Sri Lanka

Das Volk verjagt die Rajapaksas

Sri Lankas Bürgerbewegung, die als Janatha Aragalaya („Volkskampf“) bekannt ist, errang ihren bisher größten Sieg, als Gotabaya Rajapaksa durch den Parlamentspräsidenten ankündigen ließ, dass er am 13. Juli, nach der Hälfte seiner Amtszeit, zurücktreten werde.

B. Skanthakumar

Nachdem er sich monatelang der zentralen Forderung der öffentlichen Proteste – #GotaGoHome (Gota Geh nach Hause) – nach der verheerenden Wirtschaftskrise auf der Insel widersetzt hatte, [1] kam sein Rückzug nach den Massenprotesten vom 9. Juli.


Symbole der Staatsmacht


Diese Demonstrationen in ganz Sri Lanka erreichten in Colombo ihren spektakulären Höhepunkt durch die Besetzung von drei Symbolen staatlicher Macht:

Mehr als 100 000 Menschen, aus allen Klassen, Geschlechtsorientierungen, ethnischen Zugehörigkeiten, Altersgruppen, religiösen und politischen Überzeugungen kamen in der Wirtschaftshauptstadt zusammen und überwanden durch ihre schiere Zahl und Entschlossenheit mindestens 20 000 bewaffnete Polizist*innen, die Tränengas, Wasserwerfer und körperliche Gewalt einsetzten und sogar scharf schossen, wobei drei Protestierende von Schüssen schwer verletzt und mindestens 105 ins Krankenhaus eingeliefert wurden.

Im weiteren Verlauf der Nacht wurde das Privathaus des Premierministers unter verdächtigen Umständen durch Brandstiftung abgefackelt. Es wurde von einem wütenden Mob umzingelt, wahrscheinlich ausgelöst durch Social-Media-Warnungen und Live-Übertragungen von brutalen Übergriffen der paramilitärischen Polizei auf Journalist*innen, die friedliche Proteste in der Nähe seines Hauses filmten. Der Premierminister hatte sich den Forderungen nach seinem Rücktritt widersetzt. Er glaubte, dass er nach der Absetzung von Gotabaya Rajapaksa seine Position behalten oder sogar selbst Präsident werden könne. So klug er auch ist, da hat er sich verrechnet.


UNP-Führer


Ranil Wickremesinghe, Führer der oppositionellen United National Party (UNP) auf Lebenszeit und seit ihrem demütigenden Niedergang im Jahre 2019 ihr einziger Parlamentarier, [3] wurde am 12. Mai von Gotabaya Rajapaksa zum Premierminister ernannt, trotz fehlender Mehrheit im von der Präsidentenpartei kontrollierten Parlament, und – noch wichtiger – trotz fehlender Legitimierung durch die Bevölkerung.

Dieses Manöver folgte auf den Rücktritt des bisherigen Amtsinhabers Mahinda Rajapaksa (des älteren Bruders des Präsidenten und selbst zweifachen Präsidenten) und die politische Instabilität innerhalb der Regierung, da den Abgeordneten der Regierungsparteien die Realität der tiefsitzenden Wirtschaftskrise und der wachsenden Unbeliebtheit der Präsidentenfamilie (vier davon Kabinettsmitglieder) dämmerte.

Mahinda Rajapaksa hatte am 9. Mai seine Anhänger als Zeichen der Unterstützung nach Colombo gerufen, um seine Position als Premierminister während des Ausnahmezustandes zu sichern. Diese örtlichen Vertreter*innen der Parlamentarier wurden mobilisiert, um die Demonstrant*innen, die wochenlang vorm Amtssitz des Premierministers („Temple Trees“) und dem Präsidentenbüro („Secretariat“) lagerten, gewaltsam anzugreifen.

Es gab sofortige Empörung und Solidarität von der Öffentlichkeit, die spontan zusammenströmte, um sich gegen die Schläger zu wehren, worauf diese begannen, die Stadt zu verlassen, um in ihre Städte und Dörfer zurückzukehren. Diese lokale Gegengewalt verbreitete sich bald im ganzen Land, als die Häuser und anderes Eigentum von 78 pro-Rajapaksa-Parlamentarier*innen, Provinz- und Kommunalvertreter*innen, in Brand gesetzt wurden. Zehn Menschen wurden getötet, darunter ein Abgeordneter der Regierungspartei, und 200 wurden verletzt.

Während der Gewalttätigkeiten am Nachmittag und in der Nacht des 9. Mai beobachteten die Sicherheitskräfte die Angriffe und Zerstörungen, ohne einzugreifen, aber anschließend wurden über 2500 Personen verhaftet, darunter auch parteilose Demonstrant*innen und Kader der linken Janatha Vimukthi Peramuna (JVP – Peoples Liberation Front), einfach anhand von Namenslisten, die der örtlichen Polizei von den geschädigten Parteifreund*innen des Präsidenten zur Verfügung gestellt wurden.

Der erstaunliche Aufstieg von Ranil Wickremesinghe in das Amt des Premierministers, das er bis dahin fünfmal seit 1993 innehatte, wurde vom Kern der Bürgerbewegung und der parlamentarischen Opposition angeprangert, weil dadurch der Kampagne zum Sturz des Präsidenten und zur Befreiung von seiner Familie der Wind aus den Segeln genommen werden konnte.

