Geschichte

Der Prager Frühling 1968/69 - Selbstverwaltung und Arbeiterräte

Tschechoslowakei 1968

Francois Duval

Robi Morder

Im Januar 1968 ersetzte der Reformer Alexander Dubček Antonín Novotný an der Spitze der KPČ. Unter dem Druck der Bevölkerung wurde aus dieser Palastrevolution eine richtige Bewegung für demokratische Reformen – der Prager Frühling eben.

Zu Beginn des Jahres 1968 übernahm der Stalinist Novotný neben seiner Funktion als Generalsekretär der KPČ noch das Amt des Präsidenten der tschechoslowakischen Republik. Am 5. Januar bereits wählte das ZK der KPČ Alexander Dubček zu seinem Nachfolger an der Parteispitze. Im März übernahm Ludvík Svoboda das Amt des Präsidenten. Eigentlich könnte man dies alles für eine simple Palastrevolution halten. Aber dann nutzten die tschechoslowakischen Bürger die sich bietende Gelegenheit, um die Abschaffung der Zensur und freie Meinungsäußerung durchzusetzen. Und damit begann der Prager Frühling, der einen anderen Weg zum Sozialismus als die UdSSR anstrebte. Unter dem Vorwand, der „Sozialismus mit menschlichem Antlitz” wäre nichts anderes als eine „kapitalistische Restauration”, marschierten am 21. August Truppen aus fünf Warschauer-Pakt-Staaten [1] in der Tschechoslowakei ein. Angeblich um die Einheit des sozialistischen Lagers und des Kampfes gegen den Imperialismus zu wahren, billigten fortschrittliche Parteien und Regierungen der Dritten Welt, darunter Fidel Castro, diese Intervention.

Der im Frühjahr 1968 entstandene Prozess war in der Tat Auftakt zu einer regelrechten politischen und sozialen Emanzipation. In den Betrieben entstanden „Betriebs- und Arbeiterräte”, die nach dem 21. August erst richtig aufblühten.

Die Arbeiterklasse konnte damals bereits auf Erfahrungen zurückblicken. Schon 1945 gab es Betriebsräte, aber nach der Machtergreifung der KP 1948 wurden die Gewerkschaften zu einem bloßen Instrument zur Steigerung der Produktion und das bürokratische Verwaltungsmodell zum Abklatsch der sowjetischen Planwirtschaft. Anfang der 60er Jahre wurde in Anbetracht der Wirtschaftskrise eine Reform eingeleitet, der eine Dezentralisierung des Wirtschaftssystems und eine Autonomie der Unternehmen im Rahmen eines Plans vorsah, der bloß noch als Orientierung diente. Angesichts der Blockadehaltung eines Teils der Bürokratie mussten sich die Reformer auf andere soziale Kräfte stützen und forcierten somit eine stärkere „Beteiligung” der ArbeiterInnen. Einige unter ihnen, die nicht bloß die Bürokraten durch Technokraten ersetzen wollten, beabsichtigten, noch weiter zu gehen. In der Politik führte die zunehmende Liberalisierung zu Veränderungen, die von den Intellektuellen unterstützt wurden.


Die Wirtschaftsreform


Unter der Führung von Radovan Richta veröffentlichte 1966 eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe unter dem Titel: „Die Zivilisation an der Wegscheide” eine Zusammenfassung ihrer Arbeiten über die Folgen der „wissenschaftlichen und technischen Revolution”, die auf die industrielle Revolution folgte: Die menschliche Arbeit ist einem Wandel unterworfen und ihre schöpferische Aktivität bedingt eine „Revolution in Ausbildung und Erziehung”; das gesamte Organisationswesen muss grundlegend geändert und der Gegensatz zwischen Führern und Geführten abgebaut werden; der Schwerpunkt kommt der Weiterentwicklung von Bildung und Ausbildung zu, um Verwaltungsmodelle einführen zu können, die auf der Initiative der Menschen beruhen; dies gilt nicht nur in den Betrieben sondern in der gesamten Gesellschaft.

Dass diese Selbstverwaltung zum Thema in Zeitungen und Heften wurde, führte dazu, dass auch in den Betrieben darüber diskutiert wurde. Im April 1968 verabschiedete die KPČ ein Aktionsprogramm, in dem die Grundsätze der Selbstverwaltung des gesellschaftlichen (und nicht mehr staatlichen!) Eigentums dargelegt wurden. Dies führte zu Mobilisierungen an der Gewerkschaftsbasis, die die Führungen unter Druck setzte. Ende 1968 waren bereits ¾ der Gewerkschaftsfunktionäre ausgetauscht. Schon Mitte Mai wurden Kommissionen und Konferenzen einberufen, die ein Gesetz über „sozialistische Betriebe” vorbereiten sollten. Es kam zu Streiks gegen die Inkompetenz bestimmter Unternehmensleiter. Anfang 1968 entstanden in den Arbeiterhochburgen der ČKD in Prag [2] und Škoda in Pilsen Rätestrukturen. Damit nahmen die Zielsetzungen konkrete Gestalt an.

