Ökonomie

Der Weg zur kritischen Ökonomie

Der französische Wirtschaftswissenschaftler und langjährige Genosse Michel Husson ist am 18.7.2021 überraschend verstorben. Nach dem Tod von Ernest Mandel 1995 war Michel einer der herausragenden Ökonomen in den Reihen der IV. Internationale, für die er auch nach seinem Ausscheiden aus der französischen Sektion weiterhin scharfsinnige Analysen lieferte. In den vergangenen 25 Jahren haben wir in dieser Zeitschrift zahlreiche seiner Artikel veröffentlicht und möchten mit dem folgenden Interview, das Savoir/Agir mit ihm geführt hat, an ihn erinnern.

Interview mit Michel Husson

 Savoir/Agir: Warum sind Sie Wirtschaftswissenschaftler geworden?

Michel Husson: Was mich wohl zu den Wirtschaftswissenschaften geführt hat, war ein generelles Interesse an den Sozialwissenschaften, eine Vorliebe, die zwei Dinge miteinander verband: die Beschäftigung mit unserer Gesellschaft und das Interesse an der Mathematik. Und so habe ich mich nach und nach, nachdem ich eine Zeit lang an der Elite-Hochschule für Sozialwissenschaften (Sciences Po) studiert hatte, wieder auf die Wirtschaftswissenschaften konzentriert. Danach hatte ich drei Möglichkeiten: Entweder die „übliche“ Lohnabhängigkeit als Gymnasiallehrer oder eine Universitätskarriere, oder aber zur INSEE (Nationales Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien) zu gehen. Ich habe mich 1971 für die INSEE entschieden. Was mir daran gefiel, war, Teil des Staatsapparats zu sein und ihn von innen heraus analysieren und kritisieren zu können. Und anders als bei einer akademischen Laufbahn musste man keinen Würdenträger hofieren, sondern nur ein Auswahlverfahren bestehen, um angenommen zu werden. Danach ging ich 1975 zur Statistikbehörde des Finanzministeriums. Dort begann meine Doppelkarriere als Wirtschaftswissenschaftler und politischer Aktivist, der sich vor allem mit wirtschaftlichen und sozialen Fragen befasst.

 Kam der politische Aktivismus in ihrem Leben zur gleichen Zeit wie Ihr Interesse an der Ökonomie ins Spiel?

Ja, und zwar 1968. Ich komme aus der Provinz und habe mich ziemlich schnell weiterentwickelt. Als Student an der Panthéon-Assas kam ich eng mit der marxistischen Bildung der damaligen Zeit in Berührung. Ich glaube, ich habe meine marxistische Bildung als Reaktion auf den Unterricht an der Universität erworben. Ich hatte Raymond Barre als Professor, und ich erinnere mich an eine Vorlesung, in der er zwei Kurven zeichnete, um zu zeigen, dass die Gewerkschaften das Erreichen der Vollbeschäftigung verhindern. Solche Erinnerungen prägen für immer. Außerdem wurden damals Rechts- und Wirtschaftswissenschaften gemeinsam gelehrt, und wir hatten sehr schlechte Wirtschaftsprofessoren, weswegen wir uns anderweitig fortbilden mussten. Eine wichtige Ausnahme war Carlo Benetti, der mich für die Wirtschaftswissenschaft begeisterte […]. Das war ein regelrechtes Erwachen: Er vermittelte uns, dass man die großen Autoren lesen muss, wenn man sich für die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft interessiert. Außerdem brachte er uns bei, strikt logisch zu argumentieren.

 Sie haben sicherlich noch andere Autoren gelesen, um sich in der marxistischen Wirtschaftstheorie zu schulen.

Ja, denn Marx war natürlich wichtig, aber ich war nicht dogmatisch. Meine beiden Lehrmeister zu dieser Zeit waren zweifellos André Gorz und Ernest Mandel. Gorz, der mich am stärksten geprägt hat, war der theoretische Kopf der PSU (in der ich damals aktiv war) und Autor von Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus [1965]. Mit diesem Werk versuchte er in den 1960er und 70er Jahren, eine Kritik des Kapitalismus mit strategischen Elementen zu verbinden, die mit dieser Kritik kohärent waren, kurzum, einen radikalen Reformismus zu konzipieren, der in meinen Augen einem Übergangsprogramm recht nahe kam. Auch später noch habe ich die Arbeit von Gorz stets verfolgt, und einige Zeit vor seinem Tod hatten wir sogar einen kleinen Briefwechsel.

