Ukraine

Volksbewegung und Imperialismen

Diese Resolution ist am 8. Juni 2014 bei einer Enthaltung vom Exekutivbüro der IV. Internationale angenommen worden.

Büro der IV. Internationale

Die sehr tiefe politische Krise, die die Ukraine seit November 2013 durchmacht, ist durchaus noch nicht zu Ende. In diesem Land ist der Prozess der Bildung einer Nation nach einer sehr langen nationalen (im wesentli­chen polnischen und russischen) Unterdrückung nicht abgeschlossen, der Nationalstaat ist schwach ausgeprägt. Das gilt umso mehr, als das Land zur Geisel des russischen imperialistischen Drucks auf der einen und dem der euro-atlantischen Mächte auf der anderen Seite geworden und dem gesellschaftlich zersetzenden Charakter des Neoliberalismus ausgesetzt ist.


1. Vom Maidan zur provisorischen Regierung: eine machtvolle Mobilisierung der Bevölkerung


Drei Monate lang (vom 21. November 2013 bis zum 22. Februar 2014) haben sich Zehntausende (und an man­chen Tagen Hunderttausende) Menschen auf dem Platz („Maidan“) der Unabhängigkeit im Zentrum von Kiew versammelt. Was der Bewegung Ende 2013 ihren Massencharakter verliehen hat, war die Repression gegen die ersten Protestierenden, die pro-europäisch und gegen die russischen Versuche, die Assoziation mit der EU zu untersagen, auftraten, zusammen mit der Ablehnung der Korruption, mit der Hoffnung auf Wohlstand, die idea­lisierend mit „Europa“ verbunden wurde, auf Demokratie und auf nationale Souveränität.

Wir haben im Februar (in der Resolution des Internationalen Komitees) die charakteristischen Merkmale die­ser Bewegung unterstrichen: Sie wies „eine Kombination von revolutionären (demokratischen, antihierarchi­schen, selbstorganisierten) und reaktionären Zügen auf. Welche die Oberhand gewinnen, ist nach wie vor eine Frage von politischen und sozialen Kämpfen. Diese Züge waren eng verbunden mit dem Charakter der gegen­wärtigen postsowjetischen ukrainischen Gesellschaft (atomisiert, ohne klare Klassenidentität, Verfall des Bil­dungswesens und Hegemonie der reaktionären nationalistischen Ideen, kombiniert mit einem legitimen Engage­ment für nationale Unabhängigkeit und dem dramatischen Erbe des Stalinismus).“

Wir können die Schwächen und Grenzen des Maidan präziser fassen:


2. Der Sturz von Janukowitsch: ein enteigneter Sieg des Volkes und eine Rechtsregierung, kein „faschistischer Putsch“


Der Sturz von Janukowitsch hat zum Zerfall der Partei der Regionen geführt, die unter seiner Präsidentschaft zum Hauptinstrument der Macht der Oligarchie geworden war; ihre Basis befand sich in der Ost-Ukraine, wo die ukrainische Oligarchie sich in den großen Industriebranchen entwickelt hat, die Anfang der 1990er Jahre bei der kapitalistischen Restauration auf betrügerische Weise privatisiert wurden. Diese Partei verfügte dort aufgrund der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse über eine starke Wählerbasis. Die Implosion der Partei der Regio­nen sowie die Auflösung der „Berkut“, der Sondereinheiten für Repression, haben den ukrainischen Staat ge­schwächt und ihn um einen bedeutenden Teil seiner Herrschaftsstrukturen gebracht.

Obwohl alle MinisterInnen der neuen Regierung die Zustimmung von der Menge auf dem Maidan erhalten mussten, ist die Mobilisierung der Bewegung nach dem Antritt der provisorischen Regierung stark zurückgegan­gen.

Der Sturz von Janukowitsch bedeutete den Sieg einer quasi-aufständischen Bewegung und kam nicht durch einen „vom Westen unterstützten antirussischen, faschistischen Putsch“ zustande. Auch wenn Janukowitsch 2010 durch Wahlen, die als legitim anerkannt wurden, ins Amt kam, ist er selbst für seinen Untergang verant­wortlich. Durch jahrelange oligarchische Bereicherung seiner selbst und seiner Familie, während das Land ver­armte, hat er sich tief diskreditiert, auch in seiner Heimatregion, dem Donbass. Seine unerwartete Weigerung im November, die Vereinbarung mit der EU zu unterzeichnen, war ein Anzeichen für das Abgleiten zu einer Präsi­dialmacht, die immer weniger unter der Kontrolle sogar seiner eigenen Partei und des Parlaments stand. Sein Sturz wurde durch die Repression und die Toten auf dem Maidan beschleunigt. Zur Frage nach der der Verantwortlung für die Toten hat die Kiewer Regierung am 25. April den Internationalen Strafgerichtshof angerufen, um die Ereignisse vom 21 November 2013 bis zum 22. Februar 2014 untersuchen zu lassen.

