Geschichte

„Heimat? – da war nichts mehr!”

Ernst Scholz wurde 1904, seine spätere Frau Fränzi 1908 im Sudetenland geboren, damals Teil von Österreich-Ungarn. Ernst war ab 1921 in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im Sudetenland, nunmehr Teil der CSR, aktiv. Seit 1935 arbeitete er mit Trotzkisten und anderen Linken zusammen. Nach der Vertreibung war er von 1947 bis 1969 als Sekretär der IG Textil und Bekleidung tätig. 1992 wehrte er sich gegen pauschale Verunglimpfungen der Sudetendeutschen in der SoZ (Sozialistische Zeitung). Daraufhin entstand das nachfolgende Interview.

Interview mit Ernst und Fränzi Scholz

 Du hast dich in einem Brief heftig dagegen verwahrt, daß du und die Sudetendeutschen in der SoZ (Nr. 2/92) als „Siedler” bezeichnet werden. Was war euer Selbstverständnis als Deutsche im Sudetenland?

Ernst: Das Sudetenland, Böhmerwald, Erzgebirge, Riesengebirge, Teile von Mähren – Nordmähren und auch Südmähren – waren seit Jahrhunderten deutsch besiedelt. Natürlich gab es Verschiebungen – durch die Hussitenkriege, durch Tschechisierungsmaßnahmen.

Wenn heute die Linke in Westdeutschland dies übersieht, dann findet das seine Entsprechung in der damaligen Zeit: Die Deutschen im Deutschen Reich wußten oftmals auch nichts von diesen Tatsachen.

Ein Erlebnis: Mein Vater war Gewerkschafter und Sozialdemokrat. 1917 wollte ihm seine Firma den Lohn nicht ganz auszahlen, worauf er diese verklagte. Das war die erste Klage gegen eine Firma vor dem Gericht in Braunau. [1] Mein Vater gewann die Klage. Doch er wurde auf die schwarze Liste gesetzt, bekam keine Arbeit mehr. Er ging nach Wien, später nach Schlesien, um zu arbeiten. Meine Mutter starb dort, ihre Urne wurde in Hirschberg, im Riesengebirge, beigesetzt. Ich fuhr hin, ging in das Krematorium, zur Verwaltung, um das Urnengrab zu sehen. Im Verlauf des Gesprächs fragte mich der Verwalter, wo ich wohne. Ich sagte: „In Reichenberg.” Darauf der Verwalter: „Schauen Sie einmal, wie gut Sie als Tscheche deutsch sprechen können!” Da mußte ich diesem intelligenten Mann erklären, daß bei uns vom Kindergarten bis zur Universität alles als deutsche Institutionen vorhanden ist, wie es in Deutschland oder Österreich existiert. Das hat er nicht gewußt. Eine gewisse Rolle spielte dabei, daß wir keine Hauptstadt hatten. Unsere Zentralen waren in Prag. Das war eine tschechische Stadt mit einer großen deutschen und jüdischen Minderheit. Dennoch gab es im Sudetenland eine kompakte deutsche Bevölkerung. In Reichenberg waren höchstens 10% der Bevölkerung tschechisch.

 Du warst Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, die ja bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Teil der österreichischen Sozialdemokratie war. Was war die Politik der SP in bezug auf die Nationalitätenfrage?

Ernst: 1918/19 stellte die Sozialdemokratische Partei die Forderung nach Selbstbestimmung auf. Am 6. März 1919 rief die SP zu einer Demonstration für das Selbstbestimmungsrecht auf. Damals war juristisch und vertraglich gesehen noch alles offen – es gab keinen Friedensvertrag. Tschechische Polizei und Militär haben damals mehr als 50 Leute erschossen. Das war die Geburtsstunde der deutschen Opposition gegen die bald darauf gegründete Tschechoslowakische Republik (CSR).

Kurz darauf kam der Vertrag von St. Germain und Versailles. Die Sudetengebiete kamen zur CSR. Der spätere CSR-Außenminister Benes hatte versprochen: „Wir machen eine zweite Schweiz.” Selbstbestimmungsrecht, eigene Verwaltung usw. Die Sozialdemokraten haben sich mit dem Sudetenland als Teil der CSR mehr oder weniger abgefunden. Die Kommunisten übrigens nicht: Sie forderten noch 1930 das Selbstbestimmungsrecht für die Sudetendeutschen.