Mandel vertrat natürlich den Trotzkismus schlechthin in wirtschaftlichen und politischen Fragen. Was mir an ihm gefiel, war, dass er vor einem recht orthodoxen Hintergrund einen ziemlich offenen Marxismus vertrat, der nicht aus dem bloßen Nachbeten von Dogmen und endlosen Textanalysen von Marx bestand. In meinen Augen lieferte er eine vorbildliche Anwendung der marxistischen Theorie auf die politischen Abläufe. Natürlich gab es noch weitere Autoren, die für mich wichtig waren, so z. B. die Redaktion der Zeitschrift Critiques de l‘économie politique (Pierre Salama, Jacques Valier). Ich schrieb zwei oder drei Artikel für die Zeitschrift, aber erst später zwischen 1981 und 1982 und nicht in der (trotzkistischen) Anfangsphase der Zeitschrift. Dann baten sie mich, der Redaktion beizutreten, doch zwei Monate später wurde die Zeitschrift eingestellt!

 Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie in die Statistikbehörde des Finanzministeriums gegangen sind, und sprachen von einer „Doppelkarriere“. Wie verlief Ihr Leben als staatlicher Ökonom und wie passte das zu Ihrem politischen Engagement?

In den 1970er Jahren gab es noch eine ganze Reihe kritischer Geister in der Wirtschaftsverwaltung, die nach und nach ausgeschaltet wurden. Ich kam 1975 zur Statistikbehörde, zu einer Zeit, als Edmond Malinvaud damit begonnen hatte, alles, was zu subversiv war (insbesondere Robert Boyer), auszumerzen: Die Neoklassik begann, den bis dahin vorherrschenden Keynesianismus zu verdrängen. Ich würde die Situation als ambivalent bezeichnen. Es gab sicherlich eine Art Schizophrenie: Einerseits hielt ich in der Behörde die Wirtschaftsmodelle am Laufen, und andererseits kritisierte ich in den Critiques de l’économie politique diese Modelle. Aber sowohl die INSEE als auch die Statistikbehörde haben der kritischen Ökonomie noch Raum gegeben: In der INSEE haben wir noch Makrostudien über den französischen Kapitalismus gemacht, die dann im kritischen politischen Diskurs verwendet werden konnten; die INSEE hat Modellverläufe untersucht, die zu dieser öffentlichen Debatte beitragen konnten.

Der kritische Diskurs war unter bestimmten Bedingungen in der Wirtschaftsverwaltung zulässig. Ich erinnere mich an ein Beispiel: Hugues Bertrand hatte eine bemerkenswerte Analyse der französischen Wirtschaft unter Verwendung marxistischer Parameter (Abteilung der Produktionsmittel, Abteilung der Konsumtionsmittel) vorgenommen und zwei Versionen dieser Arbeit erstellt: eine regelrecht marxistische in Critiques de l‘économie politique, und die andere in der offiziellen Publikation des Ministeriums. Er hatte eine Art Lexikon erstellt. Wenn er zum Beispiel von der organischen Zusammensetzung des Kapitals sprach, übersetzte er dies mit „Kapitalintensität“; der Ausbeutungsgrad wurde in der Zeitschrift des Ministeriums zu „Lohnverteilung“ etc. Man konnte also immer noch marxistische ideologische oder konzeptionelle Schemata verwenden, aber mit Vorsicht bei der Formulierung. Aber dies war, wie gesagt, die Endphase. Danach wurde alles der gängigen Norm unterworfen.

 Wie waren die Verhältnisse im noch recht politisierten Milieu der staatlichen Ökonomen? Standen sie sich politisch nahe und gab es einen intensiven Austausch zwischen den Parteien oder Spannungen?

Es gab eine gewisse Nähe, auch wenn wir nicht denselben Organisationen angehörten. In der Statistikbehörde gab es kaum KPF-Ökonomen, denen gegenüber die gleiche gegenseitige Feindschaft bestand wie zwischen der KPF und der radikalen Linken. Es gab Bruno Théret, der wie ich in der Maulwurf-Gruppe [nahe der LCR] war, und Hugues Bertrand, der später Maoist wurde. Beide wurden später zu herausragenden Vertretern der Regulationstheorie.

 A propos Regulationstheoretiker Sie haben sich in verschiedenen Texten sehr kritisch über sie geäußert.

