Ukraine

Die Ukraine und die nationale Frage

Sean Larson und Lee Sustar (unterstützt durch Beiträge von Alan Maass) beschreiben, wie die imperiale Beziehung zu Russland die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in der Ukraine beeinflusst, jetzt und in der Vergangenheit.

Sean Larson und Lee Sustar

Nationalismus unterschiedlicher Ausprägung lauert hinter jeder Ecke der komplexen Konflikte und Widersprüche in der heutigen Ukraine.

 

Maidan-Proteste

November 2013, Foto: Mstyslav Chernov/Unframe

Auf der Krim zum Beispiel hat das Regionalparlament mit diesem Sonntag einen frühen Termin für ein Referendum über die Trennung von der Ukraine und die Annexion an Russland festgesetzt. Das folgt auf die, von örtlichen politischen Führern unterstützte, militärische Übernahme der Krim Ende Februar durch Russland als Gegenzug zur Machtübernahme einer pro-westlichen Regierung in Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, nach dem Sturz des Ex-Präsidenten Wiktor Janukowitsch.

Die russische Führung hat die Übernahme der Krim mit der Notwendigkeit gerechtfertigt, russische UkrainerInnen, die in der Region in der Mehrheit sind, vor repressiven Maßnahmen durch die neue Regierung in Kiew, in der ukrainische Nationalisten das Sagen haben, zu schützen. Die dabei verwendete Rhetorik erinnert an die „humanitären“ Rechtfertigungen für US-Militärinterventionen.

Aber 20 Prozent der Bevölkerung der Krim sind ethnisch UkrainerInnen und 15 Prozent sind Krim-Tataren. Sie gehören einem muslimischen Turk-Volk an, das die Halbinsel bewohnte, bevor es während des 2. Weltkrieges auf Befehl des tyrannischen Herrschers der früheren Sowjetunion Josef Stalin in einer Massendeportation nach Zentralasien umgesiedelt wurde. Die Tataren, die erst in den 1980er Jahren wieder auf die Krim zurückkehren durften, haben sehr gute Gründe zu fürchten, in einem von Russland annektierten Gebiet zu Bürgern zweiter Klasse zu werden.

In Kiew appelliert die neue ukrainische Regierung, die von rechten und rechtsextremen Parteien dominiert wird, tatsächlich an Nationalismus, um ihre Machtbasis vor allem in den westlichen und nördlichen Teilen des Landes zu festigen. Eine der ersten Maßnahmen des Parlaments nach dem Sturz der Regierung Janukowitsch war die Rücknahme eines Gesetzes, das erlaubt, dass andere Sprachen als die ukrainische lokal als offizielle Sprachen verwendet werden dürfen (gegen diese Maßnahme legte der amtierende Präsident sein Veto ein).

Das geschah trotz der Tatsache, dass die Muttersprache vieler der bekanntesten Oppositionsführer(innen) russisch ist. Das gilt für die vermutlichen PräsidentschaftskandidatInnen Vitali Klitschko und Julija Timoschenko, sowie den neuen Premierminister Arsenij Jazenjuk. Im westlichen Teil des Landes, wo die nationalistischen Parteien am stärksten sind, sprechen bedeutende Minderheiten polnisch und rumänisch. Und – um die Komplexität noch zu vergrößern – Sprachpräferenzen sind kein einfacher Hinweis auf politische Präferenzen.

Um die nationale Frage in der heutigen Ukraine zu verstehen, muss man die Geschichte des Landes kennen – vor allem seine imperiale Unterjochung durch Russland, zuerst in der Form des zaristischen Reiches und später – nach dem Sieg der stalinistischen Konterrevolution in Russland – als Herrschaft der früheren Sowjetunion. Wie der russische Sozialist Ilja Budraitskis in einem Interview mit dem deutschen Magazin Marx21 sagte, ist die Bedeutung des Nationalismus in der Ukraine eine Folge der Art und Weise, wie die Ukraine nach dem Kollaps der Sowjetunion 1991 als unabhängiger Staat gegründet wurde. Daher ist der Nationalismus eine solch populäre Ideologie. Die Mentalität entspricht der einer früheren Kolonie. Viele Ukrainer denken, dass es das Wichtigste ist, nicht von einer fremden Macht beherrscht zu werden. [1]

Russland beherrschte die Ukraine seit der letzten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Nach Beendigung des 30-jährigen Krieges zwischen Russland, Polen, der Türkei und Kosaken kontrollierte der russische Zar den größten Teil des Landes. Die Herrschaft des zaristischen Reiches über die Ukraine wurde durch die russische Revolution 1917 erschüttert. Als Folge einer sich verbreiternden Bewegung für nationale Befreiung in der Ukraine blühten die ukrainische Sprache und Kultur auf – unterstützt durch die bolschewistisch geführte Regierung in Moskau.