Teile der Mittelschicht, Großunternehmen, liberale und rechte Zivilgesellschaft, Diplomaten und Geldgeber begrüßten Wickremesinghe als Sri Lankas „Heilsbringer“, der die fehlende „politische Stabilität“ und Glaubwürdigkeit zur Umsetzung aufgeschobener neoliberaler Wirtschaftsmaßnahmen bringen, Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds über die Bewältigung der Währungskrise führen und mit der „Restrukturierung“ der Auslandsschulden bei privaten und bilateralen Gläubiger*innen beginnen würde, die durch den ersten Zahlungsausfall Sri Lankas nach der Unabhängigkeit am 12. April verursacht wurden. [4]

Die Befürchtungen der Bürgerbewegung waren völlig berechtigt. Umfang und Intensität der täglichen Protestaktionen gingen zurück. Die Proteste wurden so dargestellt, als hätten sie sich erledigt und würden der „wirtschaftlichen Stabilität“ abträglich sein, die Ordnung und sozialen Frieden erfordert, um internationale Gläubiger, Tourist*innen und Investoren zu beruhigen. Es gab mehrere Versuche, Teile der Demonstrant*innen zu kooptieren und einen Dialog mit denen zu führen, die behaupten, eine amorphe Gruppe unabhängig von politischen Parteien und charismatischen Persönlichkeiten zu repräsentieren.

Anstatt den Weg für die baldige Absetzung des Präsidenten zu ebnen, zeigte sich Wickremesinghe damit zufrieden zu sein, auf absehbare Zeit an seiner Seite zu regieren. Er sicherte sich Abtrünnige der Oppositionsparteien, um sein neues Kabinett unter Führung des Präsidenten zu stärken. Die vom Volk als Übergangsmaßnahme zur Abschaffung des allmächtigen Präsidialsystems geforderten Verfassungsänderungen zur drastischen Einschränkung der Exekutivrechte von Gotabaya Rajapaksa, solange er noch im Amt ist, hat er nicht eingeführt. Ebenso wenig konnte er das Elend der einfachen Menschen lindern, deren Existenzgrundlage und Leben durch eine schmerzhafte Wirtschaftskrise von ungewohntem Ausmaß erschüttert werden. [5]


Politischer Nutzen


Die Ereignisse vom 9. Juli haben es ermöglicht, die politischen Vorteile aus der kurzlebigen Doppelherrschaft von Gotabaya Rajapaksa und Ranil Wickremesinghe zurückzugewinnen.

Die Massenversammlungen haben viele Hindernisse überwunden. Die Polizeibehörde warnte vor einem möglichen Terroranschlag im Vorfeld der Mobilisierung, um Angst in der Öffentlichkeit zu säen. Der Generalinspekteur der Polizei verhängte ohne gesetzliche Grundlage eine unbefristete Ausgangssperre, die öffentliche Bewegungen in der Nacht des 8. Juli verbot, wurde aber gezwungen, sie am nächsten Morgen innerhalb von Stunden als Reaktion auf Proteste von Oppositionspolitiker*innen und Rechtsanwaltsgruppen aufzuheben. Doch der beabsichtigte Schaden war erreicht, da Züge und öffentliche Busse außer Betrieb genommen worden waren, wodurch den Demonstrant*innen diese Verkehrsmittel fehlten. Inzwischen hatte das einzige Kraftstoffunternehmen, das noch über Lagerbestände verfügte, den Verkauf ausgesetzt, auch mit der Absicht, die Mobilität zu stören.

 

Sturm auf das Büro des Präsidenten, 9.7.2022

Foto: Amalini

In einer bemerkenswerten Willensbekundung machten sich die Menschen aus dem tiefen Süden, den zentralen Hügeln und entlang der Westküste aus eigener Kraft auf den Weg. Diejenigen, die sich an Bahnhöfen in Avissawella, Galle, Kandy und Matara versammelt hatten, besetzten verfügbare Züge und schmückten sie mit regierungsfeindlichen Transparenten. Andere fanden private Busse, LKW, Traktoren, Transporter oder andere Fahrzeuge, die noch Diesel oder Benzin hatten, in die sie sich hineinquetschen konnten. Viele fuhren in der glühenden Hitze mit dem Fahrrad, während andere am 9. Juli zig Kilometer lang zu Fuß gingen, um irgendwie nach Colombo zu gelangen. Sie kamen schwarz gekleidet, schwenkten Nationalfahnen, trugen selbstgemachte Plakate und sangen regierungsfeindliche Parolen und Botschaften, die weit verbreitet sind.

Am Vortag wurden Student*innen von staatlichen Universitäten von der Inter-University Students Federation (IUSF) mobilisiert, um nach Colombo zu reisen und im Freien zu übernachten. Die Proteste am 9. Juli waren nicht auf Colombo beschränkt. In jeder größeren Stadt und an vielen kleineren Orten gingen die Menschen auf die Straße, schlugen auf Töpfe und Pfannen, schwenkten Fahnen und brachten ihre Wut und ihre Forderung nach politischem Wandel zum Ausdruck, vom mehrheitlich singhalesischsprachigen Galle im Süden bis zum mehrheitlich tamilischsprachigen Jaffna im Norden und Batticaloa im Osten. Es gab auch Solidaritätsdemonstrationen der srilankischen Diaspora (hauptsächlich aus der singhalesischen Bevölkerung, aber auch Muslime und eine geringere Anzahl von Tamil*innen, was Brüche und Misstrauen widerspiegelt) in Australien, Neuseeland, Nordamerika und Westeuropa am selben Tag.