Wir hatten ein recht positives Verhältnis zu den Beiträgen der Regulationstheoretiker: Boyer war eher eine Institution, Aglietta auch. Aber es gab auch ein kritisches Verhältnis, denn in gewisser Weise musste man ihnen gegenüber seine marxistische Identität behaupten. Es stimmt, dass ich einige ziemlich kritische Artikel über die Regulationstheorie geschrieben habe, den ersten 1983, aber andererseits wurde ich oft als „marxistischer Regulationstheoretiker“ bezeichnet. Die Beziehungen changierten zwischen Anlehnung und gleichzeitiger Abgrenzung, was eine gewisse Nähe nicht ausschließt – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt. Dies änderte sich später, als Boyer, Mistral und andere versuchten, einen neuen Regulationsmodus zu finden – auf der Grundlage neuer Produktivitätsentwicklungen und neuer sozialer Kompromisse –, die uns vielleicht abstrakt wünschenswert erschienen, aber mit den tatsächlich ablaufenden Prozessen überhaupt nicht vereinbar waren.

 Ende der 1970er Jahre traten Sie in die LCR ein, der Sie schon seit einigen Jahren nahegestanden haben. Worin bestand damals Ihre Tätigkeit als Genosse und Wirtschaftswissenschaftler? Haben Sie z. B. an der Ausarbeitung von Programmen mitgewirkt?

Nicht wirklich, jedenfalls nicht am Anfang. Ich hatte schon vorher, bis 1970, als ich bei der PSU war, ein wenig an Programmen mitgeschrieben. Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre habe ich mich viel mit Sraffa und dem Problem der Umwandlung von Werten in Produktionspreise beschäftigt. Dies schien mir wichtig, nützlich … und politisch. Natürlich gehen die Menschen nicht im Namen der Werttheorie auf die Straße. Aber das Argument, Marx habe sich geirrt, weil seine Werttheorie (in Band I des Kapitals) nicht mit seiner Theorie der Produktionspreise (in Band III) übereinstimme, hat in akademischen Kreisen eine große Rolle bei der Diskreditierung von Marx gespielt, und zwar seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.

Ich hielt es daher für sinnvoll, mich zu diesem Thema zu äußern. Ich habe ein ganzes Manuskript geschrieben und einen Artikel in Critiques de l’économie politique, aber dieser Artikel fand kein Echo. Ich habe das Manuskript des Buches an mehrere Wirtschaftswissenschaftler geschickt, ohne Erfolg. Das hat mich sehr beeindruckt, denn in dieser Debatte gibt es eine Menge Verrückter, die glauben, die Lösung mit Bergen von Gleichungen gefunden zu haben. Und ich sagte mir: Vielleicht bin ich einer dieser Verrückten. Also habe ich das aufgegeben. Der Artikel hat seither in den USA eine gewisse Resonanz gefunden, war damals jedoch ein Fehlschlag. Und dann, Anfang der 1980er Jahre, begann ich in der Presse der LCR zu schreiben, in Critique communiste, dann in Rouge, wo ich eine wöchentliche Kolumne hatte. Das war natürlich eine andere Art des Schreibens.

 Waren Sie neben der Parteiarbeit noch gewerkschaftlich tätig?

Ich war in der CFDT. Spontan wäre ich vielleicht eher der CGT zugeneigt gewesen, aber zu dieser Zeit hatten sie alle Linksradikalen rausgesäubert. Also trat ich der CFDT bei und war sogar eine Zeit lang Sektionssekretär bei der Statistikbehörde. Ich habe bei der Zeitschrift Collectif mitgearbeitet, die von linken Gewerkschaftern mehrerer Gewerkschaftsverbände herausgegeben wurde. Und eine Zeit lang haben wir oft bei der INSEE und der Statistikbehörde auf Gewerkschaftsebene zusammengearbeitet. Zum Beispiel haben wir als Gewerkschaftsgliederung zu Beginn der Austeritätspolitik unseren Kommentar als Wirtschaftswissenschaftler zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung veröffentlicht.

 Politisch und wirtschaftlich markierten die 1980er Jahre den Übergang zu einer neuen Ära, die Sie später analysieren konnten. Wann haben Sie als Wirtschaftswissenschaftler und Aktivist diesen Wandel zu einem anderen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem wahrgenommen?