Das Parlament hat nach der Flucht des Präsidenten mit sehr großer Mehrheit für seine Absetzung gestimmt und die provisorische Regierung ernannt. Deren Zusammensetzung spiegelt weitgehend den von westlichen Diplomaten unterstützten Kompromiss wieder, der mit Janukowitsch ausgehandelt worden war, bevor er floh. Nachdem der Kompromiss von allen „pro-europäischen“ Parteien einschließlich Swoboda ausdrücklich unter­stützt wurde, waren die europäischen Regierungen wegen der extremen Rechten in Verlegenheit. Diese suchte sich etwas akzeptabler zu geben (Swoboda trat etwas leiser bezüglich ihres Antisemitismus und der Feier der SS-Division „Galizien“). Parallel hierzu entstanden gespannte Beziehungen zwischen dem Innenminister (der vom Parlament aufgefordert wurde, die privaten Milizen entwaffnen zu lassen) und dem Prawyj Sektor.

Die Regierung ist zwar keine „Neonazi“-Regierung, doch trifft es zu (und ist es nicht unwichtig), dass die extrem rechte Partei Swoboda über mehrere Machtpositionen verfügt: vier Ministerien (bzw. drei, nachdem der Verteidigungsminister, Admiral Ihor Tenjuch, dem „Untätigkeit“ bei den Ereignissen auf der Krim vorgeworfen wurde, „zurückgetreten“ ist) und den Posten des Generalstaatsanwalts. Gelegentlich wird auch Andrij Parubij, der Sekretär des Rats für Nationale Sicherheit und Verteidigung, ebenfalls als Mitglied von Swoboda aufgeführt. Es stimmt zwar, dass er 1991 ein Mitbegründer der „National-Sozialen Partei der Ukraine“ war, die 2004 die Bezeichnung Swoboda angenommen hat, doch ist er vor zehn Jahren ausgetreten und 2012 Julia Timoschenkos Partei Batkiwschtschyna (Vaterland) beigetreten.

Diese Formation dominiert die neoliberale Regierung, die für einige Regionen Oligarchen zu Gouverneuren ernannt und die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) verlangten Maßnahmen umgesetzt hat, vor allem eine Erhöhung der Gaspreise (um 50 %), Einfrieren der Löhne, Stopp von Einstellungen im öffentlichen Sektor, Kürzung der Renten, Kürzung der Sozialausgaben und Erhöhung der Mehrwertsteuer. Die erste Maßnahme, die die neue parlamentarische Mehrheit ergriffen hat, nämlich der Widerruf des Sprachengesetzes von 2012 (das von einer Minderheit von ParlamentarierInnen angenommen und damals als ein Ausdruck der „Präsidialisierung“ des Regimes betrachtet wurde), ist von dem Interim-Präsidenten nicht ratifiziert worden. Aber im Kontext der Anprangerung der neuen Macht als „antirussisch“, vor allem vonseiten Moskaus, ist die Wirkung in den rus­sischsprachigen Regionen katastrophal gewesen. Die russische Aggression auf der Krim ließ sich so als eine Antwort auf eine derartige Politik darstellen.

Durch die Wahl vom 25. Mai ist der Oligarch Petro Poroschenko Präsident der Republik geworden. Er erhielt die Stimmen von 54,7 % der WählerInnen, während die Beteiligung bei 60,3 % der Wahlberechtigten lag (diese Zahl ist mit Sicherheit zu hoch) [1]. Diese Wahl, die vor dem Hintergrund der Spannungen stattfand, die von sozi­alen Fragen ablenkten, drückt jedoch ein Bestreben der Bevölkerung aus, der Ukraine eine souveräne Repräsentation zu geben. Zugleich beerdigt sie die grundlegenden politischen Forderungen, die auf dem Maidan zum Ausdruck gekommen sind: eine radikale Säuberung der Polizei und des Staatsapparats, Kampf gegen die Kor­ruption, Trennung des Großkapitals von den politischen Ämtern. In der modernen Geschichte der Ukraine ist das „Big Business“ nie so stark direkt in die Leitung des Landes eingebunden gewesen; fast alle, die in der Forbes-Liste der Reichsten in der Ukraine oben stehen, bekleiden derzeit hohe Posten in der Exekutive.


