Debatte

Zur Kritik von Manuel Kellners Beitrag „Das Werk von Ernest Mandel“

Zum 25. Todestag von Ernest Mandel erschien in die internationale Nr. 5/2020 (September/Oktober 2020) ein Gedenkartikel von Manuel Kellner, den ich unbefriedigend finde, weil er das Werk Mandels nicht angemessen würdigt.

Johann Friedrich Anders


1
Kellner erklärt zwar: „Ernest Mandel (1923 – 1995) hat uns ein wichtiges theoretisches Werk hinterlassen, das für jeden unverzichtbar ist, der eine Bilanz des 20. Jahrhunderts ziehen und zur Ausarbeitung revolutionärer Perspektiven für das 21. Jahrhundert beitragen will.“

Aber anstatt zu erläutern, warum er Mandels Werk für unverzichtbar hält, beschränkt Kellner sich darauf, Mandels Ausführungen zu verschiedenen Themen zu referieren. Das ist zweifellos notwendig, aber nicht ausreichend.

Was Mandel theoretisch Neues geleistet hat, wovon bzw. von wem er sich kritisch abgrenzt, was Mandels Einschätzungen aus heutiger Sicht taugen – auf diese Fragen bleibt Kellner in seinem Beitrag eine Antwort schuldig.


2
Bei den theoretischen Positionen von Mandel, die Kellner referiert, handelt es sich häufig um grundlegende und, soweit ich weiß, unstrittige trotzkistische Positionen, lax formuliert: um trotzkistische ‚Gemeinplätze‘.

Ich gebe 2 Beispiele. Kellner schreibt:

„Um den Sozialismus zu erreichen, muss für Mandel die Arbeiter*innenklasse, indem sie alle unterdrückten Schichten mit sich reißt, die Macht in ihre eigenen Hände nehmen und sich die vom Kapitalismus auf globaler Ebene entwickelten Produktivkräfte aneignen, um sie im eigenen Interesse zu verwalten und umzuwandeln.“

Und über die Notwendigkeit für die Arbeiterbewegung, hauptamtliches Personal zu haben, schreibt Kellner:

„Ernest Mandel war sich dessen wohl bewusst. Aber er wies auf den Preis hin, der dafür zu zahlen sei: die Entstehung einer privilegierten bürokratischen Schicht innerhalb der Arbeiterorganisationen …“

Ich finde es befremdlich, dass Kellner in seinem Beitrag nichts dazu mitteilt, wie gut die von ihm referierten (von mir zitierten) theoretischen Ansichten Mandels begründet sind, wie weitgehend sie historisch bestätigt sind. Degradiert Kellner mit dem durchgehenden Nicht-Stellen bzw. Offenlassen dieser Frage nicht stillschweigend diese theoretischen Positionen zu bloßen Ansichten?

(Übrigens war sich Mandel nicht dessen „wohl bewusst“, also: vielleicht bewusst. Nein, er war sich dessen wohlbewusst – also: sehr bewusst. Aber das ist vermutlich bloß eine Rechtschreib-Nachlässigkeit von Kellner, die allerdings den Sinn seines Satzes deutlich ändert.)


3
Im Folgenden wende ich mich sachlichen Fehlern zu, die ich bei einem Kenner des Mandel’schen Werks, wie Kellner es ist, erstaunlich finde (Die folgenden Kursivierungen sind von mir – J.-F.A.).

Über „die Funktion von zyklischen Krisen“ schreibt Kellner: „Aus der Sicht des Kapitals handelt es sich dabei um ‚reinigende‘ Krisen, die die Preise krampfartig auf reale Werte zurückführen und damit dazu führen, dass nur die stärksten Firmen und das stärkste Kapital an ihrem Platz bleiben – zum Nachteil der Schwächsten, die verschwinden.“

Ich bin kein genauer Kenner der marxistischen Ökonomie. Aber diese Darstellung von zyklischen Krisen ist meines Erachtens schwerlich mit der marxistischen ökonomischen Theorie in Einklang zu bringen. Zyklische Krisen sind doch wohl gekennzeichnet durch Preisstürze; Krisen führen zur Entwertung der produzierten Waren. Das ist keine Rückführung der Preise auf ihre „reale(n) Werte“. Und der Verkauf von immer mehr Waren zu Verlustpreisen führt dazu, dass nur die stärksten Firmen überleben. Die Ursache dafür ist ebenfalls nicht die Rückführung der Preise auf „reale Werte“, sondern die größere Fähigkeit starker Firmen, Verluste zu verkraften. Schließlich: Das Überleben der stärksten Firmen ist kaum ein „an ihrem Platz bleiben“. Diese Firmen nehmen immerhin zusätzlich noch den „Platz“ der bankrottgegangenen Firmen ein – wenn man denn überhaupt dieses, wie mir scheint, wenig treffende Bild benutzen will.