Der wirtschaftliche Epochenwandel hatte sich bereits bei der vorangegangenen Rezession in den 1970er Jahren abgezeichnet. Ich behaupte nicht, dass ich alles vorausgesehen habe, aber wir hatten das Gefühl, dass sich etwas Grundlegendes geändert hatte. Was den politischen Umschwung angeht, so haben wir ihn recht schnell wahrgenommen. Bereits im Mai 1981 haben wir erkannt, dass die grundsätzliche Ablehnung einer Währungsabwertung den Auftakt zu einer Unterwerfung unter das internationale Finanzsystem darstellte. Genauso schnell wurde klar, dass die Regierung Verstaatlichungen nicht als politisches Druckmittel einsetzen wollte, sondern nur als Mittel zur Bereinigung der großen Konzerne. Die Wende zur Sparpolitik in den Jahren 1982 und 1983 bestätigte diesen Trend.

 Wie hat die LCR auf diesen Epochenwandel reagiert?

1982 rief die LCR ihre Wirtschaftskommission – die Arbeitsgruppe Ökonomie – wieder ins Leben. Die Linke war an die Regierung gekommen und hatte bereits begonnen, einen Sparkurs anzusteuern. Insofern mussten wir uns verstärkt ökonomischen Fragen widmen. Der Anstoß dazu kam von der Führung der LCR, die eine Kommission einrichtete, der i. W. Thomas Coutrot, Norbert Holcblat und Jacques Bournay angehörten. Diese sollte konkrete Analysen erstellen. Ich erinnere mich, dass ein Genosse während einer Sitzung sagte: „Wir sollten das Wertgesetz auf internationaler Ebene studieren“, und alle sagten: „Oh nein, sicher nicht!“ Dahinter stand der Gedanke, etwas Konkretes und Nützliches zu tun und zu begreifen versuchen, was gerade passierte. Die Arbeitsgruppe, deren Moderation ich faktisch übernommen hatte, war eine wertvolle Erfahrung. Wir haben gute Schulungsarbeit innerhalb der LCR geleistet und Argumente geliefert. Vielleicht hätte die Leitung dies mehr nutzen sollen.

 Erstreckte sich diese theoretische und praktische Tätigkeit damals auch auf die internationale Ebene? Damit meinen wir die Netzwerke der Vierten Internationale.

Ja, es gab ein Schulungszentrum der Vierten in Amsterdam. Mandel kam ein- oder zweimal dorthin. Und der Austausch war sehr fruchtbar. Es gab Leute wie Francisco Louça, heute Führungsmitglied des Linksblocks in Portugal. Auch Spanier, die bei der Bank von Spanien arbeiteten, aber den ganzen Tag mit Marxismus beschäftigt waren. Menschen aus allen Teilen der Welt, die uns gegen einen gewissen Eurozentrismus wappneten.

 Wie konnte man Marxist bleiben angesichts der ideologischen Umbrüche in den Jahren 1980–1990?

Es war eine schwierige Zeit, ein bisschen wie eine Wüstendurchquerung, eine Art von Reflux, der uns mitgezogen hat. Auch bei den Publikationen machte sich dies bemerkbar, etwa durch die Einstellung von Critiques de l’économie politique. Und natürlich auch in den politischen Organisationen. Ich erinnere mich an eine von der LCR organisierte Feier zum 20. Jahrestag des Mai ‚68, unter freiem Himmel, wenn ich mich recht erinnere. Es war absolut deprimierend. Und die Mitgliederzahl war geschrumpft.

Michel Husson (2019)

Foto: Argentiere92

Inzwischen macht sich in diesen Organisationen ein klarer Generationsbruch bemerkbar: Es gibt viele „Alte“ und auch „Junge“, die sich mittlerweile organisieren, aber dazwischen gibt es nichts: eine Art verlorene Generation, die Generation von damals. Ich denke, das ist der „Mitterrand- Effekt“, das Ergebnis der enttäuschten Hoffnungen der 1980er Jahre. Kurzum, wir waren wirklich geschwächt und marginalisiert. Die Stärke der LCR war jedoch ihre Verankerung in den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen.

 Sie selbst haben sich den sozialen Bewegungen angeschlossen, denn Anfang der 1990er Jahre haben Sie sich stark bei Agir contre le chômage (Aktiv gegen die Arbeitslosigkeit; AC!) engagiert …

Ja, 1993 gab es einen Wendepunkt, eine recht heftige Rezession mit einem sehr starken Anstieg der Arbeitslosigkeit, von dem auch Hochqualifizierte betroffen waren (was die Annahme hinwegfegte, dass Arbeitslosigkeit mit mangelnder Qualifikation zusammenhängt). Auf Initiative von Claire Villiers und Christophe Aguiton entstand die Idee, eine möglichst breite Bewegung zu gründen, mit dem Namen AC! (Zusammen gegen die Arbeitslosigkeit), und ich war als Wirtschaftswissenschaftler mit an Bord.