3. Die Annexion der Krim


Die Krim, deren Bevölkerung zu zwölf Prozent aus Tataren bestand, die nach ihrer Deportation durch Stalin nach 1991 zurückgekehrt waren, wurde 1954 von Chruschtschow der Ukraine geschenkt. Seit 1993 hatte sie eine Sonderstellung als Autonome Republik innerhalb der unabhängigen Ukraine. Die wichtigste Stadt, Sewastopol, hatte als Marinebasis der russischen Schwarzmeerflotte aufgrund des „Friedens- und Freundschaftsvertrags“ von 1997 ein besonderes Statut. Moskau hatte erreicht, dass Viktor Janukowitsch den Pachtvertrag verlängerte, kraft dessen Russland die Basis von der Ukraine mietet, im Gegenzug konnte die Vereinbarung über die Energiepreise und die Schulden, die im Dezember 2013 präzisiert wurde, in Kraft treten. Putin nutzte den Sturz von Januko­witsch aus, um alle diese Vereinbarungen einseitig aufzukündigen und die Krim zu annektieren.

Bei der Abstimmung in der Duma über den Einsatz der russischen Streitkräfte in der Ukraine wurde das Ar­gument der von einem „faschistischen Putsch“ bedrohten „russischen Minderheiten“ vorgetragen. Diese These spielt in der Propaganda eine wesentliche Rolle. Auf den Plakaten für das Referendum, das unter Präsenz des Militärs und unter Ausschluss der ukrainischen Medien stattfand, war die Ukraine mit einem Hakenkreuz mar­kiert.

Moskau erklärte, 97 % derjenigen, die abgestimmt haben, hätten mit Ja gestimmt, bei einer Beteiligung von 86 %; diese Zahl sind weit entfernt von denen, die der Rat für die Entwicklung der Bürgerschaft und der Men­schenrechte bei dem Präsidenten der Russischen Föderation genannt hat: „Nach verschiedenen Quellen haben auf der Krim 50 bis 60 % bei einer Beteiligung von 30 bis 50 % für den Beitritt zu Russland gestimmt.“ Es hat eine Abwanderung der Tataren von der Krim eingesetzt; es ist nicht sicher, was ihnen bevorsteht. Am 20. März ist der Vertrag, kraft dessen die Republik Krim und die Stadt Sewastopol in die Russische Föderation aufge­nommen werden, von der russischen Duma ratifiziert worden.

Putin hat sich als erster Mann an der Spitze einer Großmacht aufgeführt, seine internen KritikerInnen wegge­drückt und großrussischen Chauvinismus geschmeichelt, der einer Nostalgie für das gesamte historische „Klein­russland“ huldigt – das Risiko, dass die Ukraine in Flammen aufgehen könnte, vor Augen. Wie schon lange von der stalinistischen Propaganda praktiziert, wird Ukrainer (oder Tatare) mit Nazi (oder Nazifreund) und Russen­gegner gleichgesetzt. Das Pendant in der ultranationalistischen ukrainischen Propaganda ist „russisch“ gleich „anti-ukrainisch“ oder „bolschewistisch“. Die realen politischen, sozialen und geostrategischen Konflikte wer­den überdeckt.


4. Der „Anti-Maidan“ gegen eine unpopuläre Regierung


Die Regionen im Osten und Südosten der Ukraine sind auf alle Fälle nicht die Krim. Die Bevölkerung hatte dort 1991 im Gegensatz zur Krim massiv für die Unabhängigkeit der Ukraine gestimmt; und die Umfragen zeigten (bis vor kurzem), dass die Mehrheit trotz des politischen Misstrauens gegenüber Kiew daran festhält. Sprachlichen Pluralismus bzw. eine Form von Dezentralisierung zu fordern oder die Beziehungen zu Russland beibe­halten zu wollen (in der Hoffnung insbesondere auf bessere Energiepreise) oder auch einer Nostalgie für die UdSSR nachzuhängen – all das hat nicht notwendig etwas mit einer sezessionistischen Logik zu tun: Das politi­sche Regime von Putin ist nicht attraktiv (selbst wenn er sich als Beschützer darstellt) und infolge der Politik, die in Russland unweit vom Donbass umgesetzt worden ist, sind größere Teile der Staatshilfe gestrichen worden, die in der ukrainischen Industrie noch großen Umfang hat. Doch sorgt die von Kiew betriebene Politik für Beunru­higung, selbst wenn die Arbeitsplätze ebenso durch eine Eingliederung nach Russland oder in die EU oder durch die Unterordnung unter den IWF bedroht sind. Wie die Bevölkerung sich entscheidet, ist also ungewiss und die Besorgnisse werden schnell instrumentalisiert.