Es standen sich zwei Konzepte gegenüber. Die Partei wollte lieber den Begriff der „Betriebsräte” statt der „Arbeiterräte” und billigte ihnen recht beschränkte Kompetenzen zu. Für die Verfechter der Selbstverwaltung ging es darum, dass die Räte die Produktionsziele selbst erarbeiten und die Betriebsleitung ernennen können. Die Räte sollten ein Netzwerk untereinander gründen, um eine unabhängige Vertretung der Arbeiterbewegung zu schaffen. Die Regierung ging über ihr ursprüngliches Vorhaben hinaus und verabschiedete am 30. Juni – im Vorgriff auf ein anstehendes „Gesetz über die sozialistischen Betriebe” – „vorläufige Rahmenrichtlinien für die Bildung von Arbeiterräten”, die als „Experiment” erlaubt werden sollten.


Die Basisbewegung


Im Laufe des Sommers 1968 entstanden neue Räte. Die Invasion am 21. August beschleunigte diesen Prozess sogar noch und führte zu seiner Politisierung. Der Kongress der KPČ fand im Untergrund in den ČKD-Werken in Prag-Visocany unter dem Schutz des Arbeiterrates statt. Am 23. August brach ein Generalstreik zum Protest gegen die Invasion aus und setzte eine Dynamik in Gang, die die politische Linke, die Organisationsstrukturen der ArbeiterInnen und die Studierenden vereinte. Es entstanden immer mehr Fabrikräte. Trotz der Zurückhaltung der Regierung, die „die Fortsetzung dieses Experiments nicht für sinnvoll” erachtete, versammelten sich im Januar 1969 in den Škoda-Werken in Pilsen Delegationen aus 182 Großbetrieben, die 890 000 und somit ¼ der tschechoslowakischen Arbeiterschaft repräsentierten, zu einer beratenden Konferenz. Im März 1969 forderte der Gewerkschaftskongress die Legalisierung der Arbeiterräte. Im Sommer 1969 waren fast 500 Unternehmen mit über einer Million ArbeiterInnen davon erfasst.

Gefangen in ihrer eigenen politischen Logik und zugleich um eine Verständigung mit den Besatzern bemüht, fungierte die Führung unter Dubček als Bremsschuh. Ein Gesetzesentwurf vom Februar 1969 blieb weit hinter den Vorstellungen der Rätekonferenz von Pilsen zurück. Am 17. April wurde Dubček durch Husák ersetzt. Am 29. April wurde die Verschiebung des „Gesetzes über den sozialistischen Betrieb” „auf unbestimmte Zeit” bekannt gegeben. Letztlich kam es nie zu seiner Verabschiedung.

Ende 1969 gelangte das inzwischen „normalisierte” ZK der KPČ zur Ansicht, dass die Räte zu großzügige Kompetenzen hätten, die der „Effizienz” der Unternehmen schadeten, und dass „extremistische und anarchistische Tendenzen” die Rolle der Partei schwächten. Offizielles Ziel sei zwar weiterhin das Absterben des Staates und die Selbstverwaltung, aber dies sei „ein fernes Ziel”. Bis dahin würde sich die Partei „opfern und diese undankbaren Aufgaben übernehmen”. „Im Augenblick würde die Selbstverwaltung und die große Verantwortung, die sie mit sich bringt, den Arbeitern zu viel Zeit und zu viel intellektuelle Energie nehmen, sie würde sie damit der Freizeit berauben, die sie brauchen.” [3] Im Laufe des Jahres 1970 wurden 50 000 Gewerkschafter ihrer Funktion enthoben und im September 1970 wurde der Schriftstellerverband aufgelöst. Die Säuberung der KPČ betraf 500 000 Mitglieder.

Mit dem Fall der Berliner Mauer und der „samtenen Revolution” sind zwar die politischen Rechte wieder hergestellt worden, nicht jedoch die sozialen Rechte. Die Ideen des Prager Frühlings sind auf die Marktwirtschaft reduziert worden, während das gesellschaftliche Eigentum und die Selbstverwaltung, die untrennbar mit einem authentischen Sozialismus verbunden waren und bleiben, außen vor gelassen worden sind.

