Ukraine

Nationale Identität und Völkerverständigung

Das folgende Interview hat David Broder für Jacobin mit dem in Großbritannien lebenden ukrainischen Sozialisten Marko Bojcun und Autor des Buches The Workers’ Movement and the National Question in Ukraine 1897–1918 geführt.

Interview mit Marko Bojcun

 David Broder: Wladimir Putin präsentiert sich als Wahrer einer Jahrhunderte alten Tradition einer „trinitarischen“ russischen Zivilisation (bestehend aus „Groß-“, Weiß- „Klein“russen) und verurteilt Lenin und die Bolschewiki für die Gründung der Ukraine. Welche Bedeutung hatte das Jahr 1917 für die ukrainische Staatlichkeit und war Lenin der entscheidende Akteur?

Marko Bojcun: Das Jahr 1917 war ein bedeutender Moment für die Entstehung einer ukrainischen nationalen Identität, für die Bauern und Bäuerinnen, aber auch für einen Teil der Arbeiterklasse. Es kamen mehrere Faktoren zusammen, die der Revolution in den Provinzen des Russischen Reiches, in denen die Ukrainer*innen die Mehrheit bildeten, ihren besonderen Charakter verliehen. Bis 1917 waren sie über zweihundert Jahre lang ein fremdbestimmtes Volk gewesen. Das heißt, sie hatten keine unabhängige politische Vertretung in einer Zeit, in der die rivalisierenden imperialistischen Staaten um sie herum einen Weltkrieg entfesselt hatten, um das Land und seine Ressourcen neu unter sich aufzuteilen.

In diesem Krieg kämpften die Ukrainer auf beiden Seiten, also sowohl in der österreichisch-ungarischen als auch in der russischen Armee. In der zaristischen Ära besaß die russischsprachige Minderheit in der Ukraine die politische Oberherrschaft. Dies hatte Auswirkungen auf die Bauern und Bäuerinnen, die vom Land als Arbeiter*innen in die städtische Industrie gingen und von dort aus auf der sozialen Leiter weiter nach oben stiegen, wenn sie eine Ausbildung zu Ingenieuren, Ärzten, Anwälten oder Armeeoffizieren erhielten. In diesem Prozess gaben die Ukrainer ihre Muttersprache und ihre traditionelle Kultur auf und übernahmen die russische Sprache und Kultur, die am Arbeitsplatz, in der Armee, in den Schulen und in den Gerichten vorherrschte.

Dieser Prozess wurde durch die Revolution von 1917 unterbrochen, als die Bauernschaft und eine wachsende Zahl von Arbeiter*innen sich weigerten, weiterhin als Russen zu gelten, und auf ihre Selbstbestimmung pochten. Das heißt, sie orientierten sich stets an ihrer eigenen Regierung in Kiew und nicht an Petrograd, egal ob dort die provisorische Regierung oder die Arbeiter- und Soldatenräte herrschten. Während also in Russland ein Machtkampf zwischen dem Petrograder Sowjet und der provisorischen Regierung herrschte, handelte es sich in der Ukraine um einen Kampf zwischen drei Mächten, an dem auch die ukrainische Zentral’na Rada (wörtlich: Zentralrat oder Sowjet auf Russisch) als dritte Kraft beteiligt war und von der Bauernschaft unterstützt wurde. Sie erkannten die Rada in Kiew als ihre Regierung an und forderten sie auf, Frieden zu schließen und den Krieg zu beenden, das Land u verteilen und Wahlen abzuhalten – für eine auf die Bauern-, Soldaten- und Arbeiterräte gestützte Regierung. Im Oktober 1917 stürzte sie die provisorische Regierung in Kiew und den anderen großen Städten der Ukraine und rief die Ukrainische Volksrepublik aus.

 Inwieweit war das ein Produkt einer eigenständigen sozialdemokratischen Bewegung in der Ukraine? Gab es eine spezifische ukrainische Arbeiterbewegung über die Staatsgrenzen hinweg – und was war mit dem Bund oder der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAPR)?