Undenkbar


Wie kann man das erfassen, was noch vor wenigen Monaten undenkbar war: die Giftigkeit der Rajapaksas? Welchen Charakter hat die Bürgerbewegung und welchen Platz nehmen die organisierte Arbeiterbewegung und die Linke darin ein? Was sind die Spaltungen und Widersprüche, die die Reaktionsfähigkeit der tamilischen Nation und der ethnisch-religiösen muslimischen Volksgruppe gegenüber der Janatha Aragalaya prägen? Was passiert jetzt, wenn sich Präsident und Premierminister tatsächlich zurückziehen?

Das, was die Bürgerbewegung in den letzten Monaten erreicht hat und was für diejenigen, die es durchgemacht haben, langwierig und anstrengend war, muss jetzt verfestigt werden. Letztes Jahr konnte man sich nicht vorstellen, dass Gotabaya Rajapaksa nicht seine volle Amtszeit als Präsident abschließen würde; und auch nicht, dass sein Nachfolger, wenn er selbst nicht wieder antreten (und wahrscheinlich gewinnen) würde, kein weiterer Rajapaksa sein würde. Auch war es nicht denkbar, dass die Rajapaksas für zumindest eine ganze Generation erheblich beschädigt und nicht in der Lage wären, sich wieder um die Macht zu bewerben. Die tiefe Angst vor Kritik an der herrschenden Familie und ihren Methoden des Umgangs mit Dissident*innen außerhalb der Legalität ist verschwunden.

Seit seiner ersten Wahl zum Präsidenten im Jahr 2005 ist Mahinda Rajapaksa innerhalb der singhalesischen Nation (die beinahe 75 % der fast 22 Millionen umfassenden Bevölkerung ausmacht) beliebt gewesen. In seine Regierungszeit fielen durch Auslandskredite finanzierte Mega-Infrastrukturprojekte, die Niederlage der separatistischen Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE) im Jahr 2009, die einen 26 Jahre langen internen Krieg beendete, und die Konsolidierung des singhalesisch-buddhistischen Nationalismus, der seit der Unabhängigkeit nach 443 Jahren des europäischen Kolonialismus Staatsideologie ist.

Gotabaya Rajapaksa wurde, obwohl es ihm im Vergleich zu seinem älteren Bruder an Anziehungskraft und Klugheit fehlt, als inoffizieller Verteidigungsminister und Bürokrat, der für die Umsiedlung der städtischen Armen und die „Verschönerung“ von Colombo durch deren Entfernung und die Entwicklung von Geschäfts- und Freizeiträumen verantwortlich war, mit diesen Erfolgen identifiziert. Sein Profil als parteipolitischer Außenseiter und ergebnisorientierter „Macher“ machte ihn bei der Wirtschaft, den Berufsverbänden, der Mittelschicht und öffentlichen Bediensteten beliebt. Diese hatten es satt, dass ungeschickte Politiker*innen Profit aus ihrem Amt zogen und sich in die Staatsverwaltung einmischten.

Als Gotabaya Rajapaksa im November 2019 erstmals kandidierte und die Wahl zum Präsidenten mit über 52 % der Stimmen (6,9 Mio.) gewann, stellte sich nur noch die Frage, wie groß der Vorsprung der kürzlich gegründeten Sri Lanka Podujana Peramuna (SLPP-Volksfront) unter der Führung von Mahinda Rajapaksa bei den Parlamentswahlen im August 2020 sein würde. Tatsächlich gewann die SLPP 59 % der abgegebenen Stimmen und 145 Sitze in der 225 Mitglieder umfassenden Legislaturperiode, knapp unter der 2/3-Mehrheit, die sie anstrebte, um durch Verfassungsänderungen die Befugnisse des Präsidenten zu stärken. Die kamen dann mit Unterstützung von Verbündeten tatsächlich und schwächten die Unabhängigkeit des Premierministers und des Kabinetts sowie der Aufsichtsorgane.

Doch die Bilanz seiner Amtszeit, die mit der Covid-19-Pandemie zusammenfiel, hat seine wichtigsten Wählerschichten schwer enttäuscht. Obwohl Sri Lankas Impfaktion in der Region erfolgreich war, verärgerte er karriereorientierte Beamte dadurch, dass er auf aktive und ehemalige Militärs (wie er einer ist) zur Verwaltung ziviler Funktionen gesetzt hat. Seine Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft, die Bestechlichkeit von Abgeordneten der Regierungspartei, auch aus seiner eigenen Großfamilie, einzudämmen, enttäuschte die Öffentlichkeit. Vor allem sein Missmanagement der Wirtschaft – einschließlich eines Verbots von Chemikalien in der Landwirtschaft [6] –, das eine sich seit Jahrzehnten anbahnende Krise verschlimmert, hat den Mythos der technokratischen Effizienz, der von seinen ehemaligen Unterstützer*innen gepflegt wurde, entzaubert.