 Die KP der Gesamt-CSR?

Ernst: Ja. Die Kommunistische Partei war auf CSR-Ebene organisiert. Und diese KP erklärte noch 1930: Die CSR ist ein imperialistischer Staat, der die Minderheiten – außer Deutschen noch Polen, Ungarn, Slowaken, Ruthenen, Juden – unterdrückt. Sie forderte das Selbstbestimmungsrecht.

Die SP organisierte sich im Sudetenland und in der übrigen CSR getrennt. Sie beteiligte sich auch im Sudetenland an den Wahlen. 1929 hatte sie einen derartigen Zulauf, daß eine Prager Regierung ohne die deutschen Sozialdemokraten nicht gebildet werden konnte. Die SP beteiligte sich damals an der Regierung. Es war die Zeit der Weltwirtschaftskrise. Die SPD konnte in dieser Koalitionsregierung ein paar wenige sozialpolitische Maßnahmen erreichen.

 Wie war das Verhältnis zwischen der deutschen und der tschechischen Sozialdemokratie?

Ernst: In der österreichischen Monarchie vor 1918 gab es eine sozialdemokratische Partei. In dieser sollten alle Nationalitäten vertreten sein. Damals gründeten die tschechischen Sozialdemokraten bereits eine eigene Partei. Sie waren bereits nicht mehr internationalistisch. Das galt erst recht für den tschechischen Staat. Sie befanden sich in der Regierung mit Benes und den tonangebenden Großagrariern. So gab es zwischen deutschen und tschechischen Sozialdemokraten kaum Zusammenarbeit. Die tschechischen Sozialdemokraten unterstützten uneingeschränkt die Tschechisierungspolitik, die gezielte Besiedelung der sudetendeutschen Gebiete.

 Wie war das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen?

Ernst: Wenn ihr zum Beispiel nach Reichenberg gekommen wärt, so hättet ihr keinen Unterschied gefunden zu Zittau in Sachsen. Überall konnte man deutsch sprechen. In dem Moment allerdings, wo man in den Staatsdienst eintreten wollte, sah das anders aus: Hier waren Prüfungen nötig, um tschechische Sprachkenntnisse nachzuweisen. Das galt auch für Dienste wie Eisenbahner, wo solche Sprachkenntnisse nicht erforderlich waren. In Orten, in denen es 20 deutsche Kinder gab, wurde die Volksschule aufgelöst. Wenn es aber anderswo zehn tschechische Kinder gab, wurde für diese eine Schule eingerichtet.

 Gab es offene Feindseligkeiten?

Ernst: Nein, das gab es nicht. So etwas, was wir heute in Jugoslawien erleben, das gab es bei uns nicht. Wenn wir mal die direkte Nachkriegszeit 1918 ausnehmen, wo die tschechischen Legionäre, die auf Seiten Rußlands gekämpft hatten, in das deutsche Gebiet mit einer gewissen Gewalt einmarschiert waren, dann waren die Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen normal. Ich will nicht sagen, daß alles freundschaftlich zugegangen sei. Aber es war auch nicht feindlich. Dabei spielte auch eine Rolle, daß in den Kohlengebieten Tschechen gebraucht wurden – genauso wie Polen in den Ruhrbergbau geholt worden waren. Die nationalen Gegensätze in der Arbeitswelt gab es nur im staatlichen Sektor.

 Die Sozialdemokraten haben in den 30er Jahren stark an Einfluß verloren. Die KP hatte nie einen größeren Einfluß gehabt. Gleichzeitig stieg die nationale Bewegung unter Henlein stark an. Hat die Arbeiterbewegung das unterschätzt?

Ernst: Als Hitler 1933 siegte und bei uns die Arbeitslosigkeit, die v.a. unter der deutschen Bevölkerung bereits enorm hoch war, weiter andauerte, wurde die nationale Bewegung im Sudetenland immer stärker. Die Führer der alten Parteien stießen auf immer weniger Resonanz. Henlein, bis dahin Vorturner des Turnerverbands, wurde nun als Repräsentant des Deutschnationalen herausgestellt. Er bildete zunächst keine Partei, sondern eine „Heimatfront”, eine Art nationale Sammlungsbewegung. Die Tschechen verboten dies. Darauf wurde die SDP, die Sudetendeutsche Partei, gebildet. Diese Partei konnte dann die großen Wahlerfolge erzielen.

 Wie wurde Hitler bei seinem Einmarsch – nach dem Münchner Abkommen – begrüßt?

Ernst und Fränzi: Mit Jubel. Die, die nicht jubelten, hat man nicht gehört.

 Also nicht anders als in Österreich und zuvor im Saarland.

Ernst: Für diejenigen, die politisch nicht aktiv waren, erschien es als eine Erlösung von einer Ungewißheit. Die glaubten: Jetzt gibt es keinen Krieg. Die Tschechen machen fort – damit ein Ende der Schikanen. Für diejenigen, die links tätig waren, war das ein Anlaß zu Furcht und Sorge.

 Wie ging es euch?
 

Arbeitersportler aus Aussig/Usti 1934 in Prag

Ernst: Ich habe meine Frau in die Schweiz geschickt mit den Kindern, wo ein Bruder lebte. Ich persönlich wurde zu einem Verhör gebracht. Das hat den Nazis nichts Neues gebracht; man kannte mich in dem Dorf. Ich wurde dann entlassen. Ich wurde noch einmal vorgeladen. Da wurde mir mitgeteilt: Sie stehen ständig unter Beobachtung.

 Gab es im Sudetenland Widerstand gegen die Nazis?

Ernst: Nein, keinen. Nur vor dem Einmarsch, da gab es seitens der Linken Widerstand gegen eine drohende Besetzung. Allerdings sind viele Linke und ein Großteil der jüdischen Bevölkerung vor und in den Tagen des Einmarschs nach Innerböhmen – in den (noch) nicht besetzten Teil der CSR – geflohen.

Damals wurden ganze Dörfer entvölkert. Aber die Tschechen haben in der Regel diese Leute wieder zurückgeschickt, den Nazis in die Arme getrieben. Viele von ihnen kamen ins KZ.

 Wann und wie mußtet ihr nach dem Krieg Reichenberg verlassen?

Ernst: Ich war damals in Kriegsgefangenschaft und kam von dort direkt nach Westdeutschland.

Fränzi: Ich mußte zunächst binnen zwei Stunden die Wohnung verlassen. Und mir drohte damit die Vertreibung, so wie dem überwältigenden Teil der Deutschen: binnen Stunden, ohne Hab und Gut außer Landes. Dann bekam ich plötzlich die – teilweise ausgeräumte – Wohnung wieder zurück.

Ernst: Aber die Bücher von Marx, Engels, Trotzki...

Fränzi: Der Verantwortliche auf tschechischer Seite sagte: Wenn wir vorher gewußt hätten, daß Sie Linke sind, daß bei Ihnen all die sozialistische Literatur ist, dann wären Sie nicht aus der Wohnung geflogen.

Ernst: Ich hatte ein Bücherregal, in dem ich auch in der Nazizeit all die Literatur der Arbeiterbewegung habe stehen lassen. Ich sagte mir: Wozu verstecken? Das war mit ein Grund, daß meine Frau dann nicht wie die meisten anderen ohne Hab und Gut vertrieben wurde. Sie wurde einem „Antifa”-Transport zugeteilt und konnte mit Möbeln und Hab und Gut nach Westdeutschland.

 Es sind ja 250.000 Sudetendeutsche geblieben...

Ernst: Alle, die im KZ waren, hatten das Recht zu bleiben. Andere mußten überwiegend gegen ihren Willen bleiben: Facharbeiter, Spezialisten. Schließlich ließen die Briten und Amerikaner ab einem bestimmten Zeitpunkt keine Vertriebenen mehr nach Westdeutschland. 1948, als die Kommunisten die Macht übernahmen, wurde das Los der zurückgebliebenen Deutschen etwas besser. [2]

 Nach der Vertreibung wurden verschiedene Organisationen der Sudetendeutschen gegründet.

Ernst: Es wurden drei Organisationen gegründet: Da war die „Seliger-Gemeinde” [3] von den Sozialdemokraten, dann gab es den „Witiko-Bund”, der von den alten Nationalsozialisten dominiert war; schließlich gab es von den Christlichen den „Ackermann-Verband”. Als gemeinsamer Überbau wurde die Landsmannschaft gegründet. Mich haben sie aus der Seliger-Gemeinde rausgeschmissen, weil ich den [Vorsitzenden] Jaksch kritisiert hatte. Ich habe Anfang der 60er Jahre in der Zeitschrift Sozialistische Politik (SoPo) den Vorsitzenden der Seliger-Gemeinde kritisiert, als dieser auf einer Kundgebung die Sudetendeutschen der Nato als gute Soldaten anpries – eine ausgesprochen reaktionäre Stellungnahme. [4]

 Jetzt fahren viele Sudetendeutsche wieder rüber. Viele begutachten ihre früheren Grundstücke. Die CSFR steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise. Das deutsche Kapital dringt massiv ein. Viele Sudetendeutsche kaufen über Strohmänner Land auf.

Fränzi: Wir reisen nicht. Wir hatten auch kein Land. Wir sagen immer: Die von Heimat und Heimatrecht reden – das sind die, die drüben große Güter hatten.

Ernst: Diejenigen, die drüben waren und herüber kamen, sind entweder schon längst gestorben. Oder, wie wir... Mit meinen 88 Jahren könnten sie uns drüben eine noch so schöne Wohnung anbieten, ich werde nicht mehr zurückgehen. Und die Kinder denken erst recht nicht daran. Was anderes ist es mit den Investitionen des deutschen Kapitals.

      
Weitere Artikel zum Thema
Wolfgang Alles: Ernst Scholz (1904–1997), Inprekorr Nr. 311 (September 1997)
Interview mit Ernst Scholz: Sudetendeutscher und Marxist, Inprekorr Nr. 311 (September 1997)
 
 Dann geht es wieder von vorne los? So hat es ja auch mal begonnen – daß die Deutschen durch ihre ökonomische Vormacht den Tschechen überlegen waren.

Ernst: Schon unter Hus, im Mittelalter, gab es diese Gegensätze. Die wurden zwar auf wirtschaftlichem Gebiet ausgetragen, aber national und religiös verbrämt. Diese Gegensätze sind heute wieder da. Für die Tschechen ist das eine Tragödie.

 Wann wart ihr das letzte Mal in Reichenberg?

Ernst: 1965 waren wir drüben, 1972 und 1985.

 Was war das für ein Gefühl?

Fränzi: Ist nicht mehr vorhanden. Wie ich das erste Mal wieder drüben war, da standen wir auf dem Aussichtsturm des Broschwitzer Kamms bei Reichenberg. Da habe ich gesagt: „Was haben wir für eine schöne Heimat gehabt!” Und wie wir das letzte Mal dort waren, da war überhaupt nichts mehr. Wie ich das erste Mal in meinem Heimatdorf war, 1965, da waren bereits die meisten Häuser weg. Auch unser Haus. Da sah ich aus dem Gras heraus einen Stein. Auf diesem Stein haben wir Kinder immer gespielt. Das ist das einzige, was übrig war.

Das Interview wurde von T. Seebohm und W. Wolf am 3.3.1992 in Augsburg geführt.
Aus: SoZ Nr. 6/92.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 311 (September 1997). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Braunau im Sudetenland. Der Ausdruck „der böhmische Gefreite” für Hitler, den Hindenburg verwandte, kam daher, weil auch er Braunau im Sudetenland mit Braunau am Inn verwechselte – (Redaktion SoZ).
[2] Zur Vertreibung und den Benes-Dekreten siehe auch die Diskussion auf sozialismus.net – Anm. d. Red.
[3] Siehe dazu auch Wikipedia – Anm. d. Red.
[4] Das heiße Eisen: Die deutschen Ostgrenzen und die Sudetengebiete, Sozialistische Politik, Jg. 12, Nr. 3, März 1965 –  Anm. d. Red.