Es gab rege Kontakte über die österreichisch-ungarisch-russische Grenze hinweg zwischen ukrainischen Radikalen, Anarcho-Sozialisten und späteren Sozialdemokraten, die während der Autokratie zusammenarbeiteten. Im Jahr 1905 wurde in der russischen Ukraine die Ukrainische Sozialdemokratische Arbeiterpartei gegründet, als dritte Kraft neben dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund (Der Bund) und der SDAPR.

Im Russischen Reich gab es neben der russischen vierzehn nicht-russische sozialdemokratische Parteien. In der Ukraine waren die drei wichtigsten die russische, die jüdische und die ukrainische Partei. Sie hatten ihre Basis in verschiedenen Teilen der Arbeiterklasse: die Ukrainische Sozialdemokratische Partei unter den Land- und ungelernten Arbeiter*innen in den Städten, der Bund unter dem jüdischen Handwerksproletariat und den Industriearbeiter*innen im Osten und Süden der Ukraine und die SDAPR quer durch das Handwerksproletariat bis hin zur Schwerindustrie im Kohlebergbau und in der Metallindustrie, vor allem im Osten. Diese Parteien bedienten sich natürlich der Sprache ihrer sozialen Basis und traten für nationale Selbstbestimmung ein, sei es für die Autonomie innerhalb eines demokratisierten gesamtrussischen Staates oder für die vollständige Unabhängigkeit. Das galt ganz besonders für die Ukrainische Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Es gab immer Diskussionen zwischen Sozialdemokraten aller Nationalitäten über die langfristige Perspektive in Bezug auf die nationale Frage. Aus diesen unterschiedlichen Ansichten resultierten unterschiedliche Programme, Methoden und Schwerpunkte der Organisationen.

Die Frage der nationalen Selbstbestimmung stand im öffentlichen politischen Leben nicht so sehr im Vordergrund, beeinflusste aber die sozialdemokratischen Aktivitäten in der russischen Ukraine erheblich. Erst 1902/03, als in den Latifundien in den Weizen- und Zuckerrübenanbaugebieten der Ukraine große Streiks ausbrachen, erlebte die ukrainische Sozialdemokratie ihren Aufschwung und gewann eine soziale Basis. In der Revolution von 1905 wurde die nationale Frage breit diskutiert. Dann, im Jahr 1917, explodierte sie, vor allem wegen des Krieges und des Zusammenbruchs der russischen Autokratie, als sich viel mehr Arbeiter*innen der nationalen Bewegung anschlossen. Wie ich in meinem Buch zu analysieren versuche, kämpfte die sozialdemokratische Arbeiterbewegung in der Ukraine um eine gemeinsame Lösung der nationalen Frage in Form einer demokratischen Republik, in der die Interessen aller Klassen und aller Nationen befriedigt werden sollten. Der Versuch, eine ukrainische Volksrepublik zu etablieren, scheiterte 1918, behielt aber seine Bedeutung im Verlauf des Bürgerkriegs, der deutschen Besatzung und deren Zusammenbruchs im November 1918 und dann des Ausbruchs der weit verbreiteten Bauernaufstände während des Bürgerkriegs. Am Ende des Bürgerkriegs 1921 war den Bolschewiki klar, dass sie auf dem Gebiet des ehemaligen Kaiserreichs keinen eigenen Staat errichten konnten, ohne das Recht auf nationale Selbstbestimmung, auch für die Ukrainer, anzuerkennen.

 Am Ende des Bürgerkriegs scheint es zwei parallele Prozesse gegeben zu haben: eine durchgängige Zentralisierung des sowjetischen Staates mit weniger lokaler Kontrolle und gleichzeitig einen Prozess der „Ukrainisierung“, der ihre [der Ukraine] Andersartigkeit anerkannte.