[KASTEN]

März: Unter dem Druck der Bevölkerung wird die Zensur abgeschafft. General Svoboda löst Novotný als Präsident der Republik ab. Die Führer der UdSSR, Polens, Ungarns, Bulgariens und der DDR versammeln sich mit der neuen tschechoslowakischen Führung, um sie vor weitergehenden Maßnahmen zu warnen.

April: Die KPČ verabschiedet ein neues „Aktionsprogramm”, das das stalinistische Regime und die Unterdrückung (teilweise) kritisch bilanziert. Sie nimmt sich vor, das Land als Föderation zu organisieren, um die Probleme zwischen Tschechen, Slowaken und den verschiedenen Minderheiten zu regeln. Außerdem sind umfassende Wirtschaftsreformen vorgesehen, u. a. die Befreiung der Unternehmen von der Bevormundung durch Staat und Partei. Auf diesen Text werden sich die Anhänger eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz” in der CSSR und im Ausland später beziehen.

Mai: Novotný und die meistgehassten Vertreter der stalinistischen Fraktion werden aus der Führung der KPČ ausgeschlossen. Die sowjetische Führung erhöht den Druck, um die laufende Demokratisierungsbewegung einzudämmen.

Juni: Während die Truppenmanöver der sowjetischen Armee in der ČSSR beginnen, verabschiedet das Parlament ein Gesetz zur Rehabilitierung aller politischen Gefangenen unter dem Stalinismus. Unter Nutzung der neu geschaffenen freien Meinungsäußerung veröffentlichen 70 Intellektuelle ein 2000 Worte umfassendes Manifest gegen die Bedrohung des Demokratisierungsprozesses und für weitergehende Reformen und die Organisierung des „sozialen Widerstands”. In den Augen des prosowjetischen Flügels der KPČ gilt dieser Appell als Kriegserklärung.

Juli: Die UdSSR, Polen, Ungarn, Bulgarien und die DDR richten eine Mahnung an die tschechoslowakische Führung, mit der ein weiteres Treffen Anfang August vorgesehen ist.

August: Am 21. August marschieren die Truppen des Warschauer Pakts ein. Der außerordentliche XIV. Kongress der KPČ versammelt sich im Untergrund in einer Prager Fabrik. Ende August akzeptieren die von Moskau einberufenen tschechoslowakischen Führer ein „Kompromissabkommen”, das de facto die sowjetische Besatzung und den Stop des Demokratisierungsprozesses absegnet.

1969 wird Dubček durch Gustav Husák an der Spitze der KPČ abgelöst und später aus der Führung ausgeschlossen. Mit dem Ausschluss von 500 000 Mitgliedern beginnt die „Normalisierung” der KPČ. Trotz ihres Verdienstes um den Demokratisierungsprozess kommt den führenden Reformern um Dubček eine große Verantwortung zu: nämlich den Kompromiss mit den Sowjets gesucht und dabei der Massenbewegung, die ihnen zunehmend entglitt, misstraut zu haben, was letztlich die Militärinvasion nicht verhindern konnte, sondern sie vielmehr erleichtert und die Massen ihrer Widerstandsfähigkeit beraubt hat. Diese Ereignisse zeigen auch, wie beschränkt solche Versuche der „Selbstreform” der stalinistischen Bürokratie zwangsläufig sind.

Der Prager Frühling und sein Scheitern haben auf die internationale Arbeiterbewegung wichtige Auswirkungen. In Frankreich versucht die KPF erfolglos im Juli 1968 eine Konferenz aller west- und osteuropäischen KPen zu organisieren. Es sei dahingestellt, ob sie damit die drohende militärische Intervention abwenden oder den Druck auf die KPČ erhöhen will. Später bezieht sie zwar Stellung gegen die Invasion, weigert sich aber hartnäckig, die „Normalisierung” zu verurteilen, die von Louis Aragon (Dichter und Mitglied des ZK der KPF) als „geistige Verarmung” bezeichnet wird. Nach dem Verrat an der Bewegung des Mai 68 in Frankreich bedeutet diese Haltung den definitiven Bruch der KPF mit der jungen Generation, die bestrebt ist, den Kampf für die sozialistische Revolution wieder aufzunehmen.

Aus Rouge 2263, 31.7.2008
Übersetzung: MiWe


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 442/443 (September/Oktober 2008). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Militärische Allianz der UdSSR und der osteuropäischen Länder

[2] Lokomotiven-Werk [Anm. d. Red.]

[3] Alle Zitate aus „Reise in den Winter” von Vercors, Paris 1970, zitiert nach „ČSSR – Fünf Jahre „Normalisierung””, Vlg. Association, 1973