Geschichte

Aus der Geschichte der Friedensbewegung

(Red) 1983, auf dem Höhepunkt der Bewegung gegen die NATO-Nachrüstung, veröffentlichte Hans-Jürgen Schulz sein Buch „Frieden schaffen – aber wie“. Die Auszüge, die wir bringen, spiegeln auch die Atmosphäre und die Bedingungen politischer Arbeit in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten wider, einer heute weithin unbekannten Epoche.

Hans-Jürgen Schulz


Bring the boys home


Die Waffen schwiegen im Sommer 1945 nach sechsjährigem Kampf. Aber es gab führende Politiker, die den 2. in einen 3. Weltkrieg überführen wollten. Virgil Jordan, als Präsident der National Industrial Conference Board ein führender Vertreter von Big Business, forderte offen, die ganze Welt den USA zu unterwerfen. Die Macht dazu habe man, dank der Atombombe. Sie erlaube es, pflichtete der spätere US-Stabschef Taylor bei, „der Welt eine Art Pax Americana aufzuerlegen“.

Doch die Völker waren müde und ließen sich nicht in einen neuen Krieg treiben. Die Soldaten spürten, daß man sie nicht nach Hause lassen wollte. Sie reagierten sofort. Am 21. August, als die japanische Kapitulationsurkunde noch nicht abgezeichnet war, forderten 580 Soldaten der kampferprobten 59. Division ihre Entlassung in einer schriftlichen Eingabe. So etwas wird beim Militär normalerweise als Meuterei bestraft. Doch niemand eröffnete ein Kriegsgerichtsverfahren. Die Generäle kannten die Stimmung der Truppe. 81 % der Soldaten, so wußten sie aus einer Meinungsumfrage, waren der Ansicht, ihre Pflicht erfüllt zu haben. Man sollte sie nach Hause schicken.

Als das nicht geschah, wehrten sie sich. Am 15. September eröffnete General Twaddle den Soldaten der 95. Division, sie müßten als Besatzer in Japan bleiben. Seine Rede ging in einem Proteststurm unter.

Spontan reagierten die Familienangehörigen zu Hause. „Bring the boys home“, forderten sie und bombardierten die Politiker mit ihren Eingaben. Ende Dezember gingen beim US-Kongreß täglich an die 100 000 Protestbriefe ein. Den 24. Dezember feierten die Soldaten auf den Philippinen auf ihre Weise. 4000 marschierten durch die Stadt mit Transparenten wie „bring us home“ und „gebt uns Schiffe“. Die freilich wurden dringend anderweitig gebraucht – um französische Kolonialtruppen nach Vietnam zu transportieren.

Doch Manila machte Schule. Nun protestierten die Soldaten überall offen. Auf Guam traten 3500 in den Hungerstreik. Im Januar erreichte die Protestwelle Europa. Am 8.1. marschierten Tausende in lockerer Ordnung über die Champs Elysees zur US-Botschaft und forderten ihre Entlassung. Am folgenden Tage gab es die erste Demonstration in Frankfurt, dann in Nürnberg und anderen süddeutschen Garnisonen. Auf den Philippinen trat ein Kongreß von Delegierten zusammen, der 139 000 Soldaten vertrat. Leicht hätte daraus ein Soldatenrat werden können. Diese Protestwelle machte Generälen und Politikern klar, daß die Armee sich als kampfbereiter Verband schon aufgelöst hatte. Selbst die in China gegen die Revolution eingesetzte Marineinfanterie war infiziert. Darum schickte man sie besser nach Hause und nahm sich die Zeit, eine neue Armee aufzubauen. Millionen Soldaten wurden Anfang 1946 binnen weniger Monate entlassen.

