Deutschland/Imperialismus

Deutsche Soldaten – weltweit

Nicht jede radikale Losung dient der Erkenntnis. Vor einigen Jahren wurde viel vom „Vierten Reich“ und „Großdeutschland“ geredet, womit wohl behauptet werden sollte, die BRD würde die Politik des „Dritten Reiches“ fortführen. Dann hieß es, der deutsche Imperialismus habe erfolgreich den Zerfall Jugoslawiens betrieben. Nun weiß jede und jeder, daß das „Dritte Reich“ die Welt erobern wollte. Wer von einer Fortsetzung dieser Politik redet, müßte das zu beweisen suchen und vor allem erklären, warum dann die Zahl deutscher Soldaten und die Rüstungsausgaben sinken. Beides ist faktisch unmöglich zu belegen, und darum haben große Teile der Linken ihre Handlungsfähigkeit verloren. Wer phantasiert statt analysiert, kann nichts verstehen, nichts erklären, nichts voraussehen und darum auch niemanden mehr überzeugen. Dies und viel weniger der Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ machen die eigentliche Krise der radikalen Linken aus. Sie wird bestraft, weil sie das wahre Leben nicht mehr erkennt.

Hans-Jürgen Schulz

In diesem Artikel wird als bewiesen angenommen, daß es weiter eine herrschende Klasse gibt und die das Großkapital ist, genauer: das Finanzkapital, das heißt das miteinander verwobene Bank-, Industrie- und Handelskapital. Es hat bereits vor anderthalb Jahrhunderten die nationalen Grenzen und damit die „Volkswirtschaft“ oder „Nationalökonomie“ gesprengt. Daraus entwickelten sich ungezählte Kriege. Die entwickelten kapitalistischen Staaten haben die ganze Welt militärisch erobert und allein zwei Weltkriege um die Neuaufteilung der Erde geführt.


Wer herrscht?


In den letzten 50 Jahren haben die imperialistischen Länder jedoch keinen Krieg mehr gegeneinander geführt, und niemand erwartet im Ernst eine Wiederholung von 1914 oder 1939. Die BRD und die anderen imperialistischen Mächte haben nicht aufgehört imperialistisch zu sein. Aber die Bedingungen haben sich grundlegend geändert. Das Kapital denkt und operiert nicht mehr im nationalen Rahmen. „Was ist denn deutsch an Hoechst?“, fragt dessen Vorstandsvorsitzender Dormann. „Unser größter Einzelmarkt sind die Vereinigten Staaten. Unser kuwaitischer Aktionär hat mehr Anteile als alle deutschen Aktionäre zusammen. Unser Forschungskonzept ist international. Wir sind ein eingespielter, funktionierender Weltkonzern.“ Und „wir haben den Patriotismus ein bißchen übertrieben“, weil „wir als deutsche Staatsbürger“ den Standort Deutschland bevorzugten.


Imperialistischer Internationalismus


Der Stalinismus blieb trotz seines prinzipiellen Internationalismus im Rahmen des Nationalstaates gefangen, führte sogar Kriege gegeneinander (Einmarsch in Ungarn und CSSR, China gegen Vietnam, Einmarsch Vietnams in Kampuchea) und manövrierte mehrfach am Rande großer Kriege (1948 gegen Jugoslawien, 1960 SU gegen China). Der Kapitalismus hat auch darum überlebt, weil er im Gegensatz dazu erfolgreich höhere Formen der internationalen Zusammenarbeit entwickelte.

Daraus ist kein Ultraimperialismus im Sinne von Kautsky, keine imperialistische Weltregierung und nicht einmal ein verbindliches internationales Schiedsgericht entstanden. Die Konzerne kooperieren und konkurrieren miteinander, sie haben meist eine Heimatbasis, deren staatliche Macht sie auch international nutzen. Wenn der Bundeskanzler in den Iran oder nach China reist, begleitet ihn nicht zufällig eine Hundertschaft von Spitzenmanagern, die bei dieser Gelegenheit Geschäfte anbahnen wollen. Es ist prinzipiell nicht ausgeschlossen, daß das Kapital sich in Krisenzeiten wieder auf seine nationale Basis zurückziehen könnte. Dann sind auch Kriege gegeneinander nicht ausgeschlossen. Auf absehbare Zeit ist das aber unwahrscheinlich. Der deutsche Imperialismus macht da keine Ausnahme.