Zum ersten Mal verband ich abstrakte ökonomische Arbeit (z. B. zur Arbeitszeit) mit einer sozialen Bewegung, die Argumente benötigte. Es wurden zwei Demonstrationen gegen die Arbeitslosigkeit organisiert, eine in Frankreich, die andere auf europäischer Ebene. Dann löste sich die Bewegung auf, da die Thesen von Toni Negri eine breitere Akzeptanz fanden, die gegen Vollbeschäftigung und gegen Arbeitszeitverkürzung gerichtet waren. Unterm Strich hat sich die Parole „Es gibt ein Recht auf Einkommen“ gegen „Es gibt ein Recht auf Beschäftigung“ durchgesetzt – wo doch beides zusammengehört.

 Welche Position vertraten Sie in dieser Diskussion über die Beschäftigungspolitik?

In Mitterrands Programm von 1981 war die Einführung der 35-Stunden-Woche vorgesehen … im Jahr 1985. Und wir waren die Protagonisten dieser Position: weniger arbeiten, damit alle Arbeit haben. Aber auch unter den Befürwortern einer Arbeitszeitverkürzung gab es heftige Debatten. Bereits während der Wahlkampagne von Juquin 1988 gab es innerhalb der „Führungsriege“ Meinungsverschiedenheiten über den Lohnausgleich bei der Arbeitszeitverkürzung. Im Jahr 1993 wurde diese Diskussion erneut aufgegriffen. Alain Lipietz vertrat die Position, dass die Lohnsumme aufgeteilt werden sollte und dass die Arbeitszeitverkürzung mit einer Lohnsenkung einhergehen sollte. Ich hingegen – und auch andere – waren der Meinung, dass der Mehrwert anders verteilt werden müsse zwischen den Löhnen und den Profiten. Aber ich glaube, dass wir alle das eigentliche Problem unterschätzt haben, nämlich die Verpflichtung [der Unternehmer] zu einem Personalausgleich. Das war im Grunde genommen wichtiger als der Lohnausgleich. Denn wenn wir uns auf diesem Weg wirklich der Vollbeschäftigung angenähert hätten, hätte dies das Kräfteverhältnis verändert und wir hätten die Frage des Lohnausgleichs besser angehen können.

 Kommt der Slogan „Lieber ein garantiertes Einkommen als Vollbeschäftigung“, der sich zu Ihrem Bedauern durchsetzen konnte, nicht nahe an die Thesen Ihres „Lehrmeisters“ André Gorz heran?

Das ist kompliziert, denn Gorz hat seine Positionen hierzu erheblich weiterentwickelt, insbesondere in der Frage des Grundeinkommens. Zuerst stand er dem kritisch gegenüber, aber dann hat er sich dafür stark gemacht. In Abschied vom Proletariat (1980) vertrat er die These, dass man sich in der Arbeit nicht befreien kann, dass sie in jedem Fall zum Teil fremdbestimmt ist, dass es am Arbeitsplatz immer Ausbeutung geben wird und dass die Emanzipation woanders stattfinden muss.

Ich habe Gorz in diesem Punkt immer kritisch gegenübergestanden: Ein Ziel der sozialen Umwälzung ist immer auch eine Befreiung am Arbeitsplatz. Dass es ein Nebeneinander geben kann zwischen einer Sphäre, in der alles so bleibt, wie es ist, und einer Sphäre, in der wir frei sind, ist eine Strategie oder eine Vorstellung, die nicht kohärent ist. In diesem Punkt halte ich es mit Simone Weil: „Niemand würde es akzeptieren, zwei Stunden lang Sklave zu sein; die Sklaverei muss, um akzeptiert zu werden, jeden Tag lange genug dauern, um etwas im Menschen zu brechen“.

 War Ihr Engagement bei AC! logische Folge eines Epochenwandels, wo die sozialen Bewegungen die klassische Parteiarbeit ersetzen sollten?