Die selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk nutzen das Misstrauen gegen Kiew aus. Sie sind aber kaum mehr als paramilitärische Apparate; darin mischen sich ehemalige Angehörige des ukrainischen Staatsapparats, Kriminelle aller Art, Militärs, die aus Tschetschenien gekommen sind, Angehörige der russischen Sicherheitsdienste und einfache Ukrainer. Es gibt in einer immer chaotischeren Situation nach Zusammenstößen, die schwer einzuschätzen sind, nichts, was für eine reale Mobilisierung der Bevölkerung förderlich wäre.

Das Drama, das am 2. Mai in Odessa stattfand – als nach einer Aggression gegen eine Demonstration für die „Einheit“ der Ukraine, bei der es vier Tote gab, das Gewerkschaftshaus angesteckt wurde, was etwa 40 so ge­nannten „pro-russischen“ Aktivisten, darunter ein Mitglied von Borotba, das Leben gekostet hat – hat zu einer Radikalisierung der „Anti-Maidan“-Propaganda geführt. Es wird behauptet, es handele sich um ein „neues Ora­dour“ unter dem Schutz eines „Nazi-Staats“ in Kiew. Begleitet wird diese Behauptung noch von der Beschuldi­gung, man lege eine „inhumane Gleichgültigkeit“ an den Tag, wenn man diese Interpretationen bestreitet.

Der „Anti-Maidan“ hat in einer sehr dicht bevölkerten Region nicht zu Massenmobilisierungen geführt, die über einige tausend Protestierende hinausgegangen wären. Schwerlich sind hierzu eindeutig Tausende hinzu­zählen, die bei den Referenden vom 11. Mai für die „Volksrepubliken“ abgestimmt haben; sie waren zweifellos sowohl eine Bekundung des Protests gegen Kiew als auch ein von den Milizen erzwungenes Votum. Das sind dieselben, die am 25. Mai die Teilnahme an der Präsidentschaftswahl untersagten. Massive Streiks haben vor allem in Krasnodon stattgefunden. Sie bezogen sich aber auf Lohnforderungen und die ArbeiterInnen lehnten die Instrumentalisierungsversuche durch KandidatInnen pro oder contra Maidan ab. Andere Streiks der Bergleute, die danach stattgefunden haben, richteten sich gegen die „antiterroristischen“ Aktionen von Kiew; dabei wurde die Gefährdung der Bergwerke durch die Bombardierungen angeprangert.

Wenn auch Putins Heuchelei Kritik verdient, wenn er zum Dialog aufruft, den er bei sich so wenig prakti­ziert, oder wenn er jedes Eingreifen von außen leugnet, so nimmt dies nicht die Form einer militärischen Inva­sion an. Die Gewalt der bewaffneten Milizen „gegen Kiew“, die jeden Dialog blockieren, erfordert sicher eine adäquate Antwort. Sie könnte sich jedoch auf die Bestrebungen der Bevölkerung nach Demokratie und Frieden stützen. Die Verteidigung der Einheit des Landes impliziert andere Antworten als militärische. Selbst wenn es schwierig ist einzuschätzen, was Lügenpropaganda ist und was nicht, so trifft es sicher zu, dass die von Kiew gestarteten „Antiterror-Operationen“ nicht dazu geführt haben, dass das Chaos beendet wurde und das Vertrauen der Bevölkerung gewonnen werden konnte. Putin will das ausnutzen.


5. Die imperiale Politik von Russland


Seit 2008 sucht Russland sich durch Nutzung imperialistischer Widersprüche wieder als Großmacht zu behaup­ten, nachdem es nach 1989 nur noch eine marginale Rolle spielen konnte.

Die Aufspaltung der UdSSR und die Restauration des Kapitalismus in Russland führten in der Jelzin-Phase der 1990er Jahre ihren zur Ausplünderung des Reichtums, der von oligarchischen quasi-feuda­len Lehen, die den Staat kontrollieren, dominiert wurde. Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ist in dieser Phase fast ohne Substanz. Der jelzinsche russische Staat hat – trotz seines schmutzigen Krieges in Tsche­tschenien – seine Stärke nach innen und nach außen verloren. Die Aufnahme von Russland in die G8 täuschte niemanden über sein reales Gewicht hinweg.

Die Ära Putin hatte zunächst in den Jahren nach 2000 die Wiederherstellung eines starken Staats im Inneren als Ergebnis, er gewann die Kontrolle über seine Oligarchen und (nach der Zahlungskrise von 1998) über die Exporte vor allem in den Bereichen Erdgas und Erdöl wieder. Das war von einer „gelenkten Demokratie“ be­gleitet, bei der den Wahlen und den Massenmedien Grenzen gesteckt sind und Protesten mit Unterdrückung begegnet wird, während die alten sozialen Schutzmaßnahmen abgebaut werden. Das Wiedereinsetzen eines kräftigen Wachstums war von einer Internationalisierung der wirtschaftlichen und finanziellen Präsenz der russi­schen Oligarchen und mehrfachen Versuchen von Moskau begleitet, um Russland herum einen stärker als die GUS integrierten „Wirtschaftsraum“ zu schaffen.

Das russische Regime versucht vor allem seit 2011, die mit Weißrussland und Kasachstan gebildete Zoll­union (der Armenien sich angeschlossen hat) in ein für 2015 anvisiertes „Eurasien“-Projekt umzuwandeln, das sich auch an Aserbeidschan und die Ukraine sowie Georgien und Moldawien richtet. Es geht darum, diesen Ländern vor allem unter Ausspielen der Gaspreise eine Alternative zur „Westpartnerschaft“ mit der EU anzu­bieten. Die Herausforderung für Russland besteht in der Konkurrenz zu China und dem westlichen Kapital, es geht aber auch darum, den Versuchen, seine „nächsten Nachbarn“ in die euro-atlantischen Institutionen (EU und NATO) einzugliedern, etwas entgegenzusetzen.

Russland nutzt auch die Abhängigkeit und die „Partnerschaften“, die die imperialistischen Großmächte mit ihm eingegangen sind, sei es im „Kampf gegen den Terrorismus“ oder bei der Bewältigung der Syrien-Krise. Ihm kommt die Krise dieser Mächte zugute. Aber wegen seiner eigenen Abhängigkeiten ist auch Russland in Mitleidenschaft gezogen, die es durch die Ausweitung seiner Beziehungen zu China abzumildern versucht.

Der russische Gewaltstreich auf der Krim hat sich auf den Apparat von Janukowitsch und auf die „eurasi­sche“ extreme Rechte gestützt, um ein neues Kräfteverhältnis bei den internationalen Verhandlungen herzustel­len. Es steht aber nicht fest, ob Putin über kurzfristige Pluspunkte hinaus die separatistischen Kräfte der Ukraine und die gefahrträchtige Dynamik kontrolliert; so hat sich Aserbeidschan den Kritiken an der Annexion der Krim angeschlossen, die nicht dazu angetan ist, die Nachbarn zu beruhigen, die Moskau für eine Assoziation gewinnen möchte.


6. Die westlichen Imperialismen


Gorbatschow hat den Fall der Berliner Mauer im Kontext des „sowjetischen Disengagements“ akzeptiert. Prio­rität hatte für ihn, die Kosten für den Rüstungswettlauf zu senken und westliche Kredite zu erhalten. In den Ver­handlungen mit Deutschland war er für die Auflösung der beiden Militärblöcke eingetreten; dann musste er den Eintritt des vereinigten Deutschland in die NATO akzeptieren. Im Gegenzug verpflichteten sich die USA dazu, keine ausländischen Truppen oder Waffen im Osten zu stationieren und die NATO nicht weiter auszudehnen.

Dann aber traf der US-amerikanische Imperialismus doch die Entscheidung, die NATO 1999 auf Ungarn, Polen und die Tschechische Republik, dann 2004 auf Bulgarien, Estland, Litauen, Lettland, Rumänien, Slowe­nien und die Slowakei sowie 2009 auf Albanien und Kroatien auszudehnen.