Im letzten halben Jahrhundert ist vielmehr ein internationales Machtkartell der entwickelten kapitalistischen Staaten entstanden, das seine Gegensätze überbrücken konnte und seine gemeinsamen Interessen gegen die ganze Welt nachdrücklich vertritt. Dafür wurden eine Reihe von Einrichtungen geschaffen. Durch den internationalen Kapitalmarkt wird jedes Land dem Diktat der Börse unterworfen. Damit ist faktisch die Souveränität auf diesem Sektor aufgehoben und mit ihr auch die theoretische Möglichkeit einer parlamentarischen Kontrolle etwa der Bundesbank. Durch internationale Zoll- und Handelsabkommen mit dazu gehörenden permanenten Verwaltungsorganen wie die WTO (World Trade Organisation) ist jeder Staat fast unlösbar an den Weltmarkt gebunden. Durch IWF und Weltbank werden grundsätzliche Entscheidungen in den meisten Ländern stärker bestimmt als durch deren eigene Regierungen.

Regionale Wirtschaftsblöcke wie die Europäische Union übernehmen zunehmend Befugnisse von Nationalstaaten. Das alles sind kompliziert organisierte Institutionen, in denen das Kräfteverhältnis zwischen den Nationalstaaten, die Willensbildung und Befugnisse sehr sorgfältig ausbalanciert sind. Insgesamt aber sind sie Einrichtungen für den Ausgleich der nationalen Interessen und vor allem Instrumente gemeinsamer Politik.

Das gilt gerade auch auf militärischem Gebiet. Wären die Militärpakte Verteidigungsbündnisse, wie bis zur Wende von 1989 immer behauptet wurde, würden sie wie der Warschauer Pakt aufgelöst sein. Faktisch werden sie jedoch ausgebaut und umorganisiert. Die Zusammenarbeit, gemeinsame Ausrüstung und Ausbildung werden sogar intensiver, die einheitliche Kommandostruktur gefestigt.

Dem dient unter anderem die NATO, die jetzt als weltweit einsetzbares Instrument der Intervention ausgebaut wird. Der Nato-Ministerrat hat das im Juni 1990 übrigens ausdrücklich beschlossen. Der Militärpakt diene nicht mehr nur der Abwehr eines Angriffs, sondern weltweit der Wahrung „vitaler Interessen“ der Mitglieder.

In der Nato haben die USA mit ihrem militärischen Übergewicht die dominierende Rolle. „Ohne amerikanische Führung passiert, bis jetzt jedenfalls, in Europa recht wenig“, erklärte Nato-Generalsekretär Wörner kurz vor seinem Tode. Um das wenigstens langfristig zu ändern, wird die WEU (Westeuropäische Union) ausgebaut. Als politisches Instrument dieser Machtpolitik und zur Legitimierung rüder Durchsetzung imperialistischer Interessen dienen die UNO und regionale Einrichtungen wie OSZE, OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) oder die OAU für Afrika.

Ausgesprochen reaktionär sind denn auch Vorstellungen, ausgerechnet solchen Instrumenten imperialer Weltpolitik international das Gewaltmonopol zuzugestehen, wie es die Propaganda von Regierung und SPD fordert, seit einiger Zeit auch ehemals Linke wie Daniel Cohn-Bendit. Staaten und folglich auch internationale Einrichtungen wie Nato oder UNO verteidigen Interessen der Industriemächte und nicht Menschenrechte. Wenn sie letzteres behaupten, dann ist das stets Propaganda, und der Weg in den Krieg wurde schon immer mit frommen Lügen gepflastert. Wenn die Bundeswehr Menschenrechte verteidigen würde, müßte sie türkische Stellungen in Kurdistan oder Geheimdienstzentrale und Staatsgerichtshof in Ankara bombardieren. Cohn-Bendit fordert das nicht, sondern stattdessen Bomben auf die Höhen von Sarajewo – um Frieden und Menschenrechte zu schützen.


