Covid-19-Pandemie/Großbritannien

Keine Rückkehr zum neoliberalen Normalzustand!

Aus der Berichterstattung der Mainstream-Medien wäre man nie darauf gekommen: Wenn man Laura Kuenssberg auf BBC hört, müsste man glauben, dass Boris Johnsons Kehrtwende zu einem nationalen Lockdown für England auf „wissenschaftlichen Ratschlägen“ beruht.

Neil Faulkner


Revolte


Doch die geheime Wahrheit ist, dass die Tories einer wachsenden Revolte von unten ausgesetzt waren – einer Revolte von Bildungsgewerkschaften, besorgten Eltern und Gemeinderäten. Die wissenschaftlichen Ratschläge – jedenfalls die seriösen – haben sich nicht geändert: Wir brauchen einen nationalen Lockdown, um die Ansteckungen auf nahezu Null zu bringen und wir brauchen ein effektives öffentliches System zum Aufspüren, Testen, Verfolgen, Isolieren und Unterstützen, um Ausbrüche nach dem Lockdown zu bewältigen. Was sich geändert hatte, war der Widerstand.


Berichterstattung


Warum hat Frau Kuenssberg ihren Job nicht gemacht und über die Fakten hinter den Schlagzeilen berichtet? Warum hat sie keine Google-Suche nach dem Leben außerhalb der Westminster-Blase durchgeführt? Warum hat sie nicht berichtet, dass 15 000 Lehrer*innen der [Bildungsgewerkschaft] National Education Union (NEU) beigetreten sind? Warum hat sie nicht berichtet, dass 100 000 Menschen an einem NEU-Online-Treffen zur Schulschließungsstrategie der Gewerkschaft teilgenommen haben? Warum hat sie nicht berichtet, dass 250 000 Menschen die Online-Petition der Gewerkschaft unterschrieben haben?

Aus der „Berichterstattung“ der BBC (verdienen die Nachrichtensendungen dieses Wort?) wird man auch nicht erfahren, wie „rekordverdächtig“ die Infektionsrate und die Zahl der Todesopfer in Großbritannien sind. Man müsste annehmen, die ganze Welt habe mit einer außer Kontrolle geratenen Pandemie zu kämpfen und wir „alle zusammen“ seien betroffen. Das entspricht jedoch in keiner Weise den Tatsachen.


Vietnam


In Vietnam – einem armen Land, aber mit einem tief verwurzelten öffentlichen Gesundheitssystem – waren insgesamt 1504 Infektionen zu verzeichnen, insgesamt 35 Todesfälle, die Neuinfektionsrate beträgt jetzt 0. In Neuseeland sind es insgesamt 2186 Infektionen, 25 Todesfälle, Neuinfektionen 0. Es gibt viele andere Beispiele wie diese.

 

Ein Virus, das die Menschen gefährdet, entlarvt ein System, das Vermögen und Profit schützt. Eine andere Welt ist möglich …
(Grafik: artistsatwork)

Die weltweiten Gesamtzahlen – derzeit 85 Millionen Infektionen insgesamt, fast zwei Millionen Todesfälle und mehr als eine halbe Million Neuinfektionen pro Tag – unterscheiden sich stark von Land zu Land, wobei rechtsgerichtete, unternehmerfreundliche neoliberale Regimes einen unverhältnismäßigen Anteil an Infektionen und Todesfällen zu verantworten haben.


Covid: eine Krankheit des Systems


Covid-19 ist kein Akt Gottes, keine Laune der Natur, keine chinesische Verschwörung. Es ist die unbeabsichtigte Folge eines globalisierten kapitalistischen Systems, das außer Kontrolle geraten ist – eine weitere „Externalität“ wie Klimawandel, Luftverschmutzung und Plastikmüll. Es wird seit einem Vierteljahrhundert von besorgten Wissenschaftler*innen vorhergesagt, die sich der Auswirkungen davon bewusst sind, dass das Agrobusiness die natürliche Wildnis zerstört, dass riesige neue industrielle Zuchtkomplexe errichtet werden, dass die Entwicklung von Arbeitsreservearmeen in Mega-Slums befördert und weltweit mit „just-in-time“-Lieferketten gearbeitet wird.