Das Recht auf politische Autonomie, einschließlich der kulturellen Autonomie, wurde anerkannt. Man kann die Bevölkerung nicht in den Regierungsprozess einbeziehen, ohne ihre Sprachen als Alltagssprachen am Arbeitsplatz, im Bildungswesen und in der Regierung anzuerkennen. Es war ein Prozess der Selbstemanzipation der nicht-russischen Völker, in dem die Ukrainer als das anerkannt werden wollten, was sie sind, und ihre eigene Sprache sprechen wollten. Sie wollten nicht mehr mit der Sprache des ehemaligen Imperiums leben und arbeiten, das über sie geherrscht hatte.

Während des Bürgerkriegs spaltete sich die ukrainische sozialdemokratische Bewegung ab, ebenso wie der Bund und die SDAPR. Es bildeten sich zwei ukrainische kommunistische Parteien, die für eine unabhängige ukrainische sozialistische Republik eintraten und sich schließlich mit der Kommunistischen Partei der Ukraine (Bolschewiki) zusammenschlossen, die 1918 ihre Unabhängigkeit von der SDAPR erklärt hatte. Die Kommunistische Partei der Ukraine bestand überwiegend aus russischsprachigen Mitgliedern, gewann aber immer mehr ukrainischsprachige Mitglieder, entweder als Einzelpersonen oder durch Zusammenschluss mit ihren jeweiligen kommunistischen Parteien, die sie während des Bürgerkriegs gegründet hatten. So gab es 1921 innerhalb der bolschewistischen Partei der Ukraine einen großen Anteil ukrainischsprachiger Mitglieder und einen bedeutenden Teil der ukrainischen Intelligenz, die für eine unabhängige ukrainische Regierung eintraten, die sich aus freien Stücken mit anderen Sowjetrepubliken vereinigen sollte.

Dieser Druck führte dazu, dass Lenin die Idee der Schaffung einer Konföderation, einer Union der Republiken unterstützte, was bedeutete, dass die Ukrainer das Recht haben sollten, sich selbst zu regieren, sich mit anderen Sowjetrepubliken zu vereinigen und auch auszutreten, wenn sie dies wünschten. Die Ende 1922 gegründete UdSSR war also verfassungsgemäß eine Konföderation von Unionsrepubliken. In Wirklichkeit war ihre politische Struktur jedoch stark zentralisiert, und die herrschenden russischen Bolschewiki ließen die Entwicklung eines unabhängigen Staates nicht zu. Allerdings mussten sie große Zugeständnisse machen. In den 1920er Jahren wuchs die ukrainische nationale Identität innerhalb der Arbeiterklasse, und 1928 war die Hälfte der Gewerkschaften in der Ukraine ukrainischsprachig, während sie vor der Revolution überwiegend russischsprachig gewesen waren.

 Wie ist es zu erklären, dass sich die Arbeiterklasse in der ersten Zeit nach 1917 immer mehr als ukrainisch begriff?

Es ist ein paradoxes Ergebnis der Entwicklung der Sowjetunion, dass die Industrialisierung, die allgemeine Alphabetisierung und die Urbanisierung die ukrainische nationale Identität stärkten. Dies war für die herrschende Partei schwer zu bewältigen, denn der Wunsch nach Selbstbestimmung unter den Menschen, die allmählich höhere Ränge in der Gesellschaft und in der Regierung, in der Armee etc. einnahmen, bedeutete, dass sie die grundlegenden Belange ihres Lebens kontrollieren und entscheiden wollten. So forderten die ukrainischen Kommunisten in den 1920er Jahren, dass ihre Sozialistische Sowjetrepublik zuvörderst als eine einzige wirtschaftliche Einheit anerkannt wird, während die russischen Bolschewiki ursprünglich eine Zweiteilung der ukrainischen Republik in ein Agrar- und ein Industriegebiet anstrebten und die Prioritäten dieser beiden Regionen von Moskau aus festlegen wollten. Die ukrainischen Kommunisten sagten: Nein, wir wollen einen einzigen Plan für unsere Republik, der sowohl die industrielle als auch die landwirtschaftliche Entwicklung umfasst, und wir wollen selbst darüber entscheiden. Das hatte ernsthafte Folgen für das Bildungswesen, für die Wirtschaftsplanung und für die sonstige Entwicklung.

