Afghanistan

Zu den Attentaten vom 11. September und zur Aggression gegen Afghanistan

Die folgende Resolution ist am 29. Oktober 2001 vom Internationalen Exekutivkomitee der IV. Internationale angenommen worden.

Resolution des Internationalen Exekutivkomitees der IV. Internationale


1.
Die imperialistische Aggression, mit der die Vereinigten Staaten vorgeblich auf die Attentate vom 11. September 2001 – die zum ersten Mal direkt deren Territorium getroffen haben – reagieren, ist kein Akt legitimer Selbstverteidigung; es ist ein kriegerischer Racheakt gegenüber einem ganzen Volk, das unter dem Vorwand der Bestrafung seiner politischen Führung einem Bombardement ausgesetzt wird – wie unlängst das serbische Volk und wie seit 1991 das irakische Volk. Es handelt sich auch nicht um ein Mittel zur Auslöschung des "Terrorismus". Im Gegenteil: Indem man mit imperialistischem Staatsterrorismus antwortet, werden unter den unterdrückten Bevölkerungen die Ressentiments und der Hass gesteigert, aus denen sich die terroristische Verblendung derjenigen nährt, deren Verachtung für Menschenleben, sobald sie nicht dem eigenen Lager angehören, jener der Unterdrücker in nichts nachsteht.

Dieser dritte Angriffskrieg ereignet sich zu einem Zeitpunkt, wo die Militärausgaben der Vereinigten Staaten (seit 1999) deutlich gesteigert werden, nachdem sie einige Jahre lang auf einem Niveau stabil gewesen waren, das dem Durchschnitt der Periode des sogenannten "Kalten Krieges" gleichkommt. Innerhalb von elf Jahren haben die USA zum dritten Mal eine erneute imperialistische Aggression großen Maßstabs vom Zaun gebrochen, womit sie ihren hegemonialen und interventionistischen Kurs in der Zeit nach dem Kalten Krieg bestätigen. In der Umwandlung der NATO in ein interventionistisches Militärbündnis ohne geographische Begrenzung ist nach dem Kosovo-Einsatz eine neue Etappe durchschritten.


2.
So niederträchtig und widerwärtig die Machenschaften der Unterdrückermächte sind, damit ist das Massaker von Zivilisten und Zivilistinnen nicht zu rechtfertigen, und noch weniger ein so schrecklicher Massenmord wie der vom 11. September.

Was hier in Frage gestellt wird ist nicht nur der revolutionäre Humanismus, der von so wesentlicher Bedeutung für die moralische Überlegenheit des sozialistischen und internationalistischen Kampfs gegen jegliche Unterdrückung ist. Es geht auch um das Verständnis von der Natur des Kampfes und von seinen strategischen Bedingungen.

Die Herrschaft des Imperialismus kann nur unter zwei Bedingungen gebrochen werden: durch Massenmobilisierung der unterdrückten Bevölkerungen in den beherrschten Ländern und durch Druck der Massenbewegung innerhalb der herrschenden Länder selber gegen die imperialistische Kriegstreiberei der Regierungen.

Unter diesem Gesichtspunkt sind niederträchtige Attentate wie die vom 11. September 2001 doppelt verheerend: 1. Da sie von konspirativen Netzen ausgeübt werden, reduzieren sie die Bevölkerungen, in deren Namen sie handeln, auf den Status von ohnmächtigen Zuschauern bei dem Zusammenprall von zweierlei Logiken des Terrors; 2. dadurch dass in der Bevölkerung der Staaten, gegen die sie im Kampf stehen, unterschiedslos getötet wird, schweißen sie die Bevölkerung um ihre Regierungen zusammen und ermöglichen letzteren, ihren kriegerischen und repressiven Kurs zu verschärfen.

Diese Attentate haben nichts mit Antiimperialismus zu tun, nicht einmal mit einem fehlgeleiteten. Die Anwendung von Massenterror ist Ausdruck einer reaktionären Politik und von reaktionären Bewegungen, die die Grundrechte der Völker missachten. Die Fundamentalisten von der Art der Anhängerschaft Bin Ladens sind für den Kapitalismus und verteidigen ihn. Sie sind oder waren mit bürgerlichen Fraktionen und Sektoren des Apparats mehrerer reaktionärer Staaten wie der saudischen Monarchie oder der pakistanischen und der sudanesischen Diktatur verbunden. Diese Gruppen wollen den muslimischen Bevölkerungen einen Diskurs aufzwingen, der fanatisch religiös, antiwestlich, nicht aber antiimperialistisch und der antisemitisch, nicht aber antizionistisch ist. Sie wollen ultrareaktionäre theokratische politische Regimes wie das der Taliban durchsetzen und bedienen sich der palästinensischen Sache, um diese reaktionären Ziele zu vertuschen.


3.
Die terroristischen Praktiken der imperialistischen Regierungen und der bürgerlichen Diktaturen in den abhängigen Ländern bewirken auf gleiche Weise nichts anderes, als dass sie die Bevölkerung in den eigenen Ländern im Namen der "Ausrottung des Terrorismus" und des Schutzes der Zivilbevölkerung immer bedenklicheren Gefahren aussetzen. Gewalt im Dienste der politischen und sozialen Ungerechtigkeit erzeugt Gewalt, und je erschlagender die angewandten Mittel sind, desto eher werden sich unter den unterdrückten Völkern Individuen finden, die bereit sind, bis zum Äußersten zu gehen, um dem "feindlichen Lager" das größt mögliche Leid anzutun und dabei fatalerweise diejenigen am stärksten ins Visier nehmen, die sich am wenigsten schützen können, nämlich die Zivilbevölkerung.

Eine wirkliche Auslöschung des Terrorismus hat die Ausrottung aller Formen von Terrorismus zur unabdingbaren Voraussetzung, des Terrorismus von Regierungen ebenso wie desjenigen von Gruppen und Netzwerken. Sie wird sich nur unter der Bedingung erreichen lassen, dass die politischen und sozialen Ungerechtigkeiten beseitigt werden, die in der physischen Gewalt ihre Fortsetzung erfahren, und dass überall Bedingungen geschaffen werden, die dem Recht der Völker, über sich selber zu bestimmen, erst seinen Sinn verleihen: öffentliche Freiheiten und politische Demokratie in allen Ländern, Recht aller Völker auf Selbstbestimmung, Neugestaltung der internationalen Beziehungen auf der Grundlage von Recht und Frieden.

Die Achtung vor menschlichem Leben darf nicht selektiv sein:

Das Embargo gegen den Irak muss aufgehoben werden; es hat laut den Zahlen der UNO in den letzten zehn Jahre den Tod von nahezu einer Million Zivilistinnen und Zivilisten verursacht und fordert weiterhin nahezu 100 000 Tote pro Jahr, die Hälfte davon Kleinkinder Die Schulden, die von den Banken und den Staaten der reichen Länder den beherrschten Ländern auferlegt werden, müssen gestrichen werden; sie führen zur Fortdauer von Hunger und Elend und blockieren die Entwicklung.Die massive und kostenlose Produktion und Verteilung von Arzneimitteln, die die Beseitigung von Epidemien wie AIDS, von denen die Bevölkerung in den ärmsten Regionen, vor allem in Afrika, heimgesucht wird, muss durchgesetzt werden.


4.
Eine besondere Quelle des terroristischen Fanatismus, der die Vereinigten Staaten am 11. September getroffen hat, sind Kräfte, die zuvor von der US-Regierung genährt und gefördert wurden. Zusammen mit ihrer Erdölbastion, der saudischen Monarchie, dem obskurantistischsten und reaktionärsten Staat auf der Erde, hat die US-Regierung den islamischen Fundamentalismus in ihrem Kampf gegen den fortschrittlichen Nationalismus und gegen den "Kommunismus" propagiert und begünstigt. Den Höhepunkt hat diese Nutzung erreicht, als sie beinahe zwei Jahrzehnte lang gemeinsam die fundamentalistischen Fraktionen in Afghanistan unterstützt haben. Wie der Zauberlehrling haben sie damit zur Ausbildung derjenigen Kräfte beigetragen, die jetzt die Methoden gegen sie kehren, welche sie von ihnen selber eingetrichtert bekommen haben.