Sicherlich fiel dies zusammen mit dem Zeitenwandel, der durch die Mobilisierungen von 1995 und danach durch die Gründung von Attac (1998) geprägt war. Aber ob diese neuen Mobilisierungsformen die Partei ersetzen sollten … das war eine Diskussion, die damals in der LCR geführt wurde, weil wir erkannten, dass es eine Spaltung zwischen den eher „politischen“ Führungsmitgliedern und denjenigen gab, die sich hauptsächlich in ihren sozialen Bewegungen engagierten. Selbstredend war das Engagement in den sozialen Bewegungen vielversprechender als die Teilnahme an den Sitzungen des Zentralkomitees der LCR … Daher kam auch die Frage nach der Zweckmäßigkeit einer Partei auf. Aber ich bin noch immer insofern Leninist, als ich der Ansicht bin, dass eine Partei notwendig ist, um lokale oder sektorale Engagements auf eine ganzheitliche Ebene zu heben.

 Zu Beginn der 2000er Jahre haben Sie ihre wirtschaftlichen Kenntnisse auch in der Bewegung für den Erhalt der Renten eingebracht.

Die Fondation Copernic und Attac arbeiteten zusammen, um Argumentationshilfen zu erstellen, die zunächst nahezu ungehört blieben, aber mit einem Mal von der Bewegung übernommen wurden. Trotz der letztlichen Niederlage war dies eine interessante Erfahrung. Plötzlich gab es eine Verbindung zwischen meiner theoretisch-analytischen Tätigkeit und der sozialen Bewegung. Ich erinnere mich an die eher düsteren Sitzungen im Februar 2003, bei denen nur ein paar Leute anwesend waren. Und dann, einige Monate später, an einem abgelegenen Ort in Seine-et-Marne, war der Saal voll mit 300 oder 400 Leuten. Dasselbe geschah 2005 bei der Volksabstimmung über den Vertrag über eine Verfassung für Europa.

 Ein Wort dazu, wie Sie Ihre Rolle begreifen. In einem Ihrer Bücher schreiben Sie: „Der kritische Wirtschaftswissenschaftler muss beide Enden zusammenhalten“, d. h. sowohl wissenschaftlich fundierte Arbeit leisten als auch fähig sein, das Wissen zu vermitteln. Wie schaffen Sie dieses Kunststück und was für ein Engagement ist dafür erforderlich?

Ich sehe dies als eine Art Produktionskette: Auf der einen Seite gibt es unverständliche, technische, mathematische Wirtschaftsstudien und dann eine ganze Reihe von Zwischenstufen, die zur alltäglichen politischen Diskussion führen (zum Beispiel: „Wir müssen den Mindestlohn für junge Leute senken, sonst können wir sie nicht einstellen“). Meine Aufgabe als kritischer Wirtschaftswissenschaftler ist es, zu zeigen, wie wir vom einen zum anderen kommen, als Wirtschaftswissenschaftler die ursprüngliche Argumentation zu kritisieren, um die daraus abgeleiteten politischen Konsequenzen zu entkräften, also eine Gegenexpertise zu erstellen. Es geht darum, einen Gegendiskurs zu schaffen, der sich der herrschenden Politik entgegenstellt. Man muss also zwei Register bedienen, das wissenschaftliche und das politische. Und das ist sehr schwierig. Denn für die akademische Welt sind wir zu sehr politisch engagiert, und für die Aktivist*innen sind wir zu technisch.

Wie diese Arbeit dargestellt werden muss, ist meines Erachtens eine Mischung aus beiden Sphären. Ich habe den Eindruck, dass viele meiner Texte nicht sehr homogen sind, dass sie eher technische Aspekte mit politischer Radikalität kombinieren. Damit versuche ich, dieser Herausforderung gerecht zu werden, dieser Schwierigkeit, für die es wahrscheinlich keine Lösung gibt. Aber es muss trotzdem getan werden. Über die Renten sagte die Regierung beispielsweise: „Es wird eine Flut von alten Menschen geben, die das gesamte Volkseinkommen in Anspruch nehmen, also müssen wir die Renten senken“. Wenn Sie keine „technischen“ Analysen haben, die Ihnen zeigen, dass dieser Zusammenhang nicht so einfach ist, haben Sie ein Problem. Wir müssen also versuchen, den Aktivist*innen wirtschaftliche Analysen verfügbar zu machen... Kurze Texte, Bücher, die Website dienen diesem Zweck.

 Bein einem ihrer letzten politischen Engagements ging es um die Teilnahme am Schuldenaudit in Griechenland.