1918 ergriff ein von Deutschland unterstützter Monarch die Macht in der Ukraine und die konterrevolutionären Weißen Armeen – bewaffnet und unterstützt von den westlichen Regierungen, um die Roten im russischen Arbeiterstaat zu bekämpfen – versuchten die Bauern von dem Land zu vertreiben, das sie den Gutsbesitzern 1917 abgenommen hatten. Die Masse der ukrainischen Bevölkerung entschied sich für Föderation mit Russland in dem kurz darauf gegründeten Arbeiterstaat, der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken (UdSSR).

Aber mit dem Aufstieg der stalinistischen Bürokratie in den 1920er Jahren begann die Beschneidung der nationalen Rechte der Ukraine und anderer früherer kolonialer Besitzungen des Zaren. Der russische revolutionäre Führer Lenin versuchte trotz Behinderung durch seinen sich verschlechternden Gesundheitszustand in den Jahren vor seinem Tod, eine Opposition gegen Stalin aufzubauen. Dabei konzentrierte er sich besonders auf die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine und des benachbarten Georgiens.

Innerhalb weniger Jahre siegte jedoch die stalinistische Konterrevolution. Die neuen Herrscher der UdSSR beseitigten jedwede Errungenschaft der Revolution von 1917 einschließlich des Rechts unterdrückter Nationen auf Selbstbestimmung. Das alles unter Verwendung sozialistischer Rhetorik.

Stalins Politik der Zwangskollektivierung auf dem Land und eines gescheiterten, auf fünf Jahre angelegten Industrialisierungsplans hatte in der Ukraine katastrophale Auswirkungen. Nach einer „Russifizierungs“-Kampagne im Jahr 1931, die praktisch zum Verbot der Verwendung der ukrainischen Sprache führte, verursachte die Wirtschaftspolitik des Kremls 1932/33 eine massive Hungersnot, die mindestens 3,3 Millionen UkrainerInnen das Leben kostete. Unter den Verwüstungen des 2. Weltkriegs litt die Ukraine mehr als jeder andere Teil der UdSSR.

In diesem Umfeld entstand die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die heutzutage von den Ultranationalisten in der neuen Regierung verehrt wird. Die OUN führte einen brutalen Kampf mit dem Ziel einer ethnisch homogenen Ukraine. Da Teile der Ukraine im Osten unter Kontrolle Russlands und im Westen unter der Polens standen, waren russische und polnische UkrainerInnen Ziel der Angriffe der OUN.

Ausdrücklich bekannte sich die OUN zum Ziel der „Säuberung“ der Ukraine von Juden. 1938 spaltete sich die Gruppe – ein Teil wurde von Stepan Bandera geführt. Dieser Teil kooperierte in der Folge mit Nazi-Deutschland. In den letzten Jahren des 2. Weltkriegs führten die OUN unter Banderas Führung und ihr bewaffneter Flügel, die Ukrainische Aufständische Armee, großflächige ethnische Säuberungen durch, bei denen mehr als 90 000 Juden und Polen getötet wurden.

Die stalinistische Elite Russlands hatte versucht, mit Adolf Hitler und den Nazis ein Abkommen über die Aufteilung Osteuropas zu schließen. Aber nach der Invasion Hitlerdeutschlands in Russland kämpfte Moskau auf der Seite der Alliierten. Nach dem Sieg über Deutschland führte die Sowjetregierung einen langwierigen Kampf gegen die OUN, der schließlich 1953 zur Zerschlagung dieser Organisation führte.

Der ukrainische Nationalismus erlebte in den 1980er Jahren – Jahren der Krise der ehemaligen UdSSR – eine Wiedergeburt.