Imperialistische Wende


Wer nun freilich in Kategorien von 1939 denkt und darum vom „Vierten Reich“ redet, muß schon beweisen, wie und warum die BRD aus den real existierenden internationalen Bindungen sich herauslösen sollte und natürlich auch, warum bei der unterstellten nationalstaatlichen Politik seit einem Jahrzehnt die Rüstungsausgaben real sinken. Analysieren wir lieber, was die neue deutsche Politik ausmacht. Sie bleibt nämlich imperialistisch, denkt aber nicht so unrealistisch wie Teile der deutschen Linken ihr unterstellen.

Bis 1989 war in der bundesdeutschen Politik fast unstrittig, daß deutsche Soldaten nur im Rahmen der Nato und zur Verteidigung bei einem Angriff auf einen Nato-Staat und nur im Rahmen dieses Bündnisses eingesetzt werden dürften. Das hat sich grundlegend geändert, und das ist wirklich neu.

In der BRD gibt es einen militärökonomischen Komplex. Über 500 000 Menschen leben als Berufssoldaten, Zivilbeschäftigte der Bundeswehr und Beschäftigte in der Industrie von der Rüstung. Einige Konzerne erzielen damit beträchtliche Umsätze wie Daimler Benz (1992: 6,7 Mrd. DM), Siemens (1,6 Mrd.), Diehl (1,4 Mrd.) Rheinmetall (1,4 Mrd.), Thyssen (1,2 Mrd.), Bremer Vulkan (1 Mrd.) oder Mannesmann (0,6 Mrd. DM). Sie sind naturgemäß an einer hohen Rüstung interessiert. Aber für die politische Entscheidung hat deren spezielles Interesse jedoch nur zweitrangige Bedeutung und ist eher zurückgegangen. Die neue Außenpolitik wird in ihren Grundzügen von allen Teilen der herrschenden Klasse und politischen Kaste getragen und drückt deren Interessen aus.

Die fühlt sich kaum durch den Anschluß der DDR gestärkt. Deren wirtschaftliches Potential hat sie sogar bewußt zerstört, weshalb Transferzahlungen in dreifacher Höhe der Rüstungsausgaben notwendig wurden. Entscheidend war vielmehr, daß die bisherigen Beschränkungen der Souveränität durch den „2+4-Vertrag“ aufgehoben wurden und vor allem die sowjetischen Truppen abzogen. Vorher konnte die SU jederzeit Druck ausüben, vor allem an den Zugängen nach Berlin. Die westlichen Alliierten hatten Vorbehaltsrechte, die sie auch geltend machten.

Diese Einengung der Macht ist entfallen, was der deutschen Politik ganz neue Möglichkeiten eröffnet, die sie auch nutzen will. Im „2+4-Vertrag“ verzichtet sie nur noch auf den Besitz von Massenvernichtungsmitteln. Auch darf weiterhin kein Krieg von deutschem Boden ausgehen. Zumindest letzteres läßt sich unschwer umgehen, weil deutsche Soldaten künftig, wenn sie schießen, nicht Krieg führen, sondern Frieden schaffen.

Es verstößt zwar gegen das Grundgesetz, wenn die Bundeswehr außerhalb des Territoriums der Nato eingesetzt wird, denn nach Artikel 87a des Grundgesetzes darf sie nur zur Verteidigung genutzt werden. Das war so unstrittig, daß die Bundesregierung das früher gar nicht leugnete. Außenminister Genscher hat noch 1988 ausdrücklich erklärt, militärische Aktionen im Rahmen von UN-Missionen seien durch die Verfassung nicht gedeckt. Im Sommer 1990 lehnte die Bundesregierung darum die Beteiligung an der Seeblockade des Irak ab.

Ursprünglich wollte man darum die Verfassung ändern. Da das zeitraubend ist und vor allem in der SPD hinderlichen Widerstand provoziert hätte, hörte man auf jene, die die Verfassung akrobatisch auslegen. Das von den Parteien ernannte Bundesverfassungsgericht hat das im Juli 1994 dann erwartungsgemäß abgesegnet.


Militärpolitische Lage


„Deutschland ist kriegsunfähig geworden. Vollkommen und für immer“, erklärte der sowjetische Außenpolitiker Falin im Herbst 1990. Es ist „bei jedem Krieg dazu verurteilt, unterzugehen, katastrophal und für immer.“ Wenige Atomwaffen würden genügen, um das ganze Land zu verwüsten. Doch schon die gezielte „konventionelle“ Zerstörung von Atomkraftwerken und vielleicht einiger Chemiebetriebe würde ausreichen.