Ja, ich wurde von Eric Toussaint angesprochen, der zusammen mit anderen die CADTM betreibt. Zoe Konstantopoulou, die Präsidentin des griechischen Parlaments, hatte eine hochoffizielle Kommission eingesetzt, die die Schulden des Landes prüfen sollte. Es war eine sehr bereichernde Erfahrung mit Menschen aus der ganzen Welt, aus Ecuador, Brasilien, Zypern, Spanien etc. Das Ziel war, eine Argumentationshilfe für ein Schuldenmoratorium zu erstellen. Doch dieses Projekt wurde – obwohl wir sehr schnell arbeiteten – durch die Ereignisse überholt, insbesondere das berühmt-berüchtigte Referendum von 2015.

 Ist das Interesse an Marx und dem Marxismus mittlerweile wieder erwacht, zum Beispiel aufgrund der Krise?

Als ich mich mit einer kürzlich erschienenen Biographie auseinandersetzen musste, in der die Meinung vertreten wird, dass Marx nichts zur heutigen Wirtschaftswissenschaft beitragen kann, habe ich mir diese Frage gestellt. Das Wesentliche bei Marx ist für mich vor allem die Werttheorie. Ich halte sie auch heute noch für nützlich, zum Beispiel um die Finanzwirtschaft zu analysieren (die für mich eine Wertabschöpfung und keine Wertschöpfung ist). Und ich bin auch der Überzeugung, dass der Kapitalismus im Grunde keine Perspektive schafft und nur regressiv funktionieren kann. Deshalb kritisiere ich in meinem Buch den Keynesianismus, also die Vorstellung, es könnte im Kapitalismus wieder einen Aufschwung, eine kontinuierliche Dynamik, ein mögliches Gleichgewicht geben.

Was das Wesen des Kapitalismus und die Werttheorie angeht, bin ich ziemlich orthodox. Aber für andere wichtige wirtschaftliche Probleme der Gegenwart, wie die Euro-Krise, brauchen wir meiner Meinung nach keinen Marx. Ich habe zum Beispiel mit orthodoxen Marxisten gestritten, die sagen, dass die Krise zwangsläufig auf den tendenziellen Rückgang der Profitrate zurückzuführen ist – was mich überhaupt nicht überzeugt.

Was mein Verhältnis zu Marx betrifft, gibt es eine Anekdote, die mich sehr beeindruckt hat. Ich habe zwei Jahre lang in Mexiko gearbeitet und unterrichtet (zwischen 1985 und 1987). Ich habe dort, am Institut für Statistik, ein Modell der mexikanischen Wirtschaft erstellt und festgestellt, dass der Handel mit Dienstleistungen letztlich sehr empfindlich auf den Wechselkurs zwischen Peso und Dollar reagiert. Das Modell funktionierte gut: Wenn der Peso stark ist, kaufen die reichen Mexikaner in den USA. Da kam ein linker Student und sagte zu mir schockiert: „Das ist doch pure Neoklassik“. Das hat mich sehr beeindruckt, denn natürlich ist eine Beurteilung anhand von relativen Preisen neoklassisch, wenn man so will, aber dies zu bestreiten, bloß weil es nicht streng marxistisch ist … Für diesen Studenten war der Marxismus zu einem Korsett geworden, das ihn unfähig machte, die realen Vorgänge zu analysieren. Ich sagte ihm, er solle an die Grenze gehen und sich die Menschen ansehen, die auf der anderen Seite Schlange stehen, um zu tanken.

 Auch wenn es keine wirkliche „Marx-Renaissance“ gibt, geben Sie dann zu, dass es darüber hinaus eine „Renaissance des kritischen Denkens“ gibt?

Wir befinden uns in einer Phase, in der es eine Vielzahl von interessanten Dingen gibt. Der kritische Diskurs blüht auf und die Diskussion über die verschiedenen Protestbewegungen – umweltpolitische, feministische, antirassistische etc. Aber das große Problem ist meines Erachtens die Koordination oder Konvergenz zwischen diesen Bewegungen. In dieser Hinsicht fühle ich mich nach meinem Austritt aus der LCR im Dezember 2006 ein wenig wie ein organisationspolitisches Waisenkind. Ich bin auch pessimistisch, was das Tempo des Klimawandels und dessen Herausforderungen angeht. Als Wirtschaftswissenschaftler habe ich mir den Spaß gemacht, Berechnungen anzustellen, in denen ich die möglichen CO2-Einsparungen, das Bevölkerungswachstum und das mögliche Wachstum des BIP miteinander verglichen habe … Und das Ergebnis ist, dass die Ziele des Weltklimarats absolut radikale Umwälzungen voraussetzen, die mir leider unerreichbar erscheinen.

