ausdrückliche.

Der Madrider Gipfel wird eine unverhüllt feindliche Positionierung der NATO gegenüber China zur Folge haben, die weit über das ursprüngliche Zuständigkeitsgebiet der Allianz hinausgeht. Dieses Gebiet wurde im Gründungsvertrag der NATO von 1949 so definiert, dass es einen bewaffneten Angriff „auf das Gebiet irgendeines dieser Staaten in Europa oder Nordamerika, auf die algerischen Departements Frankreichs, auf die Besatzungen, die irgendein Vertragsstaat in Europa unterhält, auf die der Gebietshoheit eines Vertragsstaates unterliegenden Inseln im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses“ umfasste. Der Wandel der NATO nach 1991 führte dazu, dass sie über das Territorium ihrer Mitglieder hinaus intervenierte, zunächst auf dem Balkan und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 noch viel weiter von ihrem Ursprungsgebiet entfernt, nämlich in Afghanistan.

Die Teilnahme an den Treffen der Organisation blieb jedoch früher auf Europa und Nordamerika beschränkt, was mittlerweile auch nicht mehr gilt. Japan sowie Australien, Neuseeland und Südkorea wurden als „Partner“ der NATO im asiatisch-pazifischen Raum zur Teilnahme am Gipfeltreffen in Madrid eingeladen – eine ernsthafte Provokation für Peking, das diese Einladung nur als Schritt zur Konsolidierung der US-geführten Bündnisse in einem geeinten globalen Netzwerk gegenüber Russland und China interpretieren kann. Nach dem vorläufigen Treffen der NATO-Verteidigungsminister am 16. Juni erklärte der Generalsekretär der Organisation, Jens Stoltenberg, dass das neue strategische Konzept der NATO, das auf dem Gipfel in Madrid verabschiedet werden soll, die Position der Allianz „zu Russland, zu den kommenden Herausforderungen und zum ersten Mal auch zu China“ darlegen werde.

      
Mehr dazu
Susan Watkins: Fünf Kriege in einem, Sozialistische Zeitung (Dezember 2022)
Manuel Kellner: Russland als Opfer und China als sozialistischer Staat?, intersoz.org (12.12.2022)
Jaime Pastor: Auf in den permanenten globalen Krieg?, intersoz.org (16.8.2022)
Ilja Budraitskis: „Die russische Welt“ – Vom Anfang und Ende einer Idee, die internationale Nr. 5/2022 (September/Oktober 2022)
Interview mit Julija Jurtschenko: Schuldenerlass für die Ukraine, die internationale Nr. 5/2022 (September/Oktober 2022)
Matthias Schindler: Zwei Konflikte zwischen Recht und Politik, die internationale Nr. 5/2022 (September/Oktober 2022)
Ernest Mandel: Kriegsgefahr und Kampf um Sozialismus, die internationale Nr. 5/2022 (September/Oktober 2022)
Büro der Vierten Internationale: Gegen die militärische Eskalation der NATO und Russlands in Osteuropa, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online). Auch bei intersoz.org
Dan La Botz: USA und Russland streiten um die Ukraine, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online). Auch bei intersoz.org
Jean-Louis Michel: Die neue NATO: ein Instrument der Pax Americana, Inprekorr Nr. 314 (Dezember 1997)
 

Für eine neue weltweite Friedensbewegung


Aus Washingtons Sicht, das seine Hegemonie über den größten Teil Europas und des asiatisch-pazifischen Raums aufrechterhalten will, indem es Russland und China zu Feinden erklärt – ein strategischer Plan, der von allen US-Regierungen nach 1991 umgesetzt wurde – ist die weitere Eskalation, die in Madrid bekräftigt werden soll, völlig logisch. Während Präsident Biden den Widerstand der Ukraine gegen die russische Invasion entschieden unterstützt, hat er seine Provokationen gegenüber Peking vervielfacht. So erklärte er vor einem Gipfeltreffen der unter dem Namen Quad firmierenden antichinesischen Allianz (Japan, Australien und Indien mit den USA) im Mai, dass die USA Taiwan militärisch verteidigen würden. Diese Aussage wurde vom Außenministerium schnell abgeschwächt, das im Mai selbst die Aussage „Wir unterstützen nicht die Unabhängigkeit Taiwans“ aus einem Informationsblatt über Taiwan auf seiner Website entfernt hatte, bevor es sie im Juni wieder einfügte.

Aus der Sicht Europas und des asiatisch-pazifischen Raums würde eine Zustimmung zu dieser de facto Ausweitung der Rolle der NATO darauf hinauslaufen, sich wie die Lemminge über die Klippen treiben zu lassen. Sich mit China anzulegen, liegt nicht im Interesse Europas und auch nicht im Interesse irgendeines der zum Madrider Gipfel eingeladenen Staaten. Selbst wenn die europäischen Regierungen der Meinung wären, dass Russland inzwischen unumkehrbar zu einer Bedrohung ihrer Sicherheit geworden ist, wäre es für sie völlig kontraproduktiv, Peking in ein festes Bündnis mit Moskau zu drängen.

Diese Entwicklungen bringen die Welt weiter an den Rand eines Flächenbrandes, der weitaus schlimmer sein könnte als der laufende Krieg in der Ukraine und der die Zukunft der Menschheit gefährden könnte. Es ist dringend notwendig, wieder eine weltweite Friedensbewegung aufzubauen, die sich gegen alle Militärbündnisse wendet und deren Auflösung fordert, eine Bewegung, die sich auch gegen die laufenden massiven Erhöhungen der Militärausgaben wendet. Es ist höchste Zeit, zur weltweiten Abrüstung unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen zurückzukehren, wie es die Charta der Organisation vorsieht. Diese Charta ist der Eckpfeiler des Völkerrechts, dem wieder Geltung verschafft werden muss, statt weiter in das Gesetz des Dschungels abzugleiten. Die immer irrsinnigeren Summen, die für Rüstung und Zerstörung ausgegeben werden, könnten viel sinnvoller dafür verwendet werden, was wirklich im Interesse der Menschheit bekämpft werden muss, nämlich Armut und Klimawandel.

Übersetzung aus der französischen Version: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2022 (September/Oktober 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz