Ökosozialismus

Ungleiches Wachstum oder gerechtes Degrowth

Vor 25 Jahren wurde „Degrowth“ von seinen Anhängern als „Worthülse“ mit unklarer ideologischer Ausrichtung verstanden: Serge Latouche und seine Anhänger beanspruchten, „die Vorstellungswelt verändern“, um „aus der Wirtschaft und der Entwicklung auszusteigen“... Heute wird wieder über Degrowth diskutiert, allerdings unter strengeren Prämissen.

Daniel Tanuro

Angesichts der Klimakatastrophe glauben viele Expert*innen nicht mehr an die Möglichkeit, den CO₂-Ausstoß senken und gleichzeitig das BIP steigern zu können. Ihrer Meinung nach kann das Klima nicht stabilisiert werden, ohne den globalen Energieverbrauch so drastisch zu senken, dass die Produktion von Waren und Dienstleistungen zwangsläufig zurückgeht. Diese These hat natürlich Auswirkungen auf gesellschaftliche Entscheidungen – alle diese Expert*innen betonen, dass das Degrowth mit sozialer Gerechtigkeit einhergehen muss –, aber ihre Grundlage ist wissenschaftlich, nicht ideologisch.


Wachstum und Klima gehen nicht zusammen


Schauen wir uns zunächst die Fakten des Problems an. Um eine Erwärmung von 1,5 °C nicht zu überschreiten, müssen die Netto-CO₂-Emissionen bis 2030 um mindestens 50 % und bis 2100 um mindestens 100 % gesenkt werden. Die Autor*innen des 5. Sachstandsberichts des Weltklimarats (AR5, 2014, der als Grundlage für das Pariser Abkommen diente) gingen davon aus, dass diese Reduzierung mit dem Wirtschaftswachstum vereinbar sein würde: Durch höhere Energieeffizienz und den Durchbruch der erneuerbaren Energien sollte die Entwicklung des BIP von der Entwicklung der CO₂-Emissionen abgekoppelt werden. Sechs Jahre später hat in einigen Industrieländern tatsächlich eine relative Entkopplung begonnen. Eine absolute Entkopplung ist jedoch nicht möglich. Denn die Steigerung der Effizienz und der Einsatz erneuerbarer Energien erfordern enorme Investitionen, die sehr energieintensiv sind, und diese Energie ist zu über 80 % fossil. Folglich führt die Energiewende unter Bedingungen wirtschaftlichen Wachstums zwangsläufig zu höheren CO₂-Emissionen. Da diese Emissionen – nicht relativ, sondern absolut – reduziert werden müssen, folgt daraus zwangsläufig, dass ein Wachstum des BIP im Widerspruch zur Eindämmung der Erderwärmung unter 1,5 °C steht.

Viele Expert*innen wollten daran festhalten, dass dieser Widerspruch zu lösen wäre, wenn man der Atmosphäre CO₂ entzieht, um die Emissionen auszugleichen. Hierfür wurden zwei Optionen aufgezeigt: Erstens die Maximierung der natürlichen CO₂-Absorption durch das Anpflanzen von Bäumen und zweitens die Entwicklung von „Negativen Emissionstechnologien“ (NET), um der Atmosphäre Kohlenstoff zu entziehen und ihn unterirdisch zu speichern. Die Kritik an dieser Strategie ist nicht neu, aber der Weltklimarat hat sie bisher nicht berücksichtigt. So basierten alle Szenarien, die im Rahmen des Sonderberichts über 1,5 °C globale Erwärmung (2019) in Betracht gezogen wurden, auf einer möglichen Kompensation des CO₂-Ausstoßes. Doch der Wind scheint sich zu drehen. Die Stimmen der Forscher*innen, die argumentieren, dass diese produktivistische Option gegen das Vorsorgeprinzip verstößt, können nicht länger ignoriert werden.


Die Sprache der Fakten


Ihre Argumente sind äußerst robust. Denn um das BIP-Wachstum mit der Einhaltung des 1,5°C-Ziels in Einklang zu bringen, sehen einige Szenarien vor, dass bis zum Jahr 2100 bis zu 1000 Gigatonnen Kohlenstoff aus der Atmosphäre entfernt werden müssen – das Fünfundzwanzigfache der jährlichen Emissionen! Bäume zu pflanzen, brächte nur einen sehr überschaubaren Nutzen, da die Landflächen begrenzt sind, und vor allem nur vorübergehend (Bäume nehmen nur während des Wachstums CO₂ auf und geben es dann wieder ab – und die Erderwärmung fördert Brände). Daher sollte man vor allem auf die NET setzen, insbesondere auf die „Bioenergie mit Kohlenstoffabscheidung und -speicherung“. Dies funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Biomasse anstelle von fossilen Energieträgern verbrennen, das freigesetzte CO₂ auffangen und unter der Erde vergraben; da Biomasse unter Aufnahme von CO₂ wächst, sollte theoretisch die CO₂-Konzentration in der Atmosphäre sinken... Aber in praxi ist erstens unklar, ob das funktionieren wird, da die Technologie erst als Prototyp existiert; müsste zweitens Biomasse auf riesigen Flächen angepflanzt werden; würde es drittens zu einem Konflikt mit der Nahrungsmittelversorgung der Menschen, der Artenvielfalt und der Trinkwasserversorgung kommen; ist viertens nicht sicher, ob das CO₂ nicht aus dem Untergrund entweichen wird.

Ein führender Wissenschaftler hat die Delegierten auf der COP26 offiziell gewarnt, dass bei einer Erwärmung von mehr als 1,5 °C die Erde zu einem „Treibhaus“ zu werden und der Meeresspiegel um dreizehn Meter oder mehr anzusteigen droht. [1]Es ist unsinnig, auf die Trickkiste der Zauberlehrlinge zu setzen, um diese Katastrophe zu verhindern. Darum besteht aber die einzige Alternative darin, den Endenergieverbrauch drastisch und umgehend zu reduzieren. Ein solcher industrieller Um- und Rückbau ist jedoch selbstredend nur möglich, wenn er mit sozialer und Klimagerechtigkeit einhergeht, d. h. dass die Ungleichheiten radikal beseitigt und die Lebensbedingungen der ärmsten 50 % der Menschheit, in den armen, aber auch in den reichen Ländern radikal verbessert werden müssen. Alles in allem ist dies die Argumentation, weswegen immer mehr Wissenschaftler*innen quasi für ein „gerechtes Wachstum“ eintreten.


Luxuskonsum und Überproduktion zum Wohl der Reichen


In unserer Gesellschaft herrscht die Vorstellung, dass Wachstum und steigender Energieverbrauch für Beschäftigung und Einkommen – kurzum für ein besseres Leben – unerlässlich sind. Diese Vorstellung wird jedoch aus wissenschaftlicher Sicht zunehmend in Frage gestellt. Jenseits der Befriedigung der Grundbedürfnisse (hochwertige Nahrungsmittel, eine gute Wohnung, bequeme Kleidung, ein leistungsfähiges Gesundheitssystem, eine angemessene Mobilitätsinfrastruktur) nimmt der Nutzen eines höheren Energieverbrauchs in Wirklichkeit sehr schnell ab. Ergo „könnten die Länder mit hohen Einkommen ihren biophysikalischen Fußabdruck (und ihr BIP) reduzieren und trotzdem ihre sozialen Standards aufrechterhalten oder sogar steigern und mehr Gerechtigkeit zwischen den Ländern herstellen“, schreiben zwei Forscher. Die Herausforderung bestehe darin, „den Energie- und Ressourcenverbrauch der Wirtschaft auf gerechte Weise zu reduzieren und gleichzeitig die Lebensqualität zu sichern“. [2]

 

Grüner Abriss

Vierte Internationale Degrowth-Konferenz, Leipzig, 2014. Foto: Eva Mahnke

Könnten die menschlichen Bedürfnisse besser befriedigt werden, wenn weltweit viel weniger Energie verbraucht und diese besser verteilt würde? Das ist die Frage. Ein Teil der Antwort liegt darin, dass die CO₂-Emissionen des reichsten Prozent und die der ärmsten 50 % und der 40 % mit „mittlerem“ Einkommen weit auseinanderklaffen. Diese Kluft wächst und wird aufgrund der Klimapolitik der Regierungen bis 2030 sogar noch stärker zunehmen! Je geringer das Einkommen ist, umso mehr werden sie sich anstrengen müssen, um die Emissionen zu senken! [3]

Die Regierungen weisen ständig darauf hin, dass „wir“ unser Verhalten ändern müssen. Aber wer ist dieses „wir“? “Der Konsum der weltweit reichsten Haushalte ist mit Abstand am meisten verantwortlich für den Umfang und die Zunahme der ökologischen und sozialen Verwerfungen“, schreiben Forscher*innen. [4]Daher sollte dieser exzessive Luxuskonsum verboten werden: Privatjets, Superyachten, Luxuswohnungen, SUVs etc. Und da diese Konsumgüter erst einmal produziert werden müssen, müssen auch die Wirtschaftsprozesse gestoppt werden, die in erster Linie auf den Profit der Kapitalist*innen abzielen: Waffen, Werbung, geplante Obsoleszenz etc.