Bürgerbewegung


Was ist das Wesen und die Identität der Bürgerbewegung, die sich selbst Janatha Aragalaya nennt und unter dieser Bezeichnung in der Gesellschaft bekannt ist? Es ist ihr besonders wichtig, als „Nichtpartei“ (nirpakshika) anerkannt zu werden, die keiner politischen Partei oder gar Ideologie verbunden ist. Dies ist neu in einer Gesellschaft, in der politische Parteien aus dem gesamten ideologischen Spektrum Vehikel des sozialen Protestes waren oder sich schnell solche Proteste aneigneten. Tatsächlich ist es für sie Ehrensache, dass sie alle im Parlament vertretenen Parteien ablehnt, weil sie ihnen die Schuld an den nicht wahrgenommenen Möglichkeiten der über 74 Jahre seit der Entkolonialisierung im Jahr 1948 gibt. Sie ist stolz darauf, gewaltfrei (samakami) zu sein – nicht unbedeutend für die Akzeptanz in der Bevölkerung, da Sri Lanka seit 1971 dreimal bewaffnete Jugendaufstände erlebt hat. Von Anfang an gab es klare Botschaften der Opposition gegen den Rassismus, der erst spät und immer noch unvollständig verstanden wurde, da er von der herrschenden Klasse benutzt wird, um die Menschen auf der Grundlage ihrer Ethnizität (Singhalesisch, Tamilisch und Muslimisch) und Religion (buddhistisch, hinduistisch, islamisch und christlich) zu spalten.

Sie hat keinen dominanten Führer oder identifizierbaren Sprecher, der die Vielzahl von Hintergründen und Interessengruppen zusammenführen würde, die durch ihre Abneigung gegen Gotabaya („Gota“) Rajapaksa und seine Familie verbunden sind, aber auch durch ihre Entschlossenheit, das zu erreichen, was sie „Systemwandel“ nennen: die Behebung struktureller Mängel im politischen System, einschließlich der Konzentration und Zentralisierung der Macht in der Präsidentschaft, die Nominierung und Wahl politischer Vertreter*innen und eine neue Verfassung, die diejenige von 1978 ersetzt, die auf der Übertragung von Regierungsbefugnissen auf das Amt des Präsidenten basiert.

Sie ist weder Kritikerin noch Befürworterin des Kapitalismus oder gar des Neoliberalismus. Allenfalls gibt es eine Befürwortung der kostenlosen Gesundheits- und Bildungsangebote und Sozialprogramme, die das sind, was vom Wohlfahrtsstaat Sri Lankas übrigblieb. Aber vor allem spiegelt die Bewegung den Mainstream in seiner Anpassung an die wirtschaftliche Liberalisierung: deregulierte Märkte, durch Kartelle festgelegte Preise, Privatisierung, Auslandskapital und exportgetriebenes Wachstum.

Oft abwertend als der „Mittelschicht“ und „der Jugend“ zugeordnet, sind diese Kategorien nicht nur in ihrer Anwendung in Sri Lanka, sondern auch in anderer Hinsicht nicht exakt. Die soziale Zusammensetzung des wichtigsten permanenten Protestcamps vor dem Büro des Präsidenten, bekannt als „GotaGoGama“ („GotaGehDorf“), ist größtenteils singhalesisch und buddhistisch, im Alter von Anfang 20 bis Anfang 40 Jahren und getragen von Selbstständigen und aufstrebenden Fachleuten, aber auch von Jugendlichen aus der Arbeiterklasse und Student*innen aus Familien der unteren Mittelschicht. Sie sind überwiegend männlich, aber mit einer besseren Repräsentation und Sichtbarkeit der Frauen als in den Gewerkschaften und der Linken. Unterstützer*innen und Besucher*innen kommen aus allen ethnischen Volksgruppen, Glaubensrichtungen und sich nach Geschlecht und sexueller Orientierung definierenden Menschen, darunter auch ältere Menschen einschließlich langjähriger Aktivist*innen, die von dieser einzigartigen und beispiellosen Bewegung elektrisiert werden.

Diese Bürgerbewegung ist nicht beschränkt auf das Galle Face Green [7] im Herzen des Colombos der britischen Kolonialzeit, wo sie am stärksten konzentriert und sichtbar ist. Es gibt auch permanente Camps in anderen Städten und Gemeinden: Anuradhapura, Badulla, Galle, Gampola, Jaela, Kandy, Kurunegala, Matara, Monaragala, Negombo und Ratnapura. Darüber hinaus gehört zur Bewegung auch immer noch die Protestform, mit der sie begann: kleinteilige Proteste von Menschen, die sich jeden Abend oder jede Woche in ihren Wohnvierteln versammeln und Plakate halten, die Nationalflagge schwenken und regierungsfeindliche Parolen rufen. An jedem Ort ist die Zusammensetzung nach Klassen, ethnischer und religiöser Herkunft unterschiedlich.

Die Anfänge waren Ende Februar, als eine Handvoll Kolleg*innen und Freund*innen in einem Vorort von Colombo, die von längeren Stromausfällen und mangelhafter Grundversorgung entnervt waren, jeden Abend kleine, stille Mahnwachen mit Kerzen für ein oder zwei Stunden veranstalteten. Inspiriert von diesem Beispiel und auf der Suche nach Möglichkeiten, ihren Ärger über die Regierung auszudrücken, beteiligten sich immer mehr Menschen aus der Umgebung von Colombo an dieser Aktion. Sie fassten Mut, ähnliche Aktionen in ihren eigenen Wohnvierteln zu beginnen.

Ende März gab es viele solcher Mahnwachen, die die Aufmerksamkeit der Medien erregten und dem gleichen Format folgend Kerzen oder flackernde Fackeln hielten, um die durch Stromausfälle verursachte Dunkelheit in ihren Häusern zu symbolisieren. Auf selbstgemachten Plakaten beschuldigten sie die Regierung und vor allem den damaligen Finanzminister (und jüngeren Bruder des Präsidenten) Basil Rajapaksa sowie den damaligen Zentralbankchef Ajith Nivard Cabraal des Missmanagements der Wirtschaft.

Eine der immer wieder erhobenen Forderungen war: „Gebt uns das uns gestohlene Geld zurück“; sie richtete sich hauptsächlich an die Rajapaksas, die in ihrer Regierungszeit vermutlich beträchtlichen Reichtum angehäuft und im Ausland versteckt haben, da 2022 die Ebbe in der Staatskasse einsetzte, wodurch Importe einschließlich Kohle und Diesel zur Stromerzeugung begrenzt werden mussten.

Demonstration in Colombo, 9.7.2022

Foto: Amalini

 

In vornehmeren Teilen von Colombo hielten einige Schilder mit der Aufschrift „Geh zum IWF“. Seit letztem Jahr gibt es unter Ökonomen, Wirtschaftsverbänden und der oberen Mittelschicht breite Übereinstimmung, dass nur der Internationale Währungsfonds (IWF) die Wirtschaft „retten“, notwendige politische Reformen einleiten und Sri Lankas Zugang zu neuen Krediten vom internationalen Geldmarkt erleichtern kann. Diese Überzeugung, dass der Gang zum IWF nicht nur unvermeidbar, sondern sogar wünschenswert sei, wird innerhalb der Politik und der Zivilgesellschaft allgemein geteilt. Es gab keine ernsthafte Debatte darüber, wie Sri Lanka in eine Schuldenfalle geriet (51 Mrd. US-Dollar bei einer Ökonomie von 80 Mrd. Dollar), noch ob diese Schulden als illegitim zurückgewiesen werden sollten. Erst vor kurzem wurden einzelne Stimmen laut, die eine Prüfung der Schulden forderten.

Der Wendepunkt für die Bewegung kam am 31. März, als ein normalerweise friedlicher Protest in der Nähe des Privathauses des Präsidenten in einem bürgerlichen Vorort von Colombo spontan durch Jugendliche und andere, die über die von 10 auf 13 Stunden steigenden Stromausfälle, Mangel an Treibstoff und Medikamenten und steigende Lebensmittelpreise verärgert waren, anschwoll. Es kam zu Gewalt, als die Polizei die Wohnung des Präsidenten verteidigte. Gotabaya Rajapaksa, der zuvor evakuiert worden war, wurde von seinem Sicherheitspersonal in seinen befestigten Amtssitz verlegt, wo er bis zu einer erneuten, hastigen Abreise letzte Woche ohne öffentliche Kontakte bleiben sollte.

Statt die Bürgerbewegung zu diskreditieren, lösten die Bösartigkeit der Polizei und der Versuch regierender Politiker*innen, sie mit dem „Arabischen Frühling“ zu vergleichen, eine Welle der Sympathie in der Bevölkerung aus. An den folgenden Tagen gingen immer mehr Menschen auf die Straße und Protestaktionen entstanden an immer neuen Orten auf der ganzen Insel. Um diese unterschiedlichen Aktionen zusammenzubringen, begannen einige Organisatoren, sich über Online-Meeting- und Messaging-Plattformen miteinander zu koordinieren, jedoch ohne Struktur oder Form. Die Vorbereitungen für einen massiven Marsch begannen, durch den ihr Protest zusammengeführt und verstärkt werden sollte.

Da sie sich dem Präsidenten nicht nähern konnten, entschieden sie sich, zu seinem Büro zu marschieren. Das Sekretariat des Präsidenten liegt direkt am Indischen Ozean – wo Schiffe in der Ferne darauf warten, im Hafen von Colombo anzulegen, und die von China gebaute „Colombo International Financial City“ sich aus dem Meer erhebt, eine Sonderzone für globales Kapital, die frei von Besteuerung und Regulierung der Geldströme ist.

Die Demonstration vom 9. April übertraf alle Erwartungen bezüglich ihrer Größe und Kampfbereitschaft. Einige der Jugendlichen entschieden sich, ihren Protest dauerhaft zu machen (#OccupyGalleFace), indem sie sich weigerten, den Ort zu verlassen. Andere stellten Zelte für die Nacht zur Verfügung, verteilten warme Speisen und Getränke und beschafften Lautsprecheranlagen, um ihre Wut zu verbreiten. Bald begann sich ein kleines Dorf zu entwickeln, mit eigener Küche und Trinkwasserversorgung, Toiletten und Erster Hilfe, Bibliothek und solarbetriebenem Handy-Ladegerät, später mit einem Kino und mehreren Aufführungs- und Vortragsstätten für Drama, Tanz, Musik und Poesie.