Das ist gewiß richtig und erklärt, warum die damalige Sowjetunion sich auch durch ein vereinigtes Deutschland nicht bedroht fühlte. Diese Aussage gilt freilich für fast jeden Industriestaat und mit gewissen Einschränkungen auch für Rußland oder die USA. Sie können darum zumindest einen konsequent ausgetragenen Krieg gegeneinander nur noch um den Preis des eigenen Untergangs führen.

Falin hat jedoch nur recht, wenn Krieg auf deutschem Boden geführt wird. Er soll nur von dort ausgehen. „Landesverteidigung unter Einsatz der Streitkräfte … erscheint zunehmend unwahrscheinlich. Einsatz von Teilen des Militärs außerhalb des eigenen, sich noch im Frieden befindlichen Landes wird eher der Normalfall“, heißt es im Ausbildungskonzept der Bundeswehr. Unumwunden wird zugestanden, daß die BRD nicht mehr durch äußere Feinde bedroht sei.

„Deutschland … ist heute ausschließlich von Verbündeten und befreundeten Partnern umgeben“, heißt es in den „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ der Bundesregierung von 1992. „Die existentielle Bedrohung (ist) irreversibel überwunden.“ Die alte sowjetische Militärmacht sei bis auf das atomare Potential zerfallen. „Für eine großangelegte Aggression gegen die NATO fehle damit … das erforderliche politisch-ökonomisch-militärische Gesamtpotential. Dennoch wurde nicht ab-, sondern umgerüstet.

Deutschland ist militärisch eine Groß-, aber keine Weltmacht wie die USA. Dafür fehlen die Atomwaffen und die Mittel, weltweit gestützt auf eigene Ressourcen militärisch operieren zu können. Insbesondere fehlen Satelliten für die Aufklärung und zur Navigation, eine große Flotte mit Flugzeugträgern und Transportschiffen sowie Lufttransporter. Als im Golfkrieg eine kleine Einheit der Bundeswehr in die Türkei verlegt wurde, hatte man für den Transport von Flugabwehrraketen keine eigenen Flugzeuge und mußte peinlicherweise die Russen darum bitten.

Die Herrschenden der BRD knüpfen nicht dort an, wo sie 1945 aufhören mußten. Sie wollen Teil des internationalen imperialistischen Machtkartells bleiben, in ihm allerdings ihr Gewicht entscheidend verstärken. Sie verstehen sich als eine, eigentlich als die europäische Führungsmacht. Keine wichtige Fraktion des deutschen Kapitals denkt daran, aus diesem Kartell auszuscheiden, um eine nationalistische imperialistische Politik zu verfolgen. Die Linke sollte nicht die Gespenster von gestern beschwören, sondern die Gefahren von heute bekämpfen.


Ziele deutscher Politik


„Deutschland verfolgt seine legitimen nationalen Interessen“ heißt es in den „Verteidigungspolitischen Richtlinien“. „Trotz prinzipieller Übereinstimmung werden (sie) sich … nicht in jedem Einzelfall mit den Interessen der Verbündeten … decken.“ In dem genannten Dokument sowie den „Militärpolitischen und militärstrategischen Grundlagen der Bundeswehr“ werden sie näher bestimmt. So kann „in krisenhaften Entwicklungen die internationale Ordnung destabilisiert, unsere Lebensgrundlagen gefährdet“ werden. Damit ist die Weltwirtschaftsordnung gemeint. Zu den „vitalen Sicherheitsinteressen“ zählt die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu den Märkten und Rohstoffen in aller Welt“. Das „hätte man früher rundheraus als ein imperialistisches Programm bezeichnet“, meint dazu sogar „Die Zeit“.

Im Rahmen des imperialistischen Machtkartells werden eindeutig spezielle Interessensphären gesehen. Es könnten „regionale Konflikte … die innere Ordnung Europas und angrenzender Regionen destabilisieren.“ Zudem werden „weitere unmittelbare Risiken … an der europäischen Peripherie“ ausgemacht. „Ohne Deutschland ist es unmöglich, die osteuropäischen Völker zu integrieren. Ohne Deutschland wird es keine Sicherheitsstruktur für Europa geben … nur mit Deutschland wird die Europäische Gemeinschaft ihre politisch-ökonomische Dynamik entfalten“, heißt es in den „Richtlinien“. „Der internationale Einfluß eines Staates wird immer weniger vom Militärischen und immer mehr von der Wirtschaftskraft bestimmt“, erklärte Außenminister Kinkel scheinbar einschränkend – nur daß dieser Einfluß künftig auch militärisch geltend gemacht werden soll.