Der westliche Imperialismus stellt permanent einen grenzenlosen Zynismus und eine eben solche Heuchelei unter Beweis. Im Namen der Demokratie und der Frauenrechte hauen sie auf den islamischen Fundamentalismus ein, wenn dieser Fundamentalismus ein antiwestliches Gesicht trägt wie im Falle des Iran; sie verlieren kein Wort über den totalen Absolutismus und die abscheuliche Frauenunterdrückung, wenn der islamische Fundamentalismus das Gesicht der saudischen Monarchie trägt, jener privilegierten Stütze des Imperialismus bei der Ausbeutung der Ressourcen auf der arabischen Halbinsel, der bedeutendsten Erdölvorkommen auf der Welt.


5.
Das Erdöl – der Lebensnerv des kapitalistischen Systems und Hauptursache für die ökologischen Verheerungen – ist stets eine wesentliche Triebkraft für die imperialistische Politik in dieser Weltregion gewesen. Dieser Umstand wird noch verstärkt, wenn Administrationen antreten, die so unmittelbar Ölinteressen repräsentieren, wie es bei den Bush-Administrationen (Vater wie Sohn) der Fall ist.Damit ist der "Kampf gegen den Terrorismus" zum Vorwand für Zwecke geworden, die mit diesem vorgeblichen Ziel nichts zu tun haben. Die USA haben sich eigenmächtig zum Gerichtsherren für die ganze Welt gemacht, wobei sie Richter und Partei zugleich sind; sie suchen dem Rest der Welt ihr Gesetz aufzuzwingen, wobei sie sich selber über Gesetze und jegliche Form internationaler Rechtsprechung stellen. Zu Beginn gaben sie ihren Angriff auf Afghanistan als eine militärisch-polizeiliche Operation aus, die auf die Zerstörung eines Netzwerks von einigen tausend "Terroristen" abzielt.

Sehr schnell ist das wirkliche Ziel der Operation in Erscheinung getreten: in Kabul eine andere Ansammlung von Fundamentalisten und Reaktionären aller Art ins Amt zu hieven, die sich der Regierung der Vereinigten Staaten gehorsam unterordnen. Das wirkliche Ziel der Operation besteht inzwischen darin, die seit fast einem Vierteljahrhundert laufenden Bemühungen der USA um Festigung der Kontrolle über die gesamte Region und der Herrschaft über Afghanistan (in Ergänzung zu Pakistan) für ihre geopolitischen Zwecke abzuschließen. Zunächst war die Destabilisierung der UdSSR ihr Ziel. Nach deren Zusammenbruch ist es das Ziel der US-amerikanischen Ölfirmen und ihrer Regierung, von den Öl- und Gasressourcen in Mittelasien Besitz zu ergreifen.

Nur das Verständnis dieser ökonomischen und politischen Absichten macht es möglich zu begreifen, warum unter dem Vorwand der "Terrorismusbekämpfung" nicht nur die Basen des Netzwerks Al-Qaida bombardiert werden. Um die Kontrolle über Afghanistan zu gewinnen, werden von den US- und britischen Flugzeugen die Städte und andere Zentren der Zivilbevölkerung bombardiert; damit werden, abgesehen von bereits zahlreichen Toten, die Bedingungen für ein wahrhaftes humanitäres Desaster geschaffen, dem Hunderttausende zum Opfer zu fallen drohen. Der nebulöse Charakter der imperialistischen Ziele in dem gegenwärtigen "Krieg gegen den Terrorismus" ist zudem geeignet, eine Ausweitung der Gewaltanwendung mit unkalkulierbaren Folgen auszulösen, vor allem mit dem Einsatz von Atomwaffen, der in den herrschenden Kreisen der USA bereits im Gespräch ist. Die Aggression der westlichen Mächte versetzt mehrere moslemische Länder in Aufruhr, wobei Pakistan das schwächste Kettenglied ist; dadurch erhöht sich das Risiko, dass in diesem Staat, der selber über die Atomwaffe verfügt, religiöse Fanatiker an die Macht gelangen.


6.
Die internationale radikale Linke steht jetzt vor der dringenden Aufgabe, einen Kampf an mehreren Fronten zu führen:

Es ist Pflicht der internationalen radikalen Linken – unter Respektierung der unterschiedlichen Mobilisierungen und Motivationen für den Kampf – sämtliche Massenkämpfe gegen diese unterschiedlichen Facetten der weltweiten Offensive des Kapitals voranzutreiben.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 362/363 (Dezember 2001). | Startseite | Impressum | Datenschutz