Da das Camp (#GotaGoGama) wie die Bürgerbewegung offen sind für alle, die die gleiche Kernforderung nach Absetzung des Präsidenten und seiner Familie teilen, begannen verschiedene Gruppen, Sammelpunkte am gleichen Ort zu finden, von den Gehörlosen bis hin zu versehrten Ex-Militärs, buddhistischen Mönchen und christlichen Geistlichen, den Opfern der Osteranschläge 2019, Aktivist*innen für verantwortungsbewusste Regierungsführung, Menschenrechtsverteidiger*innen und vielen mehr.

Die organisierte Linke, vor allem die Janatha Vimukthi Peramuna (JVP – Peoples Liberation Front) und die von ihr abgespaltene Peratugami Samajawadi Pakshaya (PSP – Frontline Socialist Party) sind ebenfalls anwesend, aber strategisch nicht durch Parteiorganisationen, sondern durch ihre Jugend (Socialist Youth Union bzw. Youth for CHEnge) und Student*innen (Socialist Students Union bzw. Revolutionary Students Union) vertreten. Eine weitere dauerhafte Präsenz der Linken in der Bewegung war die Inter-University Students Federation (IUSF), die einst von der JVP kontrolliert wurde, jetzt aber nirgends mehr angegliedert ist, obwohl sie als von der PSP beeinflusst wahrgenommen wird. Im Verlaufe des Kampfes hat sie die Bewegung durch regelmäßige Mobilisierung von Student*innen zu Demonstrationen und Kundgebungen, politische Hartnäckigkeit und mutige Aktionen wie die Blockade des Parlaments in Kotte und des Präsidentenhauses in Colombo vorangetrieben, wobei sie Polizeiknüppeln, Tränengas und Wasserwerfern sowie Gerichtsbeschlüssen getrotzt hat.

In den ersten Monaten des Jahres 2022 war die Passivität der Arbeiterklasse spürbar. Trotz des Drucks, den die Wirtschaftskrise auf ihren Lebensstandard ausübte, schien niemand Lust auf eine Konfrontation mit „Arbeitgeber*innen“ und dem Staat zu haben. Für die Tagelöhner*innen waren die Einschränkungen und Lockdowns in den letzten zwei Jahren der Pandemie unerträglich für ihr Einkommen und ihr Überleben. In den letzten Jahren gab es sektorale Kämpfe von Plantagenarbeiter*innen, Beschäftigten in den Exportzonen, Lehrer*innen, Gesundheitspersonal, Landwirt*innen und dergleichen, aber isoliert und ungleichmäßig. Außer im öffentlichen Sektor ist der Organisationsgrad gering und rückläufig. Das Bewusstsein der Arbeiterklasse ist auch durch jahrzehntelange Abwehrkämpfe, die oft in Niederlagen endeten, durch das Gewicht der Marktideologie, den singhalesisch-buddhistischen Nationalismus und Rassismus, die Erfahrung des Staatsterrors während des Krieges und des zweiten von der JVP geführten Aufstands sowie durch die Unfähigkeit, eine dauerhafte Gewerkschaftskoordination zu bilden, fragmentiert und verwässert.

Die großen Gewerkschaften des privaten Sektors wie auch ihre Kolleg*innen aus dem öffentlichen Sektor, die von jeher mit den etablierten politischen Parteien verbunden sind, waren zunächst misstrauisch gegenüber der Bürgerbewegung, die sie als anarchisch und unfertig betrachteten. Kleinere unabhängige und linke Gewerkschaften wie die der Beschäftigten der Ceylon Bank (CBEU), die Ceylon Mercantile Industrial and General Workers (CMU) sowie die Ceylon Teachers (CTU) und andere waren ihr gegenüber offener, schlossen sich den Demonstrationen an und engagierten sich für die Proteste.

Als die Dynamik im April wuchs, führten Ad-hoc-Koalitionen von Gewerkschaften und anderen Organisationen des öffentlichen und privaten Sektors, darunter das Nationale Gewerkschaftszentrum der JVP sowie die Gruppen La Via Campesina und die Bewegung für Land- und Agrarreform (MONLAR), zwei sehr erfolgreiche nationale Shutdowns durch: den Hartal (Schließung und Streik) vom 28. April und am 6. Mai den ersten Generalstreik seit der Niederlage vom Juli 1980. [8]

Die Regierung wurde durch diese Maßnahmen erschüttert, die von Beschäftigten des öffentlichen Sektors im Verwaltungs-, Gesundheits-, Transport- und Postdienst, die in der Regel treu zur jeweiligen Regierung stehen, sowie von Kleinunternehmer*innen und Arbeiter*innen, ländlichen Händler*innen, Landwirten und Fischer*innen und weiblichen Arbeiterinnen aus den Exportverarbeitungszonen breit unterstützt wurden. Die Macht der Arbeiterklasse, die Wirtschaftsaktivität zu lähmen und die Normalität zu stören, war eine größere unmittelbare Bedrohung für den Staat als die Besetzungen von Plätzen. Dessen Reaktion bestand darin, Notstandsgesetze anzuwenden und bestimmte Bereiche zu „wichtigen Diensten“ zu erklären, um Streiks illegal zu machen. Dies schreckte die Gewerkschaften jedoch nicht und schmälerte nicht den Erfolg.