Gesundheitswesen


Wir erlauben dem System – einem kapitalistischen Wirtschaftssystem, das eine winzige Minderheit auf Kosten des Restes der Menschheit und der Ökosysteme der Welt bereichert –, neue Arten tödlicher Krankheiten zu schaffen. Und wir erlauben es den rechten Regierungen, wesentliche Infrastrukturen des öffentlichen Gesundheitswesens zu kürzen und zu privatisieren, so dass die kollektive Abwehr geschwächt ist, wenn neue Krankheitserreger auftauchen.

Die Johnson-Regierung ist in dieser Hinsicht Weltklasse. Zehn Jahre Kürzungen und Privatisierungen der Tories haben das [Gesundheitssystem] NHS zum Erliegen gebracht. Der Brexit hat einen wesentlichen Beitrag zum Personalmangel geleistet: 40 000 in der Krankenpflege und 100 000 im Pflegesektor. Das alles, bevor wir uns genauer ansehen, wie seine drittklassige Truppe aus Schuljungs und Business-Gangstern die Pandemie völlig falsch behandelt hat.

Der Lockdown kam zu spät. Sie schickten infizierte Menschen in die Pflegeheime. Der Lockdown wurde zu früh aufgehoben. Verträge für Schutzausrüstungen und Testmaterialien wurden Profiteuren und Freund*innen der Tory-Minister*innen zugeschoben. Sie ließen das Auflaufen der zweiten Welle zu und schufen Bedingungen für die Entstehung und Ausbreitung einer neuen Variante. Als sie erneut handelten, war es zu wenig und zu spät; Universitäten und Schulen fungierten weiter als wichtigste Ansteckungszentren. Sie drohten mit rechtlichen Schritten gegen Gemeinderäte, die strengere Vorsichtsmaßnahmen gegen Covid wollten. Und die ganze Zeit haben sie gelogen und gelogen und gelogen.


Eine neue Stimmung?


Neil Faulkner
(Foto: Wikimedia)

 

Aber ist das nur meine Phantasie oder bewegt sich etwas in den Tiefen der Gesellschaft? Gibt es Anzeichen? Ändert sich die Haltung in der britischen Arbeiterklasse zur Pandemie (85 % oder mehr von uns sind Arbeiter*innen, keine Bosse oder Manager*innen)?

Das kapitalistische System hat das Covid-19-Virus geschaffen. Die neoliberalen Regime haben es ihm ermöglicht zu gedeihen. Die politische Rechte – mit ihrer Ideologie des „freien Marktes“, ihrem wettbewerbsorientierten Individualismus, ihrem Hass auf den öffentlichen Sektor, ihrer kaltschnäuzigen Gleichgültigkeit gegenüber Benachteiligten, ihrem Rassismus gegen Migrant*innen – hat nichts von Bedeutung zu dieser Krise zu sagen.

Die Pandemie spielt in Richtung Prioritäten der politischen Linken. Wir sind für öffentliche Dienste, soziales Mitgefühl und Unterstützung durch die Gemeinschaft. Johnson sagt: „all in it together“ (wir sitze alle in einem Boot), aber das ist eine weitere Lüge, ein weiteres Weißwaschen des korrupten Gangster-Kapitalismus, wie es seinen Umgang mit der Katastrophe geprägt hat. Wenn wir dagegen davon sprechen, dass kollektives Handeln notwendig ist, meinen wir es so, und dies – kein reaktionärer Müll über „Unternehmertum“ und „Handlungsträger“ – hängt mit den Instinkten von Millionen gewöhnlicher anständiger Menschen zusammen, die gegen eine tödliche Krankheit ankämpfen.