Dieses Beispiel beweist, daß man ein Volk nicht beliebig in einen Krieg jagen kann. Es gibt auch andere ermutigende Beispiele, wie ein Krieg beendet werden kann. Unter der Losung „Land und Frieden“ wurde im Oktober 1917 die alte Gesellschaft Rußlands gestürzt und das Land aus dem Krieg herausgeführt. Rebellierende deutsche Soldaten und Matrosen haben zusammen mit streikenden Arbeitern im November 1918 dem Morden ein vorläufiges Ende gesetzt.

Solche Erfolge waren bisher freilich die Ausnahme und nicht die Regel. Zwar gab es viele Friedensbewegungen in der Geschichte. Die Bundesrepublik erlebt gegenwärtig die vierte in drei Jahrzehnten. Sie sind vergangen und vergessen und die Lehren nie gezogen worden. Sie und andere in aller Welt endeten mit Niederlagen und haben kaum Spuren hinterlassen. Auf der Suche nach dem richtigen Weg werden heute nicht vergangene Erfahrungen ausgewertet, sondern viele orientieren sich an Leitbildern wie Gandhi, die zu Mythen und Legenden stilisiert werden. Das mag denen nützen, die glauben und nicht denken wollen. Aber es löst nicht die brennende Frage, wie die Friedensbewegung ihre Ziele durchsetzen kann.

[…]


Ohne uns


Zu viele Deutsche hatten Angst und Elend des Krieges selbst erlitten, als daß sie noch einmal Soldat werden wollten. Wer angstvoll im bebenden Luftschutzkeller beim Einschlag der Bomben zusammenfuhr, wer vor dem Donnergrollen feindlicher Artillerie und Panzerkanonen panisch flüchtete, wer mit hoch gereckten Händen, eine entsicherte Waffe im Rücken, sich in jahrelange Gefangenschaft abführen ließ – wer solche Todesangst hatte, der möchte das alles nicht noch einmal mitmachen.

„Wir wollen keine Soldaten sein, Theodor, geh Du allein,“ riefen 25 000 Bochumer Arbeiter dem neuen Bundespräsidenten Theodor Heuß zu, der für die Aufrüstung war. Einst hatte er für Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt. Nun war er natürlich wieder Demokrat.

Diese Sprechchöre gaben die allgemeine Stimmung wieder. Im Dezember 1949 waren nur 6,9 % der Westdeutschen für deutsche Soldaten. Die Parteien paßten sich dieser Stimmung an, aber sie gaben ihr nicht nach. „Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nehmen will, dem soll die Hand abfallen,“ erklärte damals ein recht Unbekannter, ein gewisser Franz Joseph Strauß. Im Petersberger Abkommen mit den drei Westmächten hatte sich die Bundesregierung gerade feierlich verpflichtet, „sich mit allen Mitteln … zu bestreben, daß die Wiederaufstellung bewaffneter Streitkräfte jeder Art verhindert wird.“ Der Hamburger SPD-Parteitag beschloß im Mai 1950: „Der Parteitag bestätigt, … sich jeder Remilitarisierung Deutschlands mit allen Mitteln zu widersetzen. Die SPD lehnt die Wiederaufrüstung und die Einführung einer militärischen Dienstpflicht ab.“

Doch klammheimlich wurde gerade das vorbereitet, gerade auch von der SPD und der mit ihr verbundenen Gewerkschaftsführung. Die Parteien seien sich in der „grundsätzlich positiven Haltung zur Verteidigung“ einig, betonte SPD-Vorsitzender Schumacher schon Anfang 1951. Unter Verteidigung verstand er, daß die Kriegsentscheidung im schnellen Gegenstoß außerhalb der deutschen Grenzen fallen müsse – im Osten natürlich. […]

Gegen die Politik der Aufrüstung und gegen den Kalten Krieg machte die KPD mobil: Sie war damals eine starke, militante Partei. Um die 200 000 Mitglieder dürfte sie gehabt haben. Hinzu kamen Zehntausende in der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Auf ihre Initiative entstand am 14. April 1951 der „Hauptausschuß für Volksbefragung gegen Remilitarisierung“. Über ihn und zahllose örtliche und betriebliche Ausschüsse wurde eine Befragung durchgeführt. „Sind Sie gegen die Remilitarisierung Deutschlands und für den Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland im Jahre 1951?“ wurde die Bevölkerung gefragt.