Klar werden dann die Folgerungen in den „Richtlinien“ gezogen, und die sind rein militärisch. Ziel ist die „Entwicklung Europas zum globalen Akteur“ und „Reform der transatlantischen Partnerschaft“. „Europa muß … die Fähigkeit entwickeln, als gestaltende Kraft und global wirkender Akteur maßgeblich an der Lösung der großen weltweiten Zukunftsaufgaben“ mitwirken. „Träger der europäischen Verteidigungspolitik“ solle die WEU werden, „bis die Union in der Lage ist, die Aufgabe zu übernehmen.“ Damit ist die EU (Europäische Union) gemeint, die also mehr als ein Wirtschaftsblock sein soll – eine politische und damit eine militärische Macht.

Mit anderen Worten: Die BRD wird Teil einer Weltmacht nicht als Nationalstaat, sondern als europäische Vormacht, wenn auch im Bündnis der EU. Die Rolle als Weltmacht wird jedoch klar in den „Richtlinien formuliert: „Eine ausschließlich auf … Europa konzentrierte Betrachtungsweise wird … den zukünftigen Herausforderungen nicht gerecht.“ Da „Deutschland als Nichtnuklearmacht und kontinentale Mittelmacht mit weltweiten Interessen (sich) nicht allein behaupten kann“, wird die Politik im Rahmen des Machtkartells von Nato und WEU durchgeführt. Wichtiges Instrument werden die „Vereinten Nationen als Friedenshüter der Völkergemeinschaft.“ Ihr sind darum Truppen zur Verfügung zu stellen.


Neue Militärdoktrin


Es wird nicht einmal vorgegeben, Soldaten würden zur Landesverteidigung benötigt. „Deutschland … ist heute ausschließlich von Verbündeten und befreundeten Partnern umgeben“, heißt es, wie schon erwähnt. Es muß sich also nicht gegen eine Bedrohung verteidigen, sondern will seine Interessen notfalls mit militärischer Macht durchsetzen. „Die Verknotung der Legitimation der Streitkräfte mit der Bedrohung ist zu lösen“, erklärte denn auch Generalinspekteur Naumann. Denn „solange wir...uns nicht zu militärischer Machtanwendung bekennen können, werden wir...eine untergeordnete Rolle spielen, werden Politik- und Handlungsfähigkeit verlieren.“ Damit fällt „Deutschland die Chance zu, ein mitbestimmender Faktor für Frieden und Fortschritt in Europa und der Staatengemeinschaft zu werden“, heißt es im Weißbuch der Bundeswehr 1994. Nur Betrüger können da behaupten, es ginge dabei um den Schutz von Menschenrechten.

General Naumann erklärt öffentlich, es seien „militärische Mittel Ultima ratio der Politik, also als äußerstes Mittel zu verstehen“. „Der Begriff der Verteidigung wird so erweitert, daß er sich … auf die Abwehr jeder militärischen Gewalt, die eigene Sicherheitsinteressen bedroht“, bezieht, schreibt der Militärtheoretiker Holger H. Mey. Und dazu zählt, wie es im Bundeswehrweißbuch heißt, der Schutz einer „auf marktwirtschaftlichen Regeln basierenden gerechten Weltwirtschaftsordnung.“ Eindringlich wird die explosive soziale Lage in der unterentwickelten Welt geschildert, wo täglich 40 000 Kinder an Mangelerscheinungen sterben würden. Daraus wird freilich nicht die Forderung nach einer wirklich gerechten Weltwirtschaftsordnung abgeleitet, sondern die Gefahr sozialer Explosionen gesehen.

Die Risiken werden noch weiter gefaßt. Notfalls müsse die Ausbreitung von Massenvernichtungsmitteln vorbeugend durch militärische Intervention verhindert werden, erklärte Nato-Generalsekretär Wörner. Vorwand kann, nach aller Erfahrung schon die bloße Behauptung sein, der Irak, Libyen oder Nordkorea seien in der Lage, Atomwaffen zu bauen.