Wo sind die Tamilen?


Sowohl Freunde und Kritiker*innen der Bürgerbewegung haben Bedenken geäußert, dass sie nicht alle Gruppen anspreche und außerhalb der urbanisierten und mehrheitlich singhalesischen Regionen auf der Insel nur begrenzte Resonanz habe, insbesondere in Bezug auf Sri Lankas tamilische Nation, die historisch den Norden und Osten der Insel bewohnte. Das ist nicht ganz unberechtigt. Die Kernforderungen der Aragalaya und ihre Auffassung der Ursprünge und Konturen der Krise sind begrenzt durch die Identität und das Bewusstsein der singhalesischen Nation.

Innerhalb der Bürgerbewegung gab es, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, keine Auseinandersetzung mit den systemischen Wurzeln des singhalesischen Suprematismus, auch nicht mit den historischen Ungerechtigkeiten, die den Tamilen widerfahren sind. Es ist für die singhalesische Mehrheit überaus schwierig, anzuerkennen, dass sie nicht das Hauptopfer des Krieges war. Auch zwölf Jahre danach gibt keine allgemeine Anerkennung für den anhaltenden Schmerz von Familienangehörigen und Freund*innen, denen es nicht gestattet ist, die Gestorbenen öffentlich zu betrauern und ihrer zu gedenken, einschließlich derer, die „verschwunden“ sind und immer noch als vermisst gelten, darunter auch Kämpfer*innen, für die Enteignung von Acker- und Wohngebieten, die vom Militär besetzt sind, für die repressive Präsenz des Militärs und seine Einmischung in zivile Angelegenheiten in der vom Krieg betroffenen Region, für die anhaltenden Versuche, tamilische (und muslimische) Ansprüche auf Land und Meer und ihre religiösen Stätten in Frage zu stellen, und für die allgegenwärtige Bedrohung durch das Gesetz zur Terrorismusprävention gegen jede Kritik des Staates.

Es ist nicht so, dass die Tamilen im Norden und Osten den Aragalaya gleichgültig gegenüberstehen. Wie könnte es sonst sein, dass sie bei jeder Präsidentschaftswahl seit 2005 konsequent für den wichtigsten Gegenkandidaten der Rajapaksas gestimmt haben? Für viele gibt es wenig oder gar keine Empathie mit der singhalesischen Nation, die ihrer Meinung nach dieses Monster geschaffen hat, das sie jetzt zerstören will. Ist es nur wegen Stromausfällen und Engpässen bei Treibstoff und Medikamenten, dass es jetzt Widerstand gegen die Rajapaksas gibt, fragen sie. Diese Knappheit ist denjenigen nicht fremd, die in den Kriegsjahren die Wirtschaftsblockade des Nordens erlebt haben. Ihr Leid, das sozioökonomische Entbehrungen einschließt, aber auch darüber hinausgeht, sahen sie in dieser Bürgerbewegung nicht vertreten.

Ein ernsthafter Kampf verändert jedoch unweigerlich das Bewusstsein seiner Beteiligten. Im Laufe weniger Monate, seit die Aragalaya Gestalt annahm, beobachtete die Menschenrechtsaktivistin Ambika Satkunanath: „… Bewusstsein und Spielraum nehmen zu, um über Themen zu sprechen, die bisher für nicht möglich gehalten wurden. Militarisierung, Kriegsverbrechen, die Channel-4-Dokumentation [Videobeweise für Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch srilankische Sicherheitskräfte in der Endphase des Krieges im Jahr 2009], Rassismus. Man hört Leute sagen: ‚Wenn sie das im Süden tun, stellen Sie sich vor, was sie im Norden und Osten getan haben müssen‘.“ [9]

Nichts davon wäre möglich gewesen ohne die prägende Erfahrung dieser Bewegung, einschließlich der geduldigen Bemühungen progressiver singhalesischer, muslimischer und tamilischer Aktivist*innen, über Missstände und Ziele von Bürger*innen aus den Minderheiten zu informieren, aufzuklären und sie zu erklären. Tatsächlich fordern seit neuestem bekannte Aktivist*innen der Bewegung (am 9. Juli) unter anderem die Freilassung von „politischen Gefangenen“ (was ein Hinweis auf LTTE-Verdächtige ist, die seit Ende des Krieges und auch davor in Haft sind) und Gerechtigkeit für Familien von Opfern außergerichtlicher Tötungen und deren Verschwindenlassen (darunter tamilische politische und zivile Vertreter*innen, Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen sowie LTTE-Kader). [10]

      
Mehr dazu
Interview mit Nimanthi Rajasingham: Aufstand in Sri Lanka, intersoz.org (22.07.2022)
Resolution des 16. Weltkongresses der IV. Internationale, Februar 2010: Zur Lage in Sri Lanka, Inprekorr Nr. 462/463 (Mai/Juni 2010)
Wahlfälschung bei den Präsidentschaftswahlen, Inprekorr Nr. 462/463 (Mai/Juni 2010)
 