Die nationalistischen Gefühle, die in dieser Zeit aufkamen, waren nicht einfach ein Wiedererwachen der rechtsextremen OUN mit ihrer faschistischen Ideologie. Unter der Politik von „Glasnost“ des Führers der UdSSR Michail Gorbatschow war es möglich, über die Verheerungen der aufgezwungenen Hungersnot in der Ukraine der 1930er Jahre und die folgenden Jahrzehnte unter dem stalinistischen Joch zu diskutieren. Ein kulturelles Wiedererwachen in der Ukraine machte Hoffnung auf ein freies, unabhängiges und demokratisches Land – sowohl im ukrainisch sprechenden und hauptsächlich ländlichen Westen als auch im Osten, dessen industrialisierte Wirtschaft stärker in die der UdSSR integriert war.

Die Massenstreikbewegung ukrainischer Bergarbeiter 1989 reflektierte diese Hoffnung und bestärkte sie, obwohl an ihr hauptsächlich russischsprachige Arbeiter im Osten beteiligt waren. Wie ein Reporter der New York Times, der vor Ort war, es ausdrückte: „Arbeitermilitanz in der Ukraine, der zweitgrößten Sowjet-Republik, würde die konservativen Führer dieses industriellen Zentrums, die es schon mit wachsendem ukrainischem Nationalismus zu tun haben, ernsthaft beunruhigen.“ [2]

Russische Nationalisten, die versuchten, ein Imperium aus der kollabierenden UdSSR zu retten, appellierten an russisch Sprechende im ganzen Land. Aber wie der Autor Mark Beissinger schrieb, „schafften sie es nicht, eine Massenbasis in Russland zu gewinnen. Ihre Versuche, die Bergarbeiter in der Ukraine, in Sibirien und in Nord-Kasachstan zu umwerben, führten auch nicht zu Erfolgen.“ [3]

 

Diese Politiker waren nur nationalistisch, sofern es ihren persönlichen und politischen Interessen nutzte.

Konfrontiert mit dem klar erkennbaren Niedergang des stalinistischen Systems, begannen die weitsichtigeren ukrainischen Apparatschiks in den späten 1980er Jahren, die Kommunistische Partei zu kritisieren und offen mit dem nationalistischen kulturellen Wiedererwachen zu sympathisieren – obwohl sie ihr ganzes Leben im Dienst des Kremls verbracht hatten. Nach einem fehlgeschlagenen Putsch gegen Gorbatschow in Moskau erklärte Leonid Krawtschuk, einer dieser Apparatschiks und zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender des ukrainischen Parlaments, die Unabhängigkeit von der UdSSR und wurde neues Staatsoberhaupt.

Im Dezember 1991 stimmten 90 Prozent der UkrainerInnen für die Unabhängigkeit von Russland. Selbst in den am stärksten russisch geprägten Gebieten in der Ostukraine war die Unterstützung dafür sehr groß. Der Journalist Bohdan Nahajlo schrieb damals: „Offensichtlich gab es eine schnelle und fast unbemerkte Revolution in den Ansichten der EinwohnerInnen der Ukraine. Irgendwie hat sich in bemerkenswert kurzer Zeit die Idee einer unabhängigen Ukraine, die für so lange Zeit von der Sowjetpresse als hoffnungslose Sache unverbesserlicher westukrainischer Nationalisten beschrieben wurde, in der Republik durchgesetzt.“

Nach der Unabhängigkeit wurde der ukrainische Nationalismus jedoch zum politischen Vehikel rivalisierender Politiker, die unterschiedliche wirtschaftliche Interessengruppen vertraten. Viele der früheren kommunistischen Bosse nutzten ihre Verbindungen, um sich Vorteile bei Privatisierungen zu verschaffen und zu superreichen Oligarchen zu werden – die Oppositionsführerin Julija Timoschenko, obwohl unter Janukowitsch im Gefängnis, wurde dank klugen Geschäften mit ukrainischen und russischen Oligarchen zu einer der reichsten Personen der Ukraine.

Diese Politiker waren nur nationalistisch, sofern es ihren persönlichen und politischen Interessen nutzte. Der angebliche Nationalist Krawtschuk wurde bei den Präsidentschaftswahlen 1994 von seinem früheren Apparatschikkumpel Leonid Kutschma geschlagen, der engere Bindungen an Russland favorisierte. Kutschma war genauso korrupt und aggressiv wie seine Gegner. Obwohl er als Handlanger Moskaus angesehen wurde, bat er den Weltwährungsfond um finanzielle Hilfe und verstärkte die militärische Zusammenarbeit mit der US-geführten Nato-Allianz.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2004 unterstützte Krawtschuk einen anderen Politiker, der als pro-Moskau angesehen war. Das war niemand anderes als Wiktor Janukowitsch. Aber offensichtlicher Wahlbetrug führte zu Massenprotesten, die als „Orange Revolution“ bezeichnet werden. Janukowitsch musste sich einer Wahlwiederholung stellen, die sein Gegner Wiktor Juschtschenko gewann.

Juschtschenko stützte sich beim Versuch, seine Macht zu konsolidieren, auf den Nationalismus. Staatliche Stellen begannen eine alternative Geschichte der nationalistischen Bewegung der 1930er Jahre zu verbreiten. Sie wurde in weiten Teilen von ihrer antisemitischen und faschistischen Ideologie reingewaschen und stattdessen als heroische, ukrainische nationale Befreiungsbewegung präsentiert.

Er tat jedoch nichts gegen die wirtschaftlichen Missstände, die der Orangen Revolution zugrunde lagen und verlor daher schnell an Unterstützung. Janukowitsch gewann leicht die Präsidentschaftswahlen 2010. Doch dieses Mal versprach der einstige Verbündete Russlands, die ökonomischen und politischen Verbindungen der Ukraine mit Europa einschließlich einer weiteren Kooperation mit der Nato zu verstärken.

Heute bewegt sich fast das gesamte politische Spektrum in Kiew fest im Rahmen verschiedener Typen von Nationalismus. Sowohl Swoboda als auch Trident – eine der aktivsten Organisationen des Rechten Sektors, der durch seine Rolle bei der Verteidigung des Maidan (Unabhängigkeitsplatz) in Kiew gegen die von Janukowitsch angeordneten Polizeiangriffe an Bedeutung gewann – bezeichnen sich als Nachfolgeorganisationen von Stepan Banderas OUN.

Seit 2004 verfolgt Swoboda einen ähnlichen Kurs wie ihre westeuropäischen Pendants wie der Front National in Frankreich, d. h. sie versucht ihre Basis zu verbreitern, indem sie soziale Fragen aufgreift, die nicht direkt etwas mit ihrer rechtsextremen Ideologie zu tun haben. Swobodas Kombination von Ultra-Nationalismus und Rassismus in ihrer täglichen Praxis wird daher in offiziellen Dokumenten weitgehend verdeckt. Aber sie ist keineswegs ein Geheimnis – Swobodas Führer Oleh Tjahnybok zum Beispiel, hat der Regierung Janukowitsch im Parlament vorgeworfen, sie sei dominiert von einer „jüdisch-Moskauer Mafia“. [4]

Das ist die historische und ideologische Atmosphäre, mit der SozialistInnen und die Linke in der Ukraine konfrontiert sind.

Maidan-Proteste

Februar 2014, Foto: Vidsich

 

Der Aufbau sozialistischer politischer Organisationen ist aufgrund der ukrainischen Geschichte recht schwierig – wie in anderen Ländern, die von der früheren UdSSR beherrscht waren, sind die marxistischen Ideen und die sozialistische Tradition durch ihre Verbindung mit den stalinistischen Tyrannen diskreditiert. Die historische Unterjochung der Ukraine durch den russischen Imperialismus hat dazu geführt, dass hier eine auf den Klassenkampf orientierte revolutionäre Politik häufig gegen den vulgären Russenhass kämpfen muss, den die reaktionären nationalistischen Gruppen verbreiten.

Ziel muss es sein, die Wut der Volksmassen weg von nationalistischem Ausdruck und gegen die ukrainischen Oligarchen zu lenken, die ja in Wahrheit für die Misere der arbeitenden Bevölkerung verantwortlich sind. Das wurde durch die russische Intervention auf der Krim bedeutend erschwert. Sie hat den ethnischen Konflikt in der Ukraine ins Rampenlicht gerückt und ist Wasser auf den Mühlen des reaktionären Nationalismus der rechtsextremen Parteien.