Es ist genug für alle da


Andere haben untersucht, welche Bedürfnisse auf der Grundlage des verfügbaren Emissionsbudgets pro Individuum befriedigt werden können und unter welchen sozialen Bedingungen dies erfolgen kann. [5]Dieser Ansatz ist deswegen so bedeutsam, weil er zeigt, dass die Bedürfnisbefriedigung nicht nur von der verbrauchten Energiemenge abhängt, sondern auch von verschiedenen sozioökonomischen Faktoren, die die Korrelation zwischen Energieverbrauch und Bedürfnissen bestimmen. Es gibt „günstige“ Faktoren, die die menschlichen Bedürfnisse besser befriedigen und gleichzeitig weniger Energie verbrauchen, wie z. B. gute öffentliche Dienstleistungen, wirkliche Demokratie, weniger Einkommensunterschiede, sichere Versorgung mit Strom und sauberer Energie, ein öffentliches Gesundheitssystem und eine gute Handels- und Verkehrsinfrastruktur. Wachstum und Extraktivismus hingegen sind „schädliche“ Faktoren: Es wird mehr Energie verbraucht, um die Bedürfnisse schlechter zu befriedigen. Beispiel: Gute öffentliche Dienstleistungen erhöhen die Lebenserwartung und senken den Endenergieverbrauch; Extraktivismus hingegen senkt ersteres und erhöht letzteres.

Alle derartigen Studien kommen zu dem Ergebnis, dass ein komfortabler Lebensstandard auf der ganzen Welt mit einem deutlich geringeren Pro-Kopf-Energieverbrauch gewährleistet werden kann, als dies bei den Reichen und in den reichen Ländern der Fall ist. Die Triebkräfte des übermäßigen Energieverbrauchs in diesen Ländern sind: „eine Spirale energieintensiver Bedürfnisse, die durch die Eigendynamik der schädlichen Faktoren aufrechterhalten wird; Luxuskonsum und ungleich verteilter Konsum; geplante Obsoleszenz; Überproduktion/Überkonsum; Profitstreben; Steigerung der notwendigen Produktion unter dem Druck der Finanzmärkte und der Rohstoffrente“. Das Problem ist, dass die „schädlichen Faktoren aktiv vorangetrieben werden“, und zwar im Rahmen des weltweit herrschenden Systems. Die Lösung muss daher „systemisch“ und zugleich global erfolgen: „Ein grundlegender Wandel ist notwendig, um der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse mit wenig Energie Vorrang zu geben.“ [6]


Ein vorsichtiges Umdenken


Der 5. Bericht des Weltklimarates stand noch uneingeschränkt hinter den Dogmen der kapitalistischen Markt- und Konkurrenzwirtschaft und damit dem Wachstumsprinzip: „Die Klimamodelle setzen voll funktionierende Märkte und wettbewerbsorientiertes Marktverhalten voraus“. Dieses Dogma ist nicht mehr haltbar, da es uns in den Abgrund treibt. Die Teile des 6. Berichts, die sich mit der Anpassung an die Erderwärmung und mit der Reduzierung der Emissionen befassen, werden Anfang 2022 veröffentlicht. Der Entwurf der Zusammenfassung für Entscheidungsträger des Berichts über die Emissionsreduzierung ist durchgesickert. Darin heißt es: „In den Szenarien, die eine Verringerung der Energienachfrage vorsehen, sind die Zielvorgaben für die Eindämmung [des Klimawandels] deutlich leichter zu erfüllen, da man weniger auf die CO₂-Beseitigung angewiesen ist, die Böden weniger stark degradiert werden und die Preise für Kohlendioxid niedriger sind. Diese Szenarien bedeuten keine Beeinträchtigung der Lebensqualität, sondern vielmehr eine Verbesserung der Dienstleistungen.“ [7]

      
Mehr dazu
Daniel Tanuro: Schneller und heftiger als erwartet, die internationale Nr. 3/2022 (Mai/Juni 2022)
Ökologiekommission der IV. Internationale: Zur Entwicklung eines ökosozialistischen Programms, die internationale Nr. 3/2022 (Mai/Juni 2022)
Lorenzo Velotti: Ökosozialismus und Degrowth, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022)
Daniel Tanuro: Ökologischer Vandalismus, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022)
Juanjo Alvarez und Martin Lallana: Revolutionärer Ökosozialismus, die internationale Nr. 6/2021 (November/Dezember 2021). Auch bei intersoz.org
Michael Löwy: Ökosozialismus und/oder „Degrowth“?, die internationale Nr. 2/2021 (März/April 2021). Auch bei intersoz.org
 

Es wäre naiv, daraus zu schließen, dass der 6. Bericht des Weltklimarates gegen die Marktwirtschaft Stellung beziehen wird. Der Entwurf der Zusammenfassung spiegelt lediglich die Plausibilität der wissenschaftlichen Argumente wider, wonach es unmöglich ist, Wirtschaftswachstum mit der Begrenzung der Erderwärmung auf unter 1,5 °C zu vereinbaren. Der Weltklimarat gibt keine Empfehlungen ab, sondern trifft Feststellungen auf der Grundlage der vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die Forscher*innen, die sich mit dem Thema „Gerechter Degrowth“ beschäftigen, werden nun von ihren Kolleg*innen anerkannt. Dies ist ein Sieg gegen die Einflussnahme der kapitalistischen Ideologie des „Immer mehr“ auf die Wissenschaft. Aber letztlich bestimmen die Regierungen, welcher Weg eingeschlagen wird. Die Zusammenfassung des Berichts muss von ihnen bestätigt werden. Man kann sich sicher sein, dass sie alles daransetzen werden, dass der oben zitierte Satz aus der Zusammenfassung verschwindet. Ob sie sich damit durchsetzen können, werden wir sehen. Aber auf jeden Fall wird der Satz in dem Bericht bleiben, der nur den Wissenschaftler*innen gehört!


Ein toter Planet braucht keine Arbeitsplätze


Dass der Weltklimarat das Prinzip des „gerechten Degrowth“ als Alternative zur sakrosankten kapitalistischen Konkurrenz-, Profit- und Wachstumslogik anerkannt hat, ist ein Meilenstein im Kampf für eine andere Gesellschaft. Daran wird sich insbesondere die Gewerkschaftsbewegung messen lassen müssen. Deren Bürokratie ist bisher das Wirtschaftswachstum im Namen der Arbeitsplätze heilig und sie geben sich der Illusion hin, dass es einen „gerechten Übergang“ zu einem „grünen Kapitalismus“ geben könnte. In Wahrheit gibt es genauso wenig einen grünen Kapitalismus wie einen sozialen Kapitalismus, und der „Übergang“ ist ein Trugschluss. Mit dem BIP wachsen die Ungleichheiten. Die Kosten für die Klimakrise werden gesalzen sein und die Reichen werden sie den Habenichtsen präsentieren. Angesichts der wachsenden Bedrohung durch eine ökologische Katastrophe, die auch mit einer beispiellosen sozialen Katastrophe einhergehen wird, können wir uns nur durch kollektive Kämpfe dagegen wehren.

Es ist dringend geboten, dass sich die Lohnabhängigen viel aktiver gemeinsam mit der Jugend, den Frauen, den indigenen Völkern und den Kleinbauern und -bäuerinnen engagieren, die selbst im Kampf für den Planeten an vorderster Front stehen. Dafür braucht es eine grundlegende strategische Neubestimmung und ein Programm, das auf antikapitalistische und antiproduktivistische Strukturreformen abzielt. Dies würde auch den Gewerkschaften ermöglichen, die Perspektive eines „gerechten Degrowth“ mit ihren eigenen Prioritäten, Forderungen und Bestrebungen zu versöhnen. Dazu gehören namentlich eine öffentlich organisierte und kollektive Umschulung der Beschäftigten auf ökologisch und sozial nützliche Tätigkeiten (ohne Lohnverlust) und eine massive und allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit.

Weniger arbeiten, damit Alle arbeiten und besser leben können! Es gibt keine Arbeitsplätze auf einem toten Planeten. Sein Leben zu verlieren, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen und dabei den Planeten unserer Kinder zu zerstören, ist weniger denn je hinnehmbar.

Aus Gauche anticapitaliste vom 24.12.2021
Übersetzung: MiWe



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[1] Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Youtube

[2] Lorenz T. Keyßer & Manfred Lenzen,, 1.5 °C Degrowth Scenarios Suggest the Need for new Mitigation Pathways Nature Communications 12, Article number: 2676 (2021)

[3] Oxfam

[4] Th. Wiedmann, M. Lenzen, L.T. Keyßer, J. Steinberger, Scientists Warning on Affluence, Nature Communications 11, Article number: 3107 (2020)

[5] Jefim Vogel, Julia K. Steinberger, Daniel W. O’Neil, Wiliam F. Lamb, Jaya Krishnakumar, Socio-economic conditions for satisfying human needs at low energy use: An international analysis of social provisioning, Science Direct vol. 69, Juli 2021

[6] ibidem

[7] Juan Bordera & Fernando Prieto, El IPCC considera que el decrecimiento es clave para mitigar el cambio climático, Revista Contexto, 7/8/2021.