Viel später gab die KPD ein „gewisses Sektierertum“ bei dieser Kampagne zu. Es seien nur die linken Kerne der Arbeiter aktiviert worden. In Wahrheit war alles eine Aktion der Partei, für die ein paar bürgerliche Aushängeschilder gewonnen wurden. Sozialdemokraten und Gewerkschafter wollten sich dieser Führung nicht unterordnen. Ihre Führung verbot den Mitgliedern sogar die Teilnahme. Dies Dekret fand in Partei und Gewerkschaft kaum Widerstand.

Aber die Führung ging noch weiter. „Diese Aktion muß als ungesetzlich unterbunden werden“, forderte Herbert Wehner mit dem Eifer des Renegaten. Wo käme die bürgerliche Demokratie auch hin, wenn Schicksalsfragen vom Volke selbst entschieden würden?

Eine offene antikommunistische Hetzkampagne wurde gestartet und von den Massenmedien bereitwillig getragen. Das gesamtdeutsche Ministerium verklebte hunderttausende Plakate: „Wer an der kommunistischen Volksbefragung teilnimmt, gefährdet den Frieden und stellt sich in den Dienst des Kommunismus“, konnte man lesen.

Schon am 24. April verbot die Bundesregierung die Befragung als „Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung“. Wo befragt wurde, tauchte die Polizei auf. Dabei wurden 7331 verhaftet. Es gab über 1000 Gerichtsverfahren mit einer unbekannten Zahl von Angeklagten. Am 26. Juni 1951 wurde die FDJ verboten. Nach dem Grundgesetz findet zwar eine Zensur nicht statt. Aber das Nähere regelt ein Bundesgesetz, und das erlaubte das Verbot von KPD-Zeitungen wegen Unterstützung der Befragung. Nur noch zwei der damals 14 Tageszeitungen konnten erscheinen. Die Bundesregierung stellte beim Bundesverfassungsgericht den Antrag, die KPD als verfassungsfeindliche Partei zu verbieten. 1956 geschieht es dann, und die KPD wird für weitere 12 Jahre in die Illegalität getrieben.

Mitte März 1952 löst sich der Hauptausschuß für die Befragung auf. 5,9 Mill. Unterschriften sind trotz dieser Repression gesammelt worden. Wo frei befragt werden konnte, gab es eine überwältigende Zustimmung. KPD und FDJ hatten zweifellos viel geleistet. Sie hatten dem Polizeiterror und der Hetze standgehalten und militante Aktionen durchgeführt. Anfang 1951 waren sieben Jugendliche auf Helgoland gelandet, das Bombenziel der Royal Air Force war. Als sie verhaftet wurden, kamen andere. Am Ende erzwangen sie die Einstellung der Bombardierung. Nichts erinnert Bewohner und Touristen heute auf der Insel an ihren selbstlosen Einsatz.

Andere mauerten Sprenglöcher an Brücken zu. Wer gefaßt wurde, riskierte hohe Freiheitsstrafen. So verurteilte ein US-Militärgericht Walter Zauner zu 4 Jahren. Polizei feuerte auch auf Demonstranten. Philipp Müller war ihr erstes Opfer.

Doch diese militanten Aktionen haben niemanden mitgerissen. Sie gaben kein Beispiel. In der Kampagne konnten zwar einige Bürgerliche und ein paar hundert Sozialdemokraten gewonnen werden. Doch die KPD wollte die Führung und nicht die Aktionseinheit. So geht Welle um Welle einzeln in den Kampf.