      
Mehr dazu
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Michel Husson: Welches produktivistische Modell?, Inprekorr Nr. 6/2015 (November/Dezember 2015)
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Michel Husson: Politische Ökonomie des „Euro-Systems“, Inprekorr Nr. 5/2012 (September/Oktober 2012)
Michel Husson: Der Kapitalismus in der Krise, Inprekorr Nr. 444/445 (November/Dezember 2008)
 
 Die Berücksichtigung ökologischer Fragen scheint neu bei Ihnen zu sein. Wann hat das begonnen? Mit Ihrem Text über den „grünen Sozialismus“ im Vorwort zum Buch von Daniel Tanuro (2010)?

Nein, es ist ein bisschen früher. Bei einer Sommeruniversität der LCR hatte ich eine Kontroverse mit Michel Lequenne zum Thema: „Gibt es zu viele Menschen auf der Erde?“ In der Folge schrieb ich 1994 einen Artikel zu diesem Thema mit einem Zitat von Proudhon als Motto, das ich für brillant hielt („es gibt nur einen Menschen zu viel auf der Erde, und das ist Malthus“). Und etwas später, im Jahr 2000, habe ich ein kleines Buch mit dem Titel Sind wir zu viele? geschrieben, in dem es ein ganzes Kapitel über Ökologie gibt. Das war im Grunde der Zeitpunkt, an dem die Ökologie in meine Arbeit eingeflossen ist. Ich gehöre einer Generation an, die sehr produktivistisch orientiert war … Ökonomen haben sich oftmals kritisch mit dem Inhalt des Wachstums auseinandergesetzt, aber es gab keine wirkliche Infragestellung der Produktion selbst.

Danach ging diese Entwicklung immer weiter. Aber ich denke, dass dies eher eine Erweiterung als eine radikale Veränderung darstellt. Denn es gibt bereits bei Marx einige Elemente, die für eine ökologische Kritik genutzt werden können. Ich behaupte nicht, wie J. Bellamy Foster, dass Marx ein Ökologe ante litteram war, aber man kann durchaus einen Zusammenhang zwischen den sozialen und den ökologischen Problemen herstellen.

 Das Ziel einer sozialen Umwälzung, das Sie als Wirtschaftswissenschaftler und als Aktivist verfolgt haben, ist – zugegebenermaßen – noch weit davon entfernt, erreicht zu sein. Wie erklären Sie diesen Misserfolg? Mit anderen Worten: Was hat im Diskurs der kritischen Wirtschaftswissenschaftler gefehlt (und fehlt vielleicht immer noch)?

Im Unterschied zu dem, was manchmal behauptet wird, leidet die sozialrevolutionäre Linke nicht an einem Mangel an Alternativen. Aber es braucht natürlich auch eine entsprechende Strategie. In dieser Hinsicht lasse ich mich weiterhin von den Ansätzen von Gorz und Mandel leiten. Man ist verblüfft, zu lesen, dass Mandel in den 1960er Jahren eine Strategie antikapitalistischer Strukturreformen vorschlug: Wenn wir heute von „Strukturreformen“ sprechen, sind Gegenreformen gemeint. Dies zeigt, wie weit wir gekommen sind. Im Großen und Ganzen bleibt dieser Ansatz jedoch gültig und beruht auf zwei Prinzipien: dem Bruch mit der kapitalistischen Ordnung und der Hinwendung zu einem anderen Modell. An diesem Punkt unterscheide ich mich von denjenigen, die ich als „Revolutionaristen“ bezeichne und die einen dreiteiligen Plan verfolgen: 1. der Kapitalismus ist monströs; 2. der Keynesianismus ist (bestenfalls) unwirksam; 3. der Kapitalismus muss gestürzt werden. Auch wenn ich diesen drei Punkten zustimme, so fehlt doch die Antwort auf die Frage: Wie soll das geschehen? Wenn mir diese Frage gestellt wird, z. B. „Wie kann man das Kräfteverhältnis ändern“, entdecke ich jedes Mal die Grenzen der Analyse, auch der kritischen. Und ich weiche aus …

Aus: Savoir/Agir 2017/4 (Nr. 42), Seite 61 bis 70
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2021 (September/Oktober 2021). | Startseite | Impressum | Datenschutz