Man ist sich darüber klar, daß mancher Einsatz faktisch von den USA organisiert und kontrolliert wird und die Bundeswehr nur unterstützend solche Aggression mittragen könnte wie in Somalia. Das will man im nahen Ausland künftig vermeiden. Dabei denkt man offenkundig an den Nahen Osten und Europa. In den „Richtlinien“ wird von den „südlichen Mittelmeeranrainern“ als Objekten „präventiven Krisenmanagements“ gesprochen. Und weiter: „Streitkräfte...dienen der inneren Stabilität Europas“. Im Falle innerer Unruhen oder gar einer Revolution ist damit der Bündnisfall gegeben.

Generalinspekteur Naumann hat zudem in einer Rede vor der „Wirtschaftspolitischen Gesellschaft von 1947“ auf die Sicherheitsrisiken hingewiesen, die sich aus dem „Zerfall der früheren Sowjetunion“ und dem „Zerfallsprozeß des früheren Warschauer Paktes“ ergeben. Folgerungen hat er nur angedeutet, dafür aber WEU-Generalsekretär van Eekelen deutlich ausgesprochen: die WEU solle „in Absprache...Krisenherde in Osteuropa ersticken“.


Rolle der WEU


Taktisches Zwischenziel ist, die US-Vorherrschaft im Bündnis abzubauen. Mittel dafür ist der europäische Verbund. „Die WEU ist Träger der europäischen Verteidigungspolitik, bis die Union (Anmerkung: EU) in der Lage ist, diese Aufgabe zu übernehmen“, heißt es in den „Richtlinien“. Dafür auch ist das deutsch-französische sogenannte Eurocorps aufgestellt worden, das als Keimzelle europäischer Kontingente gedacht ist. Es ist zunächst auf 50 000 Mann geplant und soll allen EU-Ländern offen stehen. Generell sollen die militärischen Konzepte und Kommandostrukturen angeglichen werden.

Vertieft werden soll die ohnehin schon existierende rüstungswirtschaftliche Zusammenarbeit. Dabei wird langfristig geplant. Die Tendenz geht eindeutig dahin, von US-Technik unabhängig zu werden. Dem dient unter anderem das Helios-Programm. Dabei handelt es sich um Aufklärungssatelliten, die im Jahre 2010 einsetzbar sein sollen.


Reorganisation


Grundlage der Bundeswehr soll weiterhin die Wehrpflicht bleiben, weil sie nach Verteidigungsminister Rühe zur „Verteidigungskultur“ gehöre. Dahinter stehen natürlich ganz andere Überlegungen. Bei entschlossenem Widerstand eines Volkes ist der Einsatz sehr starker Kräfte über einen langen Zeitraum nötig. Darum will man weiter die Fähigkeit zur „Mobilmachung voll einsatzbereiter Reservisten“ behalten. Das kann nur bedeuten, daß ein großer Krieg führbar bleiben soll und die dafür nötigen Reserven bereit gehalten werden müssen.

Man fürchtet zudem, nicht genügend Freiwillige zu finden. Die meisten Zeitsoldaten werden nämlich unter den Wehrpflichtigen in den ersten Monaten ihres Dienstes gewonnen – vor allem mit materiellem Anreiz.

Wichtiger Grund ist überdies die „gesellschaftliche Wirkung der allgemeinen Wehrpflicht“ (Naumann). Man kann das auch als Verbreitung militaristischen Denkens bezeichnen.

Die Bundeswehr ist auf dieser Grundlage in „Hauptverteidigungs- und Krisenreaktionskräfte“ (KRK) gegliedert worden. Auf letztere kommt es an, denn die sollen gut ausgebildet sein und jederzeit weltweit eingesetzt werden können. Dabei wird es sich im wesentlichen, aber nicht nur um Zeit- und Berufssoldaten handeln. Auf den Blockadeschiffen in der Adria sind auch Wehrpflichtige eingesetzt. Nach den bisherigen Planungen sind dafür 50 000 der 375 000 Bundeswehrsoldaten vorgesehen.