Die Gewerkschaften werden erst Anfang 1952 erfaßt. Ihre Spitzenfunktionäre sind allen Kongreßbeschlüssen zum Trotz für die Aufrüstung. Wohl um den Schwung der Volksbefragung zu stoppen, sagen sie das nun offen. DGB-Bundesvorstandsmitglied Georg Reuter schreibt im Dezember 1951 in der „Welt der Arbeit“ einen Artikel mit dem provozierenden Titel „Mit uns“. Das und andere Äußerungen bringt die mittlere Führungsebene unter schweren Druck der Basis. Sie erzwingt für den 10. Februar 1952 eine außerordentliche Landeskonferenz des bayerischen DGB. Bei nur einer Enthaltung wird ein deutscher Wehrbeitrag einstimmig abgelehnt und gewerkschaftliche Aktionen gefordert. Die ganze Vorstandsprominenz war angereist und erlebte ihre Niederlage. Der Beschluß sei „eine gewerkschaftliche Katastrophe“, ließen sie in der „Welt der Arbeit“ schreiben. Doch schon 14 Tage später findet eine „Arbeitstagung“ der 365 Orts- und Kreisvorsitzenden des DGB statt. Auch sie lehnen die Wiederaufrüstung ab und fordern, „die Entscheidung über den deutschen Verteidigungsbeitrag in die Hände des gesamten deutschen Volkes zu legen“. Für Justizminister Dehler (FDP) ist diese selbstverständliche demokratische Forderung eine Androhung zum Rechtsbruch die „normalerweise mit Zuchthaus bestraft“ werde. Doch die Arbeiter streiken spontan – in 65 südlichen und 25 westdeutschen Betrieben.

Selbst im Bürgertum regt es sich. Der ehemalige CDU-Innenminister Heinemann, die Vorsitzende der katholischen Zentrumspartei und andere gründen eine „Notgemeinschaft für den Frieden Europas“. Sie schreiben bewegende Appelle, doch sie organisieren nichts. Als ihre Appelle ungehört bei Parteien und Kirchen verhallen, gründen sie die Gesamtdeutsche Volkspartei, die bei den Wahlen 1953 1,1 % der Stimmen erlangt.

Doch das alles, Unterschriften, Streiks und selbst die Differenzierung im bürgerlichen Lager, bleiben erfolglos. Nach ein paar Jahren ist die Bundeswehr die stärkste NATO-Armee in Europa. Die KPD zersetzt sich rasch. Sie hat große Hoffnungen geweckt. Sie verliert über die Hälfte der Mitglieder und erzielt bei den Wahlen 1953 nur noch 2,2 % der Stimmen. Drei Jahre nach Ende der Kampagne halten 60 % der Bundesbürger die Remilitarisierung für notwendig. […]


Die westdeutschen Ostermärsche


Nach den Niederlagen mußte in der Bundesrepublik ganz von vorne angefangen werden. So war es ein verlorenes Häuflein von 200 Menschen, das sich Karfreitag 1960 in Hamburg auf den Weg machte. Wegen der Feiertagsbestimmungen durfte die „Menge“ sich erst außerhalb der Stadt formieren. Ihr Ziel war das Truppenlager Bergen-Hohne, wo die atomare Kurzstreckenrakete „Honest John“ stationiert war. Dort traf sich ein „Sternmarsch“ mit Teilnehmern aus Lüneburg, Bremen, Hannover und Braunschweig. Ganze 1000 Leute versammelten sich. Der Bundesvorstand des Verbandes der Kriegsdienstverweigerer hatte für die Finanzierung des Unternehmens eine Ausfallbürgschaft übernommen – von 300 DM. Wer konnte ahnen, daß hier eine neue Bewegung ihren Anfang nahm?