Und es ist nicht so, dass nicht-singhalesische Menschen in der Agitation außerhalb des Nordens und Ostens fehlen würden. Muslime, die sich in Sri Lanka als ethnische und nicht nur als religiöse Gemeinschaft verstehen, waren nach dem Ende des Krieges im Jahr 2009 Leidtragende der Islamophobie. Zusätzlich zu ständiger Gewalt gegen ihre Häuser, Geschäfte und Religions- und Bildungsstätten wurden sie nach den Terroranschlägen am Ostersonntag 2019 [11] kollektiv ins Visier genommen und erlebten den Schmerz der Zwangseinäscherung von Covid19-Opfern unter Missachtung ihrer religiösen Vorschriften. In der Anfangsphase der Bürgerbewegung beteiligten sie sich nur äußerst vorsichtig, aus Angst vor rassistischen Demonstrant*innen oder Repression durch den Staat. Aber seit April sind sie sichtbar und lautstark. Inzwischen nehmen auch Tamilen, die im bevölkerungsreichen westlichen Sri Lanka leben, an der Aragalaya teil. Es gibt eine erhöhte Sichtbarkeit der tamilischen Sprache auf den Bannern, Plakaten und Schildern der Bewegung, auch wenn sie in Parolen, Gesängen und Reden noch selten zu hören ist.


Was nun?


Während wir dies schreiben, brodeln in Sri Lanka Gerüchte über einen Fluchtversuch von Gotabaya Rajapaksa, mit dem er seinem offiziellen Rücktritt am 13. Juli zuvorkommen wolle. [12] Währenddessen versucht Ranil Wickremesinghe, eine politische Zukunft für sich zu retten, idealerweise in der Präsidentschaft, die er seit langem anstrebt. Formelle Diskussionen und Hinterzimmertreffen sind unter Parlamentarier*innen und Drahtzieher*innen fieberhaft im Gange. Als nächstes wird eine Übergangsregelung kommen: eine Zusammenarbeit zwischen den Parteien, die früher an der Regierung waren, und denen, die derzeit in der Opposition sind. Wie lange sie halten wird, ist ungewiss.

Die Janatha Aragalaya hat immer wieder die Bildung einer Allparteienregierung nach dem Rücktritt von Präsident und Premierminister gefordert, die sich darauf konzentrieren solle, dem Volk wirtschaftliche Erleichterungen zu verschaffen und eine neue Verfassung zur Abschaffung des präsidialen Regierungssystems auszuarbeiten. Es gibt keine Gewissheit, dass dies von den Politiker*innen respektiert wird, weshalb Aktivist*innen die Schaffung eines „Volksrates“ vorgeschlagen haben, der aus ihrer Mitte gebildet wird, um mit dem Parlament gemeinsam zu regieren. In einigen Kreisen herrscht die Sorge vor einem Putsch durch das Militär, allein oder gemeinsam mit Teilen des alten Regimes. Vieles ist ungewiss. Man muss wachsam und mobilisiert bleiben. Die Rajapaksas sind gestürzt. Das System, das sie hervorgebracht hat, nicht.

Colombo, 11. Juli 2022

Übersetzung: Björn Mertens

Nachbemerkung: Am 20.7. wurde Ranil Wickremesinghe zum neuen Präsidenten gewählt. Als erste Amtshandlung verhängte er den Notstand und ließ in der Nacht auf den 22.7. das Protestcamp auf dem Galle Face Green mit brutaler Gewalt räumen.



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2022 (September/Oktober 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Ahilan Kadirgamar, “Rethinking Sri Lanka’s economic crisis”, Himal Southasian, 28 February 2022.

[2] Für Bilder und Kommentare siehe Twitter-Thread von Amalini De Sayrah.

[3] Die UNP war eine der herrschenden Parteien Sri Lankas seit der Unabhängigkeit. 2019 spaltete sie sich an der Frage, ob sie einem Bündnis für die Parlamentswahlen 2020 beitreten solle. – Anm. d. Üb.

[4] Eric Toussaint, “Sri Lanka: No agreement with the IMF!CADTM, 15 April 2022.

[5] Andrew Fidel Fernando, “Sri Lanka Crisis: Daily heartbreak of life in a country gone bankrupt”, BBC News, 8 July 2022.

[6] Meera Srinivasan, “Sri Lanka’s ‘organic only’ policy | Sowing the seeds of a disaster”, The Hindu, 18 December 2021.

[7] Das Galle Face Green ist eine Grünfläche entlang der Küste im Herzen von Colombo. – Anm. d. Üb.

[8] Devana Senanayake, ‘First in four decades’: Why Sri Lanka general strike matters’, Al Jazeera English, 29 April 2022,

[9] Ambika Satkunanathan, “The Tamil Struggle, the Aragalaya and Sri Lankan Identity”, Groundviews, 15 May 2022.

[10]GotaGoGama activists issue 6 immediate demands”, Daily FT, 11 July 2022. (Medico hat die Forderungen des Camps in deutscher Übersetzung veröffentlicht – Anm. d. Üb.)

[11] Bei Terroranschlägen auf die Ostergottesdienste christlicher Kirchen 2019 wurden 253 Menschen getötet. – Anm. d. Üb.

[12] Rajapaksa verließ das Land am 12. Juli, The Guardian 13 July “Sri Lankan president Gotabaya Rajapaksa flees the country”.