      
Weitere Artikel zum Thema
Manuel Kellner: Über das Werk von Ernest Mandel sinnvoll diskutieren!, die internationale Nr. 1/2021 (Januar/Februar 2021)
Manuel Kellner: Das Werk von Ernest Mandel, die internationale Nr. 5/2020 (September/Oktober 2020)
Michel Husson: Die Aktualität der Wirtschaftstheorie von Ernest Mandel, die internationale Nr. 5/2020 (September/Oktober 2020)
Michael Löwy: Ernest Mandel und der Ökosozialismus, die internationale Nr. 5/2020 (September/Oktober 2020)
 

Über „Substitutionalismus“ bei Lenin und Trotzki schreibt Kellner: „Ernest Mandel gibt überzeugende Beispiele nicht nur für Lenin und Trotzki, sondern zum Beispiel auch für Luxemburg und Gramsci!“

Wenn ich auch die Werke von Luxemburg und Mandel nicht genau kenne, so erscheint mir die Behauptung, Luxemburg sei laut Mandel zeitweilig eine Verfechterin des Substitutionalismus gewesen, schon erstaunlich. Ein Blick in Mandels „Geld und Macht“ zeigt nämlich, dass er das gar nicht behauptet. Kellner erinnert sich hier falsch und verwechselt Luxemburg mit dem Austromarxisten Otto Bauer. Übrigens stimmt auch das „zum Beispiel“ nicht. Mandel nennt keine weiteren Sozialisten, die Substitutionalisten waren.


4
Kellner beschließt seinen Beitrag über das Mandel’sche Werk mit 3 Fragen, von denen die zweite und die dritte, so, wie sie formuliert sind, allerdings überhaupt keine Fragen sind.

  1. „Eine Frage, die dem revolutionären Marxismus am Herzen liegt, ist, ob die Realität der sozialistischen Weltrevolution auch im 21. Jahrhundert noch aktuell ist und ob die Arbeiter*innenklasse nicht ihr Potential verloren hätte, einen solchen Prozess anzuführen. … Wie sieht es heute aus? Es ist nicht bewiesen, dass der Wiederaufbau einer emanzipatorischen und revolutionären Arbeiter*innenbewegung weiterhin möglich ist …“

    Kellners Antwort auf seine erste Frage ist sicherlich zutreffend, lässt aber leider so gut wie alles offen. Sie trägt jedenfalls nichts zur Beantwortung der Frage bei, worin Mandels Beitrag zur Lösung der Probleme des 20. und 21. Jahrhunderts besteht.

  2. „Eine weitere zu diskutierende Frage betrifft Ernst Mandels Marxismus, der ein ‚offener‘ Marxismus gewesen war und sich gleichzeitig bestimmten Orthodoxien (‚marxistisch‘, ‚leninistisch‘, ‚trotzkistisch‘) verpflichtet fühlte, sowie ein starkes Streben nach einer allumfassenden Kohärenz enthielt. Ich deute das als Ausdruck des Bedürfnisses, den Zusammenhalt der eigenen Organisation zu sichern und zu stärken, die sich weder auf ein ‚sozialistisches Heimatland‘ noch auf breite Massen stützen konnte.“

    Ich vermag nicht zu verstehen, was nach diesen Ausführungen Kellners an Mandels „offenem“ Marxismus ein Problem sein sollte. Ausführungen dazu macht Kellner in seinem Beitrag keine.

  3. Kellners dritte „Frage“ lautet: „Ernest Mandel mochte es nicht, wenn man von ihm sagte, er sei oft ‚zu optimistisch‘.“

    Auch dies ist offenkundig keine Frage, sondern eine private Information über einen Charakterzug Mandels. Inwiefern diese Aussage relevant sein könnte, bleibt offen. Meint Kellner möglicherweise, es sei die Frage zu stellen, ob Mandels Optimismus vereinzelt oder gar systematisch seine Analysen verzerrte, und diese Frage sei bejahend zu beantworten?


5
Insgesamt kann ich in diesem Beitrag über das Werk von Ernest Mandel leider weitgehend nur das Versäumnis einer Würdigung der theoretischen Leistung Mandels sehen.


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2020 (November/Dezember 2020). | Startseite | Impressum | Datenschutz