Die Behauptungen der russischen Führung, dass sie den Faschisten und der extremen Rechten in der Ukraine entgegenträte, sind Lügen. In Wahrheit gibt die Drohung mit einem umfassenden Krieg, hervorgerufen durch die russische Intervention, den Nationalisten die Möglichkeit, größere Unterstützung zu gewinnen, indem sich als die entschiedenen Verteidiger der Ukraine gegen ausländische Dominanz darstellen.

Daher ist es notwendig, in dem imperialistischen Konflikt, der in der Ukraine ausgefochten wird, gegen alle Seiten zu kämpfen. Mit der Übernahme der Krim hat der russische Imperialismus seinen Zug gemacht, um sich die politische und wirtschaftliche Herrschaft über das Land zu sichern – das sollte von allen Revolutionären, die sich antiimperialistisch nennen, bedingungslos verurteilt werden.

Aber es sollte offensichtlich sein, dass die Verurteilung des russischen Imperialismus keineswegs bedeutet, die westlichen Interessen oder die neu installierte Regierung in Kiew zu verteidigen. Interventionen der USA und der Europäischen Union (EU) – sei es in der Form diplomatischen oder wirtschaftlichen Drucks oder gar militärischer Aktionen – werden nicht aus Sorge um die Demokratie oder die Lebensbedingungen der einfachen ukrainischen Bevölkerung gemacht. Im Gegenteil, die westlichen Regierungen wollen in der Ukraine auf Kosten Russlands gewinnen.

Die Zählebigkeit des Nationalismus in der Ukraine, vor allem in den westlichen Regionen, kann nicht völlig durch die heutigen wirtschaftlichen Bindungen zu Russland erklärt werden, aber sie bilden doch einen gewissen Kontext. Ein Großteil der ukrainischen Wirtschaft ist immer noch vom Nachbarn im Osten abhängig.

Wie SÅ‚awomir Matuszak in einer umfangreichen Studie zeigt, zeichnet sich die Ukraine dadurch aus, dass sie wahrscheinlich das höchste Niveau direkter Kontrolle der Regierung durch Oligarchen hat. Bei den im Westen herrschenden Oligarchen ist eine der Ursachen ihrer Abneigung gegen eine Annäherung an Russland die Aussicht auf eine direkte Einmischung Putins in die Politik des Landes.

Putins Konsolidierung der Staatsmacht in Russland war eng verbunden mit dem Verdrängen der russischen Oligarchen von ihrer politischen Macht. Mit seiner Unterstützung von Janukowitsch versuchte Putin, so viel Kontrolle wie möglich über die wichtigen Gasfernleitungen, die Russlands Energieproduzenten mit ihren Kunden in Europa verbinden, zu sichern – unter anderem durch einen konsolidierten Staat unter Kontrolle von Janukowitsch und seinen Verbündeten. Dies bedeutete offensichtlich eine Bedrohung für Teile der Oligarchie.

In dieser Hinsicht ist der Unterschied zwischen den antirussischen Oligarchen überwiegend im Westen der Ukraine und der gegenüber Janukowitsch loyalen Gruppierung, dass die Pro-Russland-Gruppierung Putins finanzielle und politische Unterstützung benötigte, um ihre Macht zu halten, während die Anti-Russland-Fraktion begonnen hatte, sich mehr darauf zu verlassen, die vorhandene Unzufriedenheit der Bevölkerung in eine nationalistische Richtung zu kanalisieren.

Diese Trennlinie ist aber nicht in Stein gemeißelt. Sowohl die „ost-“ wie die „westorientierten“ Oligarchen haben gezeigt, dass sie durchaus bereit sind, ihre politischen Bündnisse zu wechseln, wann immer es für sie von Vorteil zu sein scheint. Der jüngste Wandel des reichsten Manns der Ukraine, Rinat Achmetow, von einem treuen Janukowitsch-Fan zu einem Unterstützer der Regierung in Kiew ist ein solcher Fall.

Während der Inlandsmarkt in der Ukraine nach wie vor wichtig ist für die weniger leistungsfähigen Oligarchen, verlassen sich die wohlhabenderen und einflussreicheren unter ihnen ebenso auf Exporte und damit auf den Zugang zu ausländischen Märkten. Blickt man auf die ukrainischen Exporte im Ganzen gibt es keine klare Tendenz nach Ost oder West: 38 Prozent der Waren werden in die ehemaligen Sowjetstaaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten verkauft, 26 Prozent gehen in die EU und 36 Prozent in andere Länder.

Allerdings bleibt die Ukraine in vielerlei Hinsicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Russland, unter anderem wegen der massiven Handelsschulden von 10 Milliarden Dollar, die Moskau gerade einfordert. Fast ein Drittel der ukrainischen Exporte gehen nach Russland, darunter sehr spezielle Industrieprodukte, die auf dem EU-Markt nicht wettbewerbsfähig wären.

Demgegenüber kommen etwa 36 Prozent der ukrainischen Importe aus Russland, darunter etwa 60 Prozent des Erdgases. Den Vorzugspreisen, die der Ukraine von Russland eingeräumt wurden, stehen niedrige Durchleitungsgebühren gegenüber, die der Ukraine bezahlt werden, um Gas auf die europäischen Märkte zu bringen. Achtzig Prozent der russischen Gaslieferungen in die EU strömen immer noch durch die Ukraine. Inzwischen ist die russische staatliche Ölgesellschaft Rosneft – die größte der Welt – bereits im Besitz der zweitgrößten Ölraffinerie der Ukraine und dabei, auch noch die größte zu erwerben.

Putins Konsolidierung der Staatsmacht in Russland war eng verbunden mit dem Verdrängen der russischen Oligarchen von ihrer politischen Macht.

 

Dieses Verhältnis - vor allem das der ukrainischen Energieabhängigkeit - ist natürlich von Vorteil für die russischen Unternehmen, einschließlich derer unter staatlicher Kontrolle. Darum hat der russische Staat interveniert, um die Ukraine im Abhängigkeitsverhältnis zu halten - zum Beispiel durch das Abschalten der Gasversorgung im Januar 2006, als die ukrainische Regierung sich in Richtung auf eine Ausweitung der Beziehungen mit der EU bewegte, und erneut im Jahr 2009. Ebenso wieder heute, wo Russland das Streichen der erheblichen Rabatte ab April vorbereitet, die der Ukraine für seine Erdgasimporte eingeräumt wurden.

Dies ist das wirtschaftliche Gegenstück zur militärischen Machtübernahme auf der Krim und wird normale Menschen in der Ukraine wahrscheinlich ebenso erbittern. Aus diesem Grund hat sie darauf verzichtet, die nationalistischen Aufrufe der konservativen politischen Parteien, die von Teilen der herrschenden Elite gestützt werden, weiter anzufeuern.

 

Letztendlich wird der Nationalismus benutzt, um ein System zu stärken, von dem die Oligarchen profitieren.

Die Oligarchen selbst – obwohl sie, die östlichen wie die westlichen, von ihren Beziehungen mit russischen Unternehmen profitieren – leiden unter den regelmäßigen Interventionen des russischen Staates, die jede Annäherung an Europa blockieren sollen. Daher ernannte die neue Regierung in Kiew vor kurzem zwei der prominentesten östlichen Oligarchen der Ukraine zu Gouverneuren in Donezk und Dnipropetrowsk – dass sie so schnell klare Verhältnisse schuf, zeigt, dass die Zentralregierung versucht, so schnell wie möglich ein stabiles wirtschaftliches Umfeld zu sichern.

Gleichzeitig wurde ein anderer Oligarch, Dmytro Firtasch, angeworben, um an russische Geschäftskreise heranzutreten, damit sie ihren Einfluss für eine friedliche Lösung einsetzen, mit der Begründung, dass jede Eskalation des Konflikts schlecht für die Geschäfte beider Seiten wäre.

Die Berufung von zwei Milliardären auf politische Befehlsposten in wichtigen Regionen im Osten der Ukraine zeigt, dass die Regierung sich bemüht, die Bedrohung durch eine russische Intervention zu nutzen, um zu versuchen, ihre Unterstützung in der Ost-Ukraine um ein Konzept der nationalen Einheit zu festigen - aber eines, das speziell auf die Verfolgung der Interessen der herrschenden Klasse ausgerichtet ist.

Dies entspricht der generellen Strategie der Regierung - den Konflikt mit Russland zu nutzen, um die Unzufriedenheit der Bevölkerung auf andere Fragen abzulenken, während neoliberale Maßnahmen durchgezogen werden, die den einfachen Menschen in der Ukraine aus der Zeit von Janukowitsch noch sehr vertraut sind, ganz zu schweigen von den Menschen in Griechenland, Spanien und anderen europäischen Ländern, die die Hauptlast der Schuldenkrise tragen.

Letztendlich wird der Nationalismus benutzt, um ein System zu stärken, von dem die Oligarchen profitieren und das die Bühne für kommende Konflikte und Kämpfe bilden wird.

Die rechtsextreme Swoboda ist neben Mitte-Rechts-Parteien an einer Regierung beteiligt, die unweigerlich die Hoffnungen auf wirtschaftlichen Fortschritt für die Mehrheit der Menschen in der Ukraine zerstören wird. Ministerpräsident Jazenjuk gab zu, dass die Teilnahme an der neuen Regierung bedeute, „politischen Selbstmord“ zu begehen - wegen des Umfangs der kommenden Sparmaßnahmen.

Die Regierung hat Verhandlungen über Kredite des Internationalen Währungsfonds aufgenommen, die strenge Auflagen mit sich bringen werden – Berichten zufolge auch weitere Einschnitte bei den Renten, höhere Energiesteuern für die arbeitenden Menschen, Privatisierung staatseigener Wirtschaftszweige und Unternehmen, völlige Beseitigung mehrerer Ministerien und Kürzungen bei Arbeitslosen- und Krankengeld.

Die Umsetzung dieser Maßnahmen wird die Popularität der Regierung, deren Unterstützung bereits schwindet, beschädigen. Die politischen Persönlichkeiten, die behaupteten, die Maidan-Bewegung zu „führen“, gaben schon vor Janukowitschs Sturz zu, dass sie die Massenbewegung nicht kontrollieren konnten; als Fürsprecher noch strengerer Sparmaßnahmen werden sie nur noch mehr Misstrauen in den Köpfen der arbeitenden Menschen säen.

Für die kommenden Präsidentschaftswahlen liegt der antirussische Medien-Oligarch und Hauptfinancier der „orangen Revolution“ Petro Poroschenko vor Klitschko und Timoschenko, dies sogar in einer Umfrage, die kurz nach dem Sturz Janukowitschs durchgeführt wurde. Und die gleiche Umfrage ergab, dass 48,7 Prozent der Befragten es ablehnen vorherzusagen, für wen sie im Mai stimmen werden, und 29,6 Prozent mit allen bestehenden Alternativen unzufrieden sind.

Im Osten des Landes, wo Janukowitsch die Hauptbasis seiner Unterstützung hatte, ist der Großteil der Bevölkerung passiv geblieben, obwohl kleine prorussische und proukrainische Demonstrationen das Interesse der Medien auf sich zogen. Insgesamt gibt es wenig Unterstützung für eine Abspaltung und den Anschluss an Russland, nicht einmal in den wichtigsten Städten des Ostens – aber es gibt auch nicht viel Unterstützung für die neu eingesetzte Regierung in Kiew mit ihren unverhüllt nationalistischen Plänen.

Für den Augenblick wird der Brennpunkt der Krise weiter auf der Krim bleiben, wo die lokale Pro-Russland-Elite darauf drängt, dass das Referendum über einen Anschluss an Russland am 16. März stattfindet. Die durchgeboxte Abstimmung kann kaum als eine faire Widerspiegelung der nationalen Orientierungen der Menschen auf der Krim gesehen werden, sondern wird eine Momentaufnahme der Schwankungen der öffentlichen Meinung unter einem allseitigen Propagandabeschuss sein.

Das gewählte Parlament der Krim scheint fast einstimmig für eine russische Annexion zu sein, aber eine Meinungsumfrage vom Dezember letzten Jahres zeigte, dass nur 35 Prozent der Menschen auf der Krim eine Unabhängigkeit sowohl von der Ukraine als auch von Russland unterstützten und 56 Prozent gegen eine Trennung von der Ukraine waren.