      
Weitere Artikel zum Thema
Koordination der ISO: "Konjunkturprogramme" für ihre Profite oder ein Aktionsplan für unser Leben?, die internationale Nr. 6/2020 (November/Dezember 2020)
Manuel Kellner: Aktionsplan im Sinne der Übergangsforderungen, die internationale Nr. 6/2020 (November/Dezember 2020)
Helmut Dahmer: Seuchenbekämpfung und Proteste, die internationale Nr. 6/2020 (November/Dezember 2020)
Sekretariat der SAP: Corona wird für Rassismus missbraucht, die internationale Nr. 6/2020 (November/Dezember 2020) (nur online)
Jakob Schäfer: Der Staat in der Corona-Krise, die internationale Nr. 6/2020 (November/Dezember 2020)
Julien Salingue: Die Welt nach Corona aus Sicht des Kapitals, die internationale Nr. 5/2020 (September/Oktober 2020)
Büro der Vierten Internationale: Erklärung zur Corona-Krise, die internationale Nr. 4/2020 (Juli/August 2020)
Neil Faulkner: Brexit, Farce und die Lexit-Linke, die internationale Nr. 3/2019 (Mai/Juni 2019)
 

Gewerkschaften


Die massive Reaktion auf die Gewerkschaftskampagne könnte ein Anzeichen für eine neue Stimmung sein. Die Welle der Unterstützung für die Beschäftigten im Nationalen Gesundheitssystem, das Heimpflegepersonal und andere unverzichtbare Arbeitskräfte – die Mehrheit (wenn auch keineswegs alle) im öffentlichen Sektor – könnte ein weiteres Anzeichen sein.

Die Tatsache, dass meine Partnerin, eine pädagogische Assistentin an einer örtlichen Schule, ihrem Schulleiter – noch vor Johnsons Kehrtwende um 180 Grad – sagte, sie werde dem Rat ihrer Gewerkschaft UNISON folgen, nicht in die Schule zu gehen; die Tatsache, dass sie von mindestens einer anderen örtlichen Assistentin wusste, die dasselbe getan hatte; die Tatsache, dass eine andere Assistentin sie gefragt hat, ob sie der Gewerkschaft beitreten solle; die Tatsache, dass die WhatsApp-Konten der Beschäftigten voll von weitergeleiteten Tory-Witzen sind – diese und eine Million anderer seismischer Signale können bedeuten, dass sich in den Tiefen der britischen Arbeiterklasse etwas bewegt.


Radikal


Hoffentlich. Denn ohne radikale Veränderung werden dieser Pandemie andere folgen, vielleicht noch tödlichere. Denn ohne radikale Veränderungen stehen wir vor einer wirtschaftlichen Katastrophe, einem sozialen Zusammenbruch und einer Klimakatastrophe. Ein System, das auf ungezügelter Konzernmacht und grotesker Gier an der Spitze basiert, ist zu einer existenziellen Frage für die Menschheit und den Planeten geworden. Es darf keine Rückkehr zum neoliberalen Normalzustand geben. Wir müssen uns darauf vorbereiten, für eine neue, bessere, gesündere und zivilisiertere Welt zu kämpfen.

7. Januar 2020
Neil Faulkner ist Archäologe, Historiker, politischer Aktivist und Autor u. a. der Bücher A People’s History of the Russian Revolution (London: Pluto Press, 2017) und A Radical History of the World (London: Pluto Press, 2018) und Herausgeber des Bands Creeping Fascism: What It Is & How to Fight It (2. erw. Ausg., London: Public Reading Rooms, 2019).
Er war langjähriges Mitglied der Sozialist Workers Party (SWP) und ist Mitglied des Koordinierungskomitees von Anti-Capitalist Resistance (A*CR).
Übersetzung: Björn Mertens



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 1/2021 (Januar/Februar 2021) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz