Israel

Der Neo-Messianismus in Israel

Wenn man die Texte der religiös-chauvinistischen Gruppen liest, die in Israel in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden sprießen, könnte man sie als primitiven Obskurantismus abtun. Doch ihre zunehmenden Aktivitäten und ihre wachsende gesellschaftliche Bedeutung verpflichten zu einer ernsthaften Analyse.

Jakob Taut

Nach dem siegreichen Sechs-Tage-Krieg 1967, und deutlicher noch nach dem Rückschlag im Yom-Kippur-Krieg 1973 fand ein Niedergang all der Reste idealistischer Züge und humaner Denk-weise statt, die die Pionierzeit des Staates Israel geprägt hatten. [1] Ein religiöser Fundamentalismus und Neo-Messianismus breitete sich aus, der die Wiederkunft des biblischen „Messias“ verkündet und die biblischen und die Talmud-Gesetze und die rabbinischen „Halacha“-Bestimmunge [2] in der Gesellschaft wieder einführen will. Dieser Fundamentalismus beherrscht die israelische Gesellschaft und ihre Staatsorgane immer offener, obwohl in der Bevölkerung die weltliche Lebensweise und Denkart vorherrscht.

 

Orthodoxes Gebetszubehör

Verkaufsstand in Jerusalem (Foto: Daniel Maleck Lewy)

Über den tiefen Einschnitt in den elementaren Humanismus der jüdischen Bevölkerung Israels infolge des „heldenhaften Sieges“ 1967 schreibt Jehuda Litani in der Jerusalem Post (der Artikel wurde in der Zeit veröffentlicht): „Der Sieg von 1967 war mehr ein Fluch denn ein Sieg. Er öffnete der Brutalisierung Tür und Tor, entwurzelte und änderte unsere Werte. Die Eroberung von Territorium wurde wichtiger als Moral und Menschenrechte. Gerade wir Juden, die so viel litten, verschließen uns vor dem Leiden der Palästinenser. Wir benehmen uns, als ob sie nicht existierten. Wir wenden uns einfach ab und tun, als ob sie Luft wären.“

Der leichte Sieg im Jahre 1967 über Ägypten, Syrien und Jordanien brachte dem zionistischen Regime billige Arbeitskräfte und eine schnelle Bereicherung der Bourgeoisie, aber auch einen ebenso schnellen Anstieg des Lebensniveaus der breiten Massen. Spießertum, Parasitismus und die Herabsetzung moralischer Werte nahmen ein bisher unbekanntes Ausmaß an, Die bedeutenden Gebietsgewinne und das jahrelange stolze Bewußtsein, Gebiete erobert zu haben, verbreitete in der Bevölkerung die Illusion von der physischen und geistigen Unschlagbarkeit Israels und das Gefühl, gegenüber den „unterworfenen“ Palästinensern „Übermenschen“ zu sein. Die heutige Entwicklung des Neo-Messianismus ist vor diesem Hintergrund zu sehen.


Der israelische Staat kennt keine Verfassung


In der Proklamation der Gründung des Staates Israel, die Ben Gurion am 14. Mai 1948 verlas, befindet sich folgender Passus: „…die Einrichtung von gewählten, regulären Institutionen des Staates gemäß einer Verfassung, die durch eine gewählte Konstituierende Versammlung spätestens bis zum 1. Oktober 1948 vorgelegt werden soll“. Dieser Vorschlag ist aus Rücksicht auf die religiösen Gruppen, die bereits damals jede Verfassung. die sich nicht auf die Bibel und die religiösen Traditionen stützt, ablehnten. nie verwirklicht worden. Es gibt also keine Verfassung des Staates Israel. Es gibt lediglich die von der Knesset dem israelischen Parlament) angenommenen Gesetze, die sich jedoch an keinem grundsätzlichen Leitfaden orientieren und nicht wie in anderen Staaten einem vereinbarten Kontrollinstrument unterliegen (auch in Britannien gibt es keine geschriebene Verfassung, dort besteht jedoch im Gegensatz zu Israel seit langem eine konstitutionelle Tradition).

In der erwähnten Proklamation des israelischen Staates wird stolz erklärt, daß „der Staat Israel … für alle Bürger die volle gesellschaftliche und politische Rechtsgleichheit verwirklichen wird; er garantiert die Freiheit der Religion, des Gewissens, der Sprache, Erziehung und Kultur…“ Doch ist diese Proklamation keine bindende Rechtsgrundlage. Es gibt auch eine Menschenrechtserklärung, in der die Freiheit der Meinungsäußerung, Religion, Beschäftigung, das Koalitionsrecht, die Versammlungsfreiheit, usw. verankert sind. [3]

Der Gegensatz zwischen dem, was die Staatsgründungsproklamation verspricht, und der Realität seit nunmehr fast 40 Jahren ist gewaltig. Formell macht die Knesset zwar einen Unterschied zwischen „Grundgesetzen“ und „gewöhnlichen Gesetzen“, doch steht der Inkrafttretung eines „gewöhnlichen Gesetzes“ auch dann nichts im Wege, wenn es einem „Grundgesetz“ widerspricht.


Der Neo-Messianismus hat seine Wurzeln im Zionismus


Die messianische Tendenz des frühen Zionismus wurzelte nicht in den religiösen Anschauungen seiner Begründer. Sie wurzelte in der Notwendigkeit, die „Juden der ganzen Welt“ in einem geographischen Raum, einem Staat zu sammeln, damit sie ihre Probleme lösen könnten. Aus „historischen“, d. h. mystischen Gründen mußte dieser Raum Palästina (Erez-Israel) sein. In meinem Buch Judenfrage und Zionismus heißt es dazu: „Die zionistische Idee befand sich hinsichtlich der traditionellen Auffassungen der jüdischen Religion in einem Dilemma. Einerseits revoltierte die zionistische Ideologie und Praxis gegen das Warten auf einen Messias und rief die Juden auf, unabhängig von einem unbekannten Retter ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, nach Erez-Israel zu gehen und dort eine Heimat zu errichten. Andererseits reproduzierte der Zionismus selbst in seiner weltlichen Version die Messias-Idee, wenn auch in versteckter Form“. [4] Die nicht-religiösen Gründer des Zionismus in Osteuropa legten damit selbst die Basis für den heutigen reaktionär-chauvinistischen Messianismus, der nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 einen unerwarteten Aufschwung erfuhr.


„Den Juden das alleinige Recht auf Palästina“


Die extrem chauvinistischen Gruppen wie Gush Imunim und die faschistische Kach-Bewegung des Rabbiners Kahane setzen faktisch den aktiven Kolonialismus von vor der Staatsgründung fort; damals waren es die „sozialistischen“ Chaluzim (Pioniere), die die Kibbuzim, kollektiven Dörfer und die Histadrut gründeten und die Araber von ihrem Land vertrieben, um es zu erobern, wie sie ausdrücklich erklärten. Der berüchtigte Armeegeneral der Reserve, Se'ewi, drückte den erzreaktionären Siedlerorganisationen in der Westbank seine Anerkennung aus: „Ich wuchs im Arbeiter-Zionismus auf und dort lehrten mich die Führer, das Land zu erobern.“ Die Chaluzim kolonisierten und eroberten den westlichen Teil von „Erez-Israel“ und die Gush-Imunim setzen heute dieses Werk entsprechend den veränderten Bedingungen und begründet durch einen religiösen Messianismus in der militärisch besetzen Westbank und im Gazastreifen fort.

Der ursprünglich a-religiöse zionistische Messianismus hat sich somit in einen extrem religiösen zionistischen Messianismus verwandelt, der die Palästinenser als „Fremde“ aus dem restlichen Teil ihres Heimatlandes zu treiben trachtet. Das ist keine Randerscheinung; diese Ideen findet man auch in den offiziellen Organen des Zionistischen Weltbundes, wie in der Zeitschrift Kiwunim. Man muß dabei in Betracht ziehen, daß in den letzten Jahren 70 % der Immigranten nach Israel orthodox-religiöse Juden waren, aber 90 % der Auswanderer aus Israel nicht-religiöse Juden sind. Deren Zahl ist nicht kleiner als die der Immigranten, sie wird sogar immer größer.

Die ersten, die nach 1967 in der Westbank und im Gazastreifen das Land kolonisierten und den Boden enteigneten, waren die Regierungen des „Arbeiter-Zionismus“, in Israel. Begin auf der Rechten verschärfte ihr Werk nur mit seinen Methoden. Ein ehemaliger Beamter des israelischen Außenministeriums, Janon, schlug in einem Artikel in der erwähnten Zeitschrift Kiwunim sogar vor, alle Länder des arabischen Ostens mit israelischer Waffengewalt zu reorganisieren; er ist von der Möglichkeit der Verwirklichung seines Vorschlags überzeugt.

Eine Glanzleistung des religiösen Rassismus finden wir bei dem Haupttheoretiker des Neo-Messianismus in Israel, dem jüngeren Rabbiner Kuk: „Der Unterschied zwischen einer jüdischen Seele, ihren Eigenarten, ihren Begierden, ihrem Streben … und der Seele aller Nichtjuden … ist größer und tiefer als der Unterschied zwischen einer menschlichen Seele und der eines Viehs, da letzterer Unterschied nur quantitativ ist, während ersterer qualitativ ist.“ (x) Mit Recht wird man sagen, daß diese Passage nicht ernst zu nehmen sei, weil sie jeglicher Rationalität entbehrt. Aber auch die Rassentheorie der Nazis war absurd und irrational und dennoch erfaßte sie die Massen eines hochentwickelten Landes. Die Lehre des Rabbiners Kuk ist unantastbare Autorität für die religiösen Chauvinisten. Selbst weltliche israelische Minister wie Ben Gurion und Begin haben ihn zu seinen Lebzeiten als Schüler besucht. 1987 sprachen sich fast 40 % der Schüler in einer Meinungsumfrage für die Ideen und die Praxis der neo-messianischen Gruppen aus. Es genügt also nicht, dieses Zitat als irrational abzutun, so berechtigt das auch ist; man muß begreifen, was für ein Irrsinn sich da in Israel entwickelt und woher das kommt.

Der verstorbene Professor Gershom Shalom, Erforscher der mystischen Lehren der Juden im Mittelalter, der Sohar und der Kabbala, hielt den Zionismus für eine anti-messianische Bewegung und sah im Neo-Messianismus eine Gefahr für den Zionismus. Dennoch liefen eine Reihe seiner Schüler zum neuen Glauben über, und das ist kein Zufall. Er hat den messianischen Kern im frühen Zionismus nicht erfaßt, der a-religiös war, und hat nicht begriffen, daß in der Phase des Niedergangs des Zionismus dieser messianische Kern mit Gewalt hervorbrechen muß. Der Zionismus wirft heute mehr und mehr alle „progressiven“ Merkmale seiner ursprünglichen Vorstellungen von der Rettung der Juden und des Judentums ab und geht seinem Untergang entgegen.

Das Besondere an den Gush-Imunim ist nicht, daß sie den Messianismus wieder-aufleben lassen, sondern wie sie ihn aktualisieren, um ihre politischen Positionen zu rechtfertigen. Ihrer Vorstellung nach verläuft alles nach dem Plan einer göttlichen Vorsehung. Chanan Porat, einer ihrer Führer, behauptet: „Die Souveränität des Volkes Israel in Erez-Israel … und der Traum eines Reiches für die Priester und das heilige Volk mit allen realen und ideologischen Aspekten ... ist die Bedingung für die Verbesserung der Welt.“ Der Rabbi Ben Nun schrieb 1978: „Alija (die Immigration der Juden nach Erez-Israel, JT) und Besiedlung stehen über dem Gesetz (dem Staat, JT). Die Basis der Siedlerbewegung ist die Verfassung des Zionismus, die von keinem (Staats-) Gesetz und keiner Anordnung angetastet werden kann…“

Der Neo-Messianismus verfolgt auch heute politische Zwecke. Das beweisen zwei weitere Zitate: „Wir müssen uns bemühen, es dem arabischen Volk im Land schwer zu machen … Es ist nichts Unreines dabei (sic!), wenn wir es ihnen schwer machen und sie auswandern müssen.“ (Ahron Chalamish, 1980). Und D. Rosenzweig 1982: „Die schiere Anwesenheit (der Palästinenser in Erez-Israel, JT) gefährdet unser Dasein tagtäglich …

Für die Araber ist kein Platz mit uns in diesem Land … Es muß ein neuer und revolutionärer Weg zur Behandlung des jüdisch-arabischen Konflikts gefunden werden.“ Ich übergehe die Kach-Bewegung des Rabbiner Kahane; ihr Programm kann wörtlich in Hitlers Mein Kampf oder im Völkischen Beobachter nachgelesen werden, wenn man die nationalen Bezeichnungen austauscht. Grundsätzlich hat sie ihre Praxis bei der SA und der SS abgeschaut.

Wichtig ist festzuhalten, daß die Vertreibung (oder der „Transfer“, wie sie es nennen) der palästinensischen Araber keine Erfindung der Neo-Messianisten ist. Vorschläge für Formen der Vertreibung der Palästinenser aus ihrem Land findet man schon in den zwanziger Jahren bei zionistischen „Arbeiter“-Führern und „liberalen“ Führern.

      
Mehr dazu
Debatte unter sozialistischen RevolutionärInnen:. Zwei Staaten, säkularer demokratischer Staat, sozialistischer Naher Osten, Inprekorr Nr. 372/373 (November/Dezember 2002).
Michael Warschawski: Der nationale Konsens ist zerbrochen, Inprekorr Nr. 195 (August/September 1987).
Position der IV. Inter­nationale zur Palästina-Frage, die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023).
Jakob Moneta: Jakob Taut (1913-2001), Inprekorr Nr. 362/363 (Dezember 2001).
Jakob Taut: Über den Charakter des Zionismus und der palästinensischen Befreiungsbewegung, Inprekorr Nr. 342 (April 2000).
Interview mit Micha [Jakob Taut]: Zur Entwicklung des Trotzkismus in Palästina, Inprekorr Nr. 19 (15. September 1972).
 

„Der israelische. Staat ist ein rassistischer Staat im vollen Sinne des Wortes“


Ich stimme mit der Ansicht des israelischen Professors I. Schahak. die er in der Jerusalemer Studentenzeitung Pi-Ha'ton vom 5. November 1975 niederlegte, völlig überein: „Meiner Ansicht nach ist der israelische Staat ein rassistischer Staat im vollen Sinne des Wortes. In diesem Staat werden Menschen nicht-jüdischer Herkunft ständig und völlig legal in den wichtigsten Lebensbereichen diskriminiert. Die rassistische Diskriminierung begann bereits mit dem Zionismus und sie wird in enger Zusammenarbeit mit den israelischen Institutionen ausgeführt.“ Die Diskriminierung findet auf allen Gebieten statt: in der Land- und Wohnungsfrage, auf der Arbeit, bei der politischen und gewerkschaftlichen Organisierung, in der Gemeindepolitik und im Erziehungswesen. Selbst bei Steuererleichterungen und bei staatlichen Kinderzuschlägen – auf allen Gebieten.

Igai Gai, 46 Jahre alt, konnte seine Wirtschaft im Dorf Sde-Elieser aus körperlicher Schwäche nicht mehr allein betreiben und beschäftigte deshalb einige palästinensische Arbeitskräfte, die auf seinem Gelände übernachteten. „Inspektoren des Landwirtschaftsministeriums, die das Dorf inspizierten. entdeckten. daß er und drei andere diese Missetat begangen hatten. Sie wurden gemäß dem Gesetz über die landwirtschaftliche Ansiedlung aus dem Jahr 1967. das verbietet. Boden- und Wasserrechte an Fremde (d. h. Araber, JT) zu übertragen, vor Gericht gebracht“. [5] Der Boden, der Gai vom Jüdischen Nationalfonds, dem zionistischen Institut für Bodenerwerb und -verwaltung. verpachtet worden war, wurde ihm weggenommen. Das alles aus Furcht vor den Landforderungen der palästinensischen Araber; dasselbe wäre nicht geschehen, wenn es sich um jüdische Araber gehandelt hätte.

Das ist ein Paradebeispiel für israelischen Rassismus. Diese Politik betreiben nicht die neo-messianischen Gush-Imunim oder eine andere Bewegung dieser Sorte, sondern eine offizielle Institution des israelischen Staates. Der Neo-Messianismus setzt lediglich in noch radikalerer Form den Rassismus fort, der bereits tief in der zionistischen Ideologie und Praxis verwurzelt ist. Die Antwort kann nur in der Überwindung des zionistischen Regimes durch ein bi-nationales sozialistisches Palästina mit autonomen Rechten für beide Völker bestehen.

20.Juni 1987



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[1] Vgl. den Artikel von Michael Warshawski in dieser Ausgabe (Der nationale Konsens ist zerbrochen, Inprekorr Nr. 195 (August/September 1987) ).

[2] Die Halacha ist der gesetzliche Teil der jüdischen Überlief,

[3] 20 Jahre Selbständigkeit Israels (hebräisch), Propaganda-Abteilung des Ministerpräsidenten, Teil III, S. 5

[4] Jakob Taut, Judenfrage und Zionismus, isp-Verlag 1987, S. 17

[5] S. die Tageszeitung Hama'ariw vom 27.2.1987