Diese Umorganisation läuft seit drei Jahren auf vollen Touren und dürfte in diesem Jahr abgeschlossen werden. Durch „Weisung Nr. 1“ des Heeresinspekteurs Helge Hansen wurden die KRK im Herbst 1992 aufgestellt. Sie sollen „kurzfristig … zur Krisenbewältigung“ und zu „friedenserhaltenden Maßnahmen im Rahmen der UNO/KSZE“ einsetzbar sein. Das Kommando des 3. Korps in Koblenz erhielt den Auftrag, die Planung und Vorbereitung der Einsätze durchzuführen. Zudem wurden bei den Panzergrenadierdivisionen in Oldenburg und Regensburg spezielle Sonderstäbe geschaffen.

Daneben und zusätzlich zum Eurocorps wurde von der Nato das Rapid Reaction Corps aufgebaut. Es soll aus Kontingenten von 12 Natostaaten bestehen. Die Bundeswehr stellt von den vorgesehenen 100 000 Mann allein 40 000. Kommandeur ist vorerst ein britischer General mit Quartier in Rheindahlen. Das Korps soll im Laufe dieses Jahres voll einsetzbar sein.


Umrüstung


Schwieriger und zeitaufwendiger ist die technische Umrüstung der Bundeswehr. Bisher war sie für einen kontinentalen Krieg in Europa und Sicherung ihres eigenen Nachschubs über See ausgerüstet. Dieses „Werkzeug“ braucht sie kaum noch und darum kann Material in großen Mengen an die Türkei, Indonesien oder wer immer interessiert ist abgeben werden. Ansonsten wird es instand gehalten, aber kaum noch modernisiert. „Keine Mark mehr wird für die Bedrohungssituation der Vergangenheit ausgegeben“, erklärte Rühe schon im Dezember 1992 vor der Führungsakademie der Bundeswehr. „Wir brauchen weniger und in weiten Bereichen anderes Material“.

Das erfordert den Ausbau der Marine (Transporter und Versorgungsschiffe, Fregatten und Korvetten), der Luftwaffe (Transporter, Aufklärung, leichte Kampfflugzeuge) sowie Umrüstung des Heeres – Tropenausrüstung, Klimatisierung der Panzer, Kampfhubschrauber, mobile Kommandosysteme und anderes. Nach Admiral Schmähling wird das frühestens im Jahre 2000 abgeschlossen sein. Das heißt aber nur, daß die Ziele dann erreicht sind. Der Kampfeinsatz großer Kontingente in Kurdistan oder dem Kaukasus dürfte im WEU-Verbund schon heute möglich sein.


Militaristische Vorbereitung


Die Übernahme „weltpolitischer Verantwortung“ (Kanzler Kohl), das heißt der Auslandseinsatz der Bundeswehr, muß politisch nicht nur durchgesetzt werden. Das ist faktisch schon 1992 mit Zustimmung der SPD und Hinnahme durch die Grünen geschehen. Sie muß von den Soldaten willig ausgeführt und von den Massen zumindest hingenommen werden. Das ist Ziel der Politik seit drei Jahren.

Rekruten werden schon bei der Musterung gefragt, wer zum Kampfeinsatz im Ausland bereit ist. Alle Soldaten werden künftig indoktriniert, um sie auf den Auslandseinsatz vorzubereiten. Damit soll ein „professioneller Stamm von Kämpfern“ geschaffen werden. Entsprechend wird in der Ausbildung das Kämpferische mit dem Ziel betont, den „kriegstüchtigen Soldaten“ zu formen (Weisung des Heeresinspekteurs). Er sehe noch „Defizite in der geistigen Grundhaltung“, erklärte General Bagger. Die Kommandeure sollten darum „aktiv den Prozeß der geistigen Umorientierung..fördern.“

Das andere Ziel ist die Ruhe an der Heimatfront. Notwendig sei der „Konsens der Bevölkerung“ (Volker Rühe). Die wird durch harmlos scheinende Einsätze in Namibia, Sanitäter in Kampuchea, Minenräumer im arabischen Golf, Friedenstruppen in Somalia oder zum Embargo in der Adria schrittweise darauf eingestimmt. Natürlich soll überall der Frieden uneigennützig erhalten, die Menschenrechte geschützt werden.