Und die „pro-westlichen“ Kräfte der „Farbrevolutionen“ in Georgien (2003) und in der Ukraine (2004) for­derten mit kräftiger Unterstützung der Vereinigten Staaten die Aufnahme der jeweiligen Länder in die NATO und die EU. Die EU war jedoch in Bezug auf ihre Beziehungen zu Russland gespalten. Das belegen die direkten Beziehungen, die Deutschland (und Italien) wegen ihrer Belieferung mit Erdöl mit Moskau eingingen.

2009 trat die polnische Führung zusammen mit Schweden für eine „Ostpartnerschaft“ der EU ein: Anstelle erneuter Erweiterungen sollte es um ein Abkommen über „vollständigen und umfassenden Freihandel“ mit allen an die EU grenzenden ehemaligen Ländern der UdSSR gehen, darunter die Ukraine. Russland reagierte mit dem Eurasien-Projekt, das denselben Ländern mit dem Ziel einer Neubestimmung der kontinentalen Beziehungen angeboten wurde, wobei Russland ein dominierender Pol, aber auch ein Gegengewicht zu dem wäre, was die EU verlangt.

Als die Ukraine sich am Rand der Zahlungsunfähigkeit befand, verhandelte Janukowitsch unter Druck von Russland und des IWF bis 2013 über Abkommen mit der EU. Er verlangte Dreiparteientreffen (Ukraine, Russ­land und EU), die von der EU damals abgelehnt wurden. Jetzt bemühen sich – trotz der großen Reden – die westlichen imperialistischen Staaten um eine Vereinbarung mit Russland. Keiner dieser Staaten – und auch nicht die Regierung in Kiew hat – hat es im Griff, die Zusammenstöße unter Kontrolle zu halten. Diese können in einen wirklichen Bürgerkrieg aus­arten.


7. Die Souveränität der Ukraine


Die Einheit der Ukraine erfordert militärische Neutralität, den Rückzug der russischen Truppen, die Zurück­nahme der antisozialen Politik.

      
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Nur eine ukrainische und internationale Antikriegs- und antifaschistische Front gegen die reaktionären Kräfte aller Art, die in den Bevölkerungen verankert sind, kann dies gegen die russischen und westlichen imperialisti­schen Diktate durchsetzen, unter Eintreten für soziale und nationale Rechte, gegen die Gewalttaten.

Das sind Ziele, für die die progressiven Kräfte von Russland bis zur EU gegen den IWF und die „Freihan­delsabkommen“ eintreten, unter Anerkennung des Rechts des ukrainischen Volkes, über seine internationalen Beziehungen zu entscheiden.

Die nationale Frage steht im Zentrum der politischen Aktivität der Ukraine. Die Linke Opposition hat erklärt: „Das nationale und kulturelle Wiederaufleben der ukrainischen Nation und der anderen Nationen unseres Landes ist nicht möglich, ohne dass die sozialen Probleme gelöst werden.“ Eine Linke in der Ukraine, die die nationale Dimension den Nationalisten überließe, würde sich von vornherein zum Scheitern verurteilen, denn im nationa­listischen Lager gibt es bereits im Aufstieg befindliche Kräfte, die sich die Randständigkeit der sozialistischen Linken zunutze machen und in den Augen der Arbeitenden als Alternative auftreten.

Übersetzung aus dem Französischen: Friedrich Dorn



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr Nr. 4/2014 (Juli/August 2014) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Tadeusz A. Olszanski und Agata Wierzbowska-Miazga, Osrodek Studiow Wschodnich im. Marka Karpia, Warschau, stel­len fest, dass in den Regionen Donezk und Lugansk, wo die pro-russischen „Milizen“ alles daran gesetzt haben, um die Abstimmung zu verhindern, bei den genannten Zahlen nur die Wahlberechtigten in den geöffneten Wahllokalen berücksichtigt sind, also 668 000 von 3,3 Millionen bzw. 216 000 von 1,8 Million, sodass die Teilnahme auf 15,4 % in der Region Donezk und 38,9 % in der Region Lugansk geschätzt wird, die Beteiligung in diesen beiden Regionen im Osten also unter Berücksichtigung der Gesamtzahl der Wahlberechtigten sicher nicht über 3 % bzw. 10 % gelegen hat (http://www.osw.waw.pl/pl/publikacje/analizy/2014-05-28/poroszenko-prezydentem-ukrainy oder http://tinyurl.com/kplkbqn).