Türkei

Das korrupte Ein-Mann-Regime hat uns getötet, nicht das Erdbeben

Die beiden Erdbeben am 6. Februar mit einer Stärke von 7,7 und 7,6, die die Südosttürkei und Nordsyrien und Rojava erschüttert haben, hatten natürliche Ursachen, gewiss, aber was davor und danach geschah, definitiv nicht. Am 7. Tag der Katastrophe, während die nationalen und internationalen Rettungsteams immer noch daran arbeiten, Überlebende unter den Ruinen zu finden, ist das gemeinsame Gefühl aller Menschen eine unvorstellbare Wut, Schmerz, Verlassenheit und Chaos. Gleichzeitig gibt es eine überwältigende Solidarität der Menschen.

Sanem Öztürk

Wenn ich diese Zeilen aus der Türkei mit gemischten Gefühlen schreibe, vor allem als Zeuge einer anderen großen Katastrophe, dem Marmara-Erdbeben von 1999, denke ich, dass ich im Namen von Millionen von Menschen sprechen kann, wenn ich sage, dass diese ganze Situation das Ergebnis des Zusammentreffens vieler Dinge ist: Eine zerstörerische neoliberale Gier, eine Mentalität der Regierung, die Profit über Leben stellt, Fatalismus über Wissenschaft, die sich unter Entwicklung nur Zement, Beton und Bautätigkeit vorstellen kann, und vieles mehr. Allein in der Türkei trafen die beiden Erdbeben 10 Städte mit einer Gesamtbevölkerung von fast 15 Millionen Menschen. Zum jetzigen Zeitpunkt hat die Zahl der Todesopfer in der Türkei fast 25 000 erreicht, in Syrien 4 000. Zehntausende Menschen wurden verletzt, Millionen von Menschen wurden obdachlos.

 

Foto: anfdeutsch.com

Der wichtigste Kanal zum Überleben war Twitter; das kann niemand bestreiten. Über Twitter teilten Menschen unter den Trümmern ihre genauen Standorte mit, baten um Hilfe oder versuchten, ihre Verwandten zu erreichen. Basisorganisationen und Bürgerinnen und Bürger organisierten und verbreiterten ihre Hilfe über Twitter. Die Menschen drückten ihre Wut und Unterstützung auf Twitter aus. Und ja, sie kritisierten und beschuldigten die Regierung so hart wie möglich über Twitter: Schließlich ist die Regierung für die Korruption und Vetternwirtschaft in den kritischsten Institutionen des Landes verantwortlich. Die Bauunternehmer sind die glühendsten Anhänger Erdoğans und müssen ihm zutiefst dankbar sein für ihren schnell wachsenden Reichtum. Die fehlende Bauaufsicht und die Legalisierung illegaler Gebäude seitens der Regierung durch das sog. Baufriedensgesetz von 2018 machte die gewaltigen Schäden unvermeidlich. Und leider wussten wir das alles. Was wir nicht wussten oder nicht wahrhaben wollten, war der Mangel an Ressourcen, Sachverstand und Koordination bei den öffentlichen Institutionen, die die Krise jetzt bewältigen sollen. Das ist genau der Grund, warum das Blockieren von Twitter am dritten Tag des Erdbebens die einzige Lösung war, die die Regierung finden konnte, um die oppositionellen Stimmen zum Schweigen zu bringen. Sie haben damit buchstäblich ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, indem sie die einzige Überlebenschance blockierten. „Ich kann nicht glauben, dass ich gezwungen bin, meiner Tante, die unter den Trümmern liegt, VPN [zum Umgehen der Twitter-Sperre] zu erklären“ – dieser Satz sagt alles über die Gefühle von Millionen.

Und dann kam der „Ausnahmezustand“ statt einer nationalen Mobilisierung, die alles andere zurückstellen und alle privaten Unternehmen verpflichten würde, ihre Ressourcen in die Katastrophenzone zu schicken. Diejenigen, die zu meiner Generation aus den 90er Jahren gehören, sind sich der Bedeutung des Ausnahmezustands sehr wohl bewusst, vor allem in dieser speziellen Region und vor allem für die kurdische Bevölkerung. Er hat ganz sicher eine spezielle, traumatisierende Wirkung für die Menschen in der Region. Und er entfaltete sogleich seine beherrschende und gewalttätige Macht über die Überlebenden des Erdbebens oder alle, die von Anfang zornig und rebellisch waren. Anstatt zu hören, was die Leute sagen, gehen die Verhaftungen und Ingewahrsamnahmen in der Region mit aller Gewalt weiter. Der Ausnahmezustand wurde von Anfang an zum Unterdrückungszustand durch die Regierung.

Für die AKP-Regierung und Präsident Erdoğan hat Loyalität natürlich immer Vorrang vor Kompetenz. So sehr, dass sogar die für Katastrophenhilfe zuständige Behörde (AFAD) von einem Mann geleitet wird, der keine Erfahrung oder Ausbildung im Katastrophenmanagement hat, aber seine gesamte Karriere in der Behörde für religiöse Angelegenheiten verbracht hat (die übrigens einen 9,5-mal höheren Haushalt hat als AFAD). So sehr, dass die Warnungen der Wissenschaftler, 3 Jahre, 1 Jahr, sogar 3 Tage vor den Erdbeben, vergeblich waren; niemand hörte zu. Und jetzt, eine Woche nach der Katastrophe, rufen die Überlebenden auf Twitter um Erfüllung elementarer Bedürfnisse, wenigstens ein Zelt. Stell dir vor, du versuchst, ohne Dach, ohne Zelt, ohne jeden Schutz bei -12 Grad in der Nacht zu überleben, und es gibt keine staatliche Unterstützung, nachdem du 20 Jahre lang eine Steuer gezahlt hast, die speziell für die Unterstützung bei Erdbeben gedacht war. Wie würdest du dich fühlen? Genau.