      
Mehr dazu
Galia Trépère: Die kalten Krieger im Aufwind, die internationale Nr. 3/2022 (Mai/Juni 2022).
Helmut Dahmer: Die Unabhängigkeit der Ukraine, gestern und heute, die internationale Nr. 3/2022 (Mai/Juni 2022).
Büro der Vierten Internationale: Gegen die militärische Eskalation der NATO und Russlands in Osteuropa, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online). Auch bei intersoz.org.
Internationales Komitee der Vierten Internationale: Resolution zur Ukraine, Inprekorr Nr. 3/2015 (Mai/Juni 2015).
Zbigniew Marcin Kowalewski: Der politische Frühling hat Europa erreicht, Inprekorr Nr. 3/2014 (Mai/Juni 2014).
GASLO: Sparen? – Zuerst bei den Oligarchen!, Inprekorr Nr. 3/2014 (Mai/Juni 2014).
Internationales Komitee der Vierten Internationale: Erklärung zur Ukraine, Inprekorr Nr. 3/2014 (Mai/Juni 2014).
Catherine Samary: Zwischen Oligarchie und Troika, Inprekorr Nr. 2/2014 (März/April 2014).
Zahar Popowitsch: Manifest: 10 Thesen der „Linken Opposition“, Inprekorr Nr. 2/2014 (März/April 2014).
Linke Opposition: Zehn-Punkte-Plan für den gesellschaftlichen Wandel, Inprekorr Nr. 2/2014 (März/April 2014).
Andreas Kloke: Nationale Frage und Marxismus, Inprekorr Nr. 335/336 (September/Oktober 1999).
 

Unter den Tatarinnen und Tataren auf der Krim gibt es Unzufriedenheit mit der Regierung der Ukraine in Kiew, die zuvor staatliche Mittel für tatarischsprachige Schulen verweigert hatte. Dennoch sind die Krimtatarinnen und -tataren weiter fast geschlossen gegen einen Anschluss an Russland. Außerdem gab es einen Aufruf zum Boykott des Referendums.

Wie die Linke Opposition in der Ukraine in einer Erklärung erläutert, sollten Sozialistinnen und Sozialisten für das Recht der Menschen auf der Krim eintreten, ihren eigenen nationalen Status selbst zu bestimmen. Aber eine wirkliche Selbstbestimmung kann nicht unter den Kanonen einer imperialistischen Macht ausgeübt werden.

Ein wirkliches Referendum über die Wünsche der Menschen auf der Krim würde den Rückzug der russischen Truppen und eine Verschiebung um einige Monate erfordern, um eine breite öffentliche Diskussion zu ermöglichen. Dies ist der einzige Weg, dass auch die 300 000 Stimmen der KrimtatarInnen gleichberechtigt an der Entscheidung teilhaben können.

Wenn die Abstimmung durchgezogen wird, wird sie weiter zu einer Dynamik beitragen, die Stimmen marginalisiert, die sich gegen Nationalismus und Unterdrückung stellen.

Russlands Kriegsdrohungen haben die Handvoll Nationalisten und Faschisten gestärkt, die die neue Ordnung in Kiew, wenn nicht sogar die Maidan-Massenbewegung, die sie an die Macht gebracht hat, beherrschen. Inzwischen bringen rechte Rhetorik und die Politik der Zentralregierung einfache Menschen im Osten und Süden der Ukraine dazu, russische Streitkräfte als ihre Beschützer gegen ein Regime, das ihnen ihre Sprache und politischen Rechte nehmen will, zu sehen.

Das Durchbrechen dieses Teufelskreises wird eine Erhebung von unten erfordern, auf Grundlage einer politischen Alternative, die die arbeitenden Menschen quer zu den verschiedenen Trennlinien, an denen die Ukraine auseinanderzubrechen droht, vereinigt; eine, die beispielsweise die große Zahl hauptsächlich jüngerer, Russisch sprechender Menschen im Osten erfasst, die sich als Menschen der Ukraine ausdrücklich gegen eine Assimilation an Russland und für eine Einheit mit den politisch aktiveren Menschen im Westen aussprechen, die genug haben von den Oligarchen, die das System beherrschen.

Eine Bewegung, die die arbeitenden Menschen gegen alle Oligarchen mobilisieren kann, beinhaltet auch die Möglichkeit, den Klassenkampf von den Fesseln zu befreien, die ihren Ursprung in der Ideologie der nationalen Loyalitäten in der Ukraine haben.

11. März 2014
Übersetzung: W. Weitz und Björn Mertens

Quelle: Ukraine and the national question



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[1] http://internationalviewpoint.org/spip.php?article3291

[2] http://tinyurl.com/n25w9un

[3] http://tinyurl.com/lpp2vkw

[4] http://www.haaretz.com/jewish-world/jewish-world-features/.premium-1.576905