Sie war nicht nur winzig. Es gab auch genug Anlässe, sie zu verspotten. Das Verdienst, diesen neuen Anfang gewagt zu haben, gebührt ethischen Pazifisten wie Hans Konrad Tempel. Aber sie hatten auch ihre sehr eigenen Vorstellungen. Auf dem ersten Marsch durfte auf dem langen Wege nicht diskutiert werden, um kommunistische Propaganda zu unterbinden. Sprechchöre suchten Ordner noch jahrelang zu verhindern, weil man durch gesammelten Ernst beeindrucken wollte. An den Ostertagen waren Marschstrecken von 40 bis 110 Kilometern zurückzulegen, fast immer bei miserablem Wetter. Auch das sollte Eindruck machen. Ernsthaft wurde diskutiert, friedliche Fallschirmspringer über dem roten Platz in Moskau in weißer Kleidung abspringen zu lassen. Der Einwurf, das seien wohl Weißgardisten, wurde ahnungslos als Formulierungsvorschlag übernommen.

Doch die Herrschenden witterten die Gefahr früher als viele Linke die Chancen. Die Ostermarschierer wurden von Anfang an drangsaliert und verleumdet. Die Polizei erlaubte nur Marschrouten quer durch die Landschaft und menschenleere Stadtteile. Noch 1963 ordneten die Länderinnenminister an, daß verkehrsreiche Straßen auch außerhalb der Ortschaften nicht benutzt werden dürften. Doch geduldig zogen die Marschierer über Landstraßen und Feldwege. In den Städten durfte erst nach Ende der Gottesdienste um 11 Uhr aufgebrochen werden. Sprechchöre und sogar Lautsprecher für Kundgebungen waren lange untersagt. So waren die Ostermärsche kaum zu sehen und zu hören.

Immer wieder wurden Flugblattaktionen untersagt. Transparente waren genehmigungspflichtig. Im sozialdemokratischen Frankfurt gingen Losungen wie „Es gibt keinen Luftschutz im Atomzeitalter“ oder „Unruhe ist die erste Bürgerpflicht“ nicht durch die Zensur der Polizei. Auf Veranstaltungen meldete sich beim Versammlungsleiter stets ungeniert ein Polizist in Zivil und erklärte, er wolle sich die Sache im Auftrage des Herrn Polizeipräsidenten anhören. [...]

      
Mehr dazu
Redaktion: Hans-Jürgen Schulz (7. Juni 1933 - 15. Juli 1998), Inprekorr Nr. 323 (September 1998)
Heinrich Neuhaus: Hans-Jürgen Schulz (1933-1998), Inprekorr Nr. 323 (September 1998)
Jean-Louis Michel: Die neue NATO: ein Instrument der Pax Americana, Inprekorr Nr. 314 (Dezember 1997)
Thies Gleiss: Nationalismus, Krieg und internationales Kapital – einige notwendige Anmerkungen, Inprekorr Nr. 284 (Juni 1995)
Hans-Jürgen Schulz: Deutsche Soldaten – weltweit, Inprekorr Nr. 283 (Mai 1995)
Hans-Jürgen Schulz: Rüstung, Krieg und Frieden, Inprekorr Nr. 282 (April 1995)
Hans-Jürgen Schulz: Deutschland in der Neuen Weltordnung, Inprekorr Nr. 236/237 (Juni/Juli 1991)
Ernest Mandel: 25 Thesen zur Antikriegsbewegung, Inprekorr Nr. 172 (September 1985)
Vereinigtes Sekretariat: Kampf gegen die Remilitarisierung des Imperialismus, für den Frieden und Sozialismus, Inprekorr Nr. 140 (Januar 1982)
 

Solange die Ostermärsche noch schwach waren und ihre Ausweitung abgeblockt werden sollte, wurden sie schlicht als kommunistisch unterwandert und gesteuert verleumdet. Sozialdemokraten und Gewerkschafter durften nicht teilnehmen. Das Bundesinnenministerium bezeichnete die „Kampagne für Abrüstung“, so die offizielle Bezeichnung der Ostermärsche, als „Tarnorganisation“. Gegen die Verleumdungen schützte die Bewegung sich, indem sie zunehmend öffentliche Unterstützung fand.