Die Bürokratie und das verrückte Maß an Zentralisierung wurden in der öffentlichen Politik in der Türkei immer diskutiert, aber ich denke, es wurde noch nie so tief empfunden, jetzt wo Millionen von Menschen gleichzeitig davon betroffen sind. Das „Ein-Mann-Regime“ hat Zehntausende von Menschen getötet, während die Behörden für jeden einzelnen Schritt auf die Anweisung dieses einen Mannes warteten, der übrigens erst nach 25 Stunden im Fernsehen auftauchte, später sogar als einige der internationalen Rettungsteams in der Region ankamen. Sogar diese Teams wurden auf Flughäfen festgehalten, Bagger liefen nicht, die Hilfsmittel auf den LKW mussten warten, Bergleute aus der ganzen Türkei, die über Fachwissen für Such- und Rettungsaktionen verfügen, durften tagelang nicht beginnen und Freiwillige wurden nicht mobilisiert, als ob die Zeit durch Anweisung des einen Mannes angehalten worden wäre. Glücklicherweise mussten einige von der oppositionellen CHP regierte Gemeinden sowie Oppositionsparteien wie die Arbeiterpartei der Türkei (TİP) oder die Demokratische Volkspartei (HDP), politische Organisationen, Basisorganisationen und feministische Gruppen nicht auf solche Anweisungen warten.

Selbst jetzt am 7. Tag wird die am besten koordinierte Hilfe von ihnen geleistet. Nicht nur im Erdbebengebiet, sondern in allen Städten der Türkei geht das Leben nicht weiter, außer in Katastrophenkoordinierungszentren. Während Präsident Erdoğan Menschen, die seine Regierung kritisieren und ihr Vorwürfe machen, seit seinem ersten Auftritt im Fernsehen am 7. bei jeder Gelegenheit beleidigt und bedroht, arbeiten die Freiwilligen nonstop, um für die Überlebenden da zu sein. Stellen Dir vor, wie viele Tausend Menschen noch am Leben sein könnten, wenn die Rettungsteams und die Ausrüstung pünktlich da gewesen wären, und nicht erst nach 48 Stunden. Man beachte, dass auch der Flughafen, das städtische Krankenhaus und die Autobahn, auf die Erdoğan besonders stolz war, während des Erdbebens zerstört wurden, was die ganze Situation verschlimmerte.

      
Mehr dazu
Spendenaufruf für den Kurdischen Roten Halbmond, anfdeutsch.de
Erklärung der Arbeiterpartei der Türkei: „Diese Grausamkeit hat unser Land nicht verdient – wir stehen mit aller Kraft solidarisch zu unserem Volk.“, die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023) (nur online)
Interview mit Uraz Aydin: „Wir haben immer Wert auf Einheitsinitiativen gelegt“ (Beitritt zur TIP), die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
Farooq Tariq: Arbeiterhilfskampagne nach dem Erdbeben, Inprekorr Nr. 416/417 (Juli/August 2006)
 

Wir wissen, dass Millionen Menschen Nahrung, Kleidung und Schutz brauchen. Aber Millionen brauchen auch psychologische Hilfe. Da sich die Wahrnehmung dessen, was für die Menschen in der Türkei und in Syrien „normal“ ist, in vielerlei Hinsicht verändert hat, stehen wir vor besonders komplizierten Problemen, die über das Überleben hinausgehen. Zum Beispiel herrscht in den Gesprächen um uns herum ein starker Hass, der sich nunmehr physisch entlädt. Da das Katastrophengebiet auch eine sehr stark von Geflüchteten besiedelte Region ist, wenden sich die Wut auf das System, die Regierung und das Gefühl der Hilflosigkeit leicht gegen die Plünderer, insbesondere gegen die Flüchtlinge, manchmal in Form körperlicher Gewalt, angefeuert durch organisierte Hass-Tweets hauptsächlich von nationalistischen Parteiführern. Neben dem Aufbau und der Ausweitung unserer Solidarität mit den Überlebenden sind wir verpflichtet, alle bei jeder Gelegenheit daran zu erinnern, dass wir alle unter diesen Trümmern liegen. Mit unserer Solidarität werden wir alle gemeinsam unsere Wunden heilen und nach Gerechtigkeit suchen.

Die Wunden von Erdoğan und AKP hingegen sind unheilbar. Sie müssen gehen. Sie müssen abtreten.

13. Februar 2023
Sanem Öztürk, geboren 1979 in Ankara, ist eine türkische Soziologin und aktiv in Istanbul. Sie erhielt ihren Abschluss in Soziologie von der Technischen Universität des Nahen Ostens und ihren Master-Abschluss an der Mimar Sinan Universität der Schönen Künste. Von 2008 bis 2018 unterrichtete sie Soziologie an der Fakultät für schöne Künste der Marmara-Universität. Aufgrund akademischen Drucks musste sie ihr Doktorandenstudium an der Marmara-Universität abbrechen. Seit 2011 arbeitet sie ehrenamtlich für eine Frauenorganisation und führt Schulungen und Workshops zu den Themen Gender, geschlechtsspezifische Gewalt, Diskriminierung und rechtebasierter Ansatz für türkische und Flüchtlingsfrauen durch. Sie ist Mitglied der Vierten Internationale und der Arbeiterpartei der Türkei.



Vorabdruck aus die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023) (Online-Vorabdruck). | Startseite | Impressum | Datenschutz