Revolutionäre Orientierung


Es wäre wenig sinnvoll, unser militärpolitisches Programm aus den 70er Jahren („Revolutionäre und die Armee“, zu beziehen über den avanti-Versand, Hameln) zu aktualisieren. Damals gab es eine breite linke Bewegung und handlungsfähige revolutionäre Organisationen. Diese Bedingungen existieren nicht.

Wenn es keine Bedrohung mehr gibt, könnte die teure Armee eigentlich aufgelöst werden. Dieses Ziel hat sich die BOA (Bundesrepublik ohne Armee) gesetzt – und keinerlei Resonanz gefunden. Das hängt mit der simplen Erfahrung zusammen, daß eine Friedensbewegung nur entsteht, wenn die Menschen sich bedroht fühlen. Das war im Golfkrieg der Fall – und plötzlich demonstrierten Hunderttausende, doch nur so lange wie sie sich fürchteten. Binnen zwei Wochen war diese Bewegung spurlos verschwunden.

      
Mehr dazu
Hans-Jürgen Schulz: Aus der Geschichte der Friedensbewegung, Inprekorr Nr. 323 (September 1998)
Jean-Louis Michel: Die neue NATO: ein Instrument der Pax Americana, Inprekorr Nr. 314 (Dezember 1997)
Thies Gleiss: Nationalismus, Krieg und internationales Kapital – einige notwendige Anmerkungen, Inprekorr Nr. 284 (Juni 1995)
Hans-Jürgen Schulz: Rüstung, Krieg und Frieden, Inprekorr Nr. 282 (April 1995)
Hans-Jürgen Schulz: Deutschland in der Neuen Weltordnung, Inprekorr Nr. 236/237 (Juni/Juli 1991)
Ernest Mandel: 25 Thesen zur Antikriegsbewegung, Inprekorr Nr. 172 (September 1985)
Vereinigtes Sekretariat: Kampf gegen die Remilitarisierung des Imperialismus, für den Frieden und Sozialismus, Inprekorr Nr. 140 (Januar 1982)
 

Proteste mag es geben, aber keine Friedensbewegung, wenn deutsche Soldaten in Bosnien oder im Kaukasus „Frieden schaffen“. Das wird sich erst ändern, wenn Vergeltung im eigenen Land befürchtet wird, etwa Anschläge auf Biblis, die BASF, Raffinerien und Bahnhöfe oder russisches Erdgas ausbleibt. Es kann sie auch geben, wenn massenhaft die Helden im Zinksarg heimkehren. Doch bei kleineren Einsätzen und ein paar hundert deutschen Toten werden nur die protestieren, die es auch sonst tun.

Zur Zeit ist auch die antimilitaristische Arbeit in der Armee objektiv unmöglich. Sie ist nur praktikabel, wenn oppositionelle Soldaten politisch und persönlich betreut werden und ihnen organisatorisch geholfen wird. Das ist nur zu verantworten, wenn die Soldaten durch Organisationen unterstützt und beschützt werden können, wenn zumindest Ansätze eigener Organisierung möglich werden. Das alles erfordert erfahrene GenossInnen, konsequente Arbeit und strikte Konspiration. Diese Bedingungen sind nirgendwo gegeben. Nur Sektierer versuchen, sie mit abstrakten Forderungen herbeizureden.

Darum ist heute die Verweigerung des Kriegsdienstes spätestens bei drohendem Kampfeinsatz die einzige Möglichkeit, sich persönlich zu entscheiden. Doch soll niemand die Illusion schüren, mit Verweigerung könnte die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr auch nur behindert werden. Es bleiben immer mehr als genug, die sich ins Feuer schicken lassen, ausgenommen in revolutionären Situationen.

Ansonsten bleibt nur die Aufklärung darüber, wozu die Bundeswehr eigentlich da ist. Gelegenheit dazu gibt es genügend. Denn seit Jahren schon wird versucht, den möglichen Einsatz zu popularisieren. Wie immer im entscheidenden Augenblick ist die SPD dabei und neuerdings auch die Grünen. Doch es geht nicht um Frieden und Menschenrechte, wie sie weismachen wollen. Es geht um wirtschaftliche Interessen und Macht. Zumindest das können wir jetzt vermitteln.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 283 (Mai 1995). | Startseite | Impressum | Datenschutz