Zur Teilnahme riefen immer mehr namhafte Personen auf, die man bei übelstem Willen nicht mehr als Kommunisten bezeichnen konnte. 1963 waren es 3000, darunter 600 evangelische Pfarrer. 1964 unterschrieben über 8000, darunter 453 Funktionsträger aus Betrieben und Gewerkschaften, sowie 1100 Geistliche. 1965 waren kommunale sozialdemokratische Abgeordnete aus 50 Orten dabei. Führende Gewerkschafter wie der hessische DGB-Vorsitzende Pleß oder Olaf Radke vom Vorstand der IG Metall sprachen auf den Kundgebungen.

Die Kampagne für Abrüstung stützte sich organisatorisch auf örtliche und regionale Ausschüsse. An sich konnte jeder in ihnen mitarbeiten. Faktisch vertraten die meisten aber eine Organisation oder lose Gruppierungen – Pazifisten, Kriegsdienstverweigerer, vor allem die illegale KPD, aber auch Sozialisten, „Falken“, SDS, später auch Vereinigungen wie die liberalen Studenten oder die Humanistische Union. Die Ausschüsse organisierten die Märsche, aber diese Gruppen mobilisierten die Teilnehmer. Die Ausschüsse waren im wesentlichen Aktionseinheitsgebilde, in denen bundesweit nie mehr als 500 Aktive mitgearbeitet haben dürften. Man finanzierte sich aus Spenden und erhob von den Marschierenden Marschbeiträge – 20 DM und mehr.

Langsam wurden die Ostermärsche Auslöser und Träger einer außerparlamentarischen Opposition, die sich erstmals unabhängig von den etablierten Parteien und Gewerkschaften bildete. Von Jahr zu Jahr wurde sie stärker. Ostern 1968, nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke, demonstrierten 300 000 in über 10 regionalen Märschen.

Die Bewegung war nicht stark genug, um die Politik der Atomrüstung infrage stellen zu können. Sie wirkte, abgesehen von den sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Jugendorganisationen, auch kaum in die etablierten Organisationen hinein. Aber sie schuf ein kritisches politisches Bewußtsein. Am Beispiel Vietnam erlebten Hunderttausende, daß die NATO nicht die Freiheit verteidigte und wer an der Rüstung verdiente. An den obrigkeitlichen Schikanen erfuhren viele, wie eng die Grenzen der Demokratie gesteckt sind. Darum nannte man sich ab Januar 1968 „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“ und das Mitteilungsblatt „Informationen zur Abrüstung“ hieß fortan „Außerparlamentarische Opposition“.

Die Ostermarschbewegung wurde einer der Träger der Opposition gegen die Notstandsgesetze. Am 11. Mai 1968 gab es den großen Sternmarsch auf Bonn mit 100 000 Teilnehmern. Sie hörten auch einen Bericht über die dramatischen Tage in Paris, über die Kämpfe zwischen Jugendlichen und brutaler Polizei, über den Generalstreik der Arbeiter, der das gaullistische Regime erschütterte und den Präsidenten panikartig das Land verlassen ließ.

Doch hatten die Ostermärsche ihre Möglichkeiten ausgeschöpft. Man kann nicht immer nur marschieren, ohne etwas zu erreichen. Die Rebellen der Jugendbewegung stürmten vor und glaubten, durch Straßenschlachten mit der Polizei, Angriffe auf Amerikahäuser, Konsulate oder Einrichtungen des Springerkonzerns die bürgerliche Gesellschaft im ersten Ansturm stürzen zu können. In den Ausschüssen der Ostermarschierer blieben fast nur noch die Anhänger der neu zugelassenen DKP und die wenigen wirklichen Pazifisten zurück. Der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes im August 1968 in die CSSR erschütterte die verbliebenen Gemeinsamkeiten. Die DKP verteidigte die Invasion bedingungslos. Die Ausschüsse verloren rasch den Charakter einer Sammlungsbewegung und damit ihre Bedeutung. Ostern 1969 gab es nur noch Aktionen, aber schon keine Märsche mehr.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 323 (September 1998). | Startseite | Impressum | Datenschutz