 

Unabhängigkeitsdenkmal in Charkiw

Foto: Tala tamila

Es war ein ständiger Kampf. Stalin setzte dem friedlichen Prozess der Ukrainisierung ein Ende. Unter seiner Herrschaft war nationale Identität nur noch als ethnische Identität erlaubt: Man kann seine Sprache verwenden, Volkslieder singen und tanzen, aber man darf nicht selbst regieren, [dem Wortsinn nach:] Wenn ihr an der Regierung teilnehmen wollt, müsst ihr nach Moskau gehen. Viele talentierte Ukrainer gingen nach Moskau und Leningrad und besetzten wichtige Positionen in der sowjetischen Regierung, etwa Nikita Chruschtschow und Leonid Breschnew und andere vor ihnen. Heute sehen wir die Nachkommen dieser Menschen, die als Vertreter der Russischen Föderation von Moskau aus im Fernsehen sprechen.

 Wie Sie aufgezeigt haben, hat sich dieser Prozess während der gesamten Sowjetära fortgesetzt: Bis in die 1970er Jahre hinein identifizierten sich immer größere Teile der Arbeiterklasse als ukrainisch. Aber war dies notwendigerweise ein politisches oder gar oppositionelles Bewusstsein?

Das ist sicherlich eine komplizierte Frage, die es in sich hat. Klar ist, dass die ukrainische Identität als ein Streben nach Selbstbestimmung, das in den 1920er Jahren zugenommen hat – unter Bedingungen, die eine Teilnahme der Ukrainer*innen am politischen Leben ermöglichten –, in den 1930er Jahren brutal unterdrückt und mit den stalinistischen Säuberungen und dem Terror in den Untergrund getrieben wurde. Die große Mehrheit aller ukrainischen politischen und kulturellen Führer*innen wurde eliminiert: 140 von 142 Mitgliedern des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Ukraine landeten 1933 in den Lagern und Gefängnissen oder wurden direkt hingerichtet. Während der Hungersnot von 1932–33 wurde auch die Intelligenz ausgelöscht, während die Bauernschaft als autonome politische Kraft gebrochen wurde.

Am Ende des Bürgerkriegs war die Ukraine auf vier verschiedene Staaten aufgeteilt – Polen, Tschechoslowakei, Rumänien und die Sowjetunion. Hitler und Stalin teilten Polen 1939 unter sich auf und zwei Jahre später überfiel Nazi-Deutschland die Sowjetunion. Während des Zweiten Weltkriegs rekrutierte Nazi-Deutschland etwa 250 000 Ukrainer für seine Militäreinheiten und die Hilfspolizei, während 4,5 Millionen Ukrainer und damit 40 % der Gesamtzahl in der sowjetischen Roten Armee dienten. Sie kämpften in den großen Schlachten, in denen die Deutschen vertrieben und dann besiegt wurden. Damit erlitt die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik von allen Sowjetrepubliken die schwersten Verluste an Menschenleben und materiellen Schäden. 1945 wurden praktisch alle Gebiete der Ukraine zum ersten Mal in einem Staat vereinigt. Im Jahr 1954 übertrug die Führung der Sowjetunion die autonome Republik Krim von der russischen auf die ukrainische Sowjetrepublik, vor allem aus wirtschaftlichen Erwägungen.

In der Zeit nach Stalin wechselten sich Phasen der Liberalisierung des politischen Lebens und erneuter Repression einander ab. Das Selbstbestimmungsrecht war jedoch nie völlig aus dem politischen Bewusstsein verschwunden, bis in die 1980er Jahre. Beispiele dafür, die aus der Dissidentenbewegung hervorgegangen sind, waren der Ukrainische Arbeiter- und Bauernverband, der Ende der 1970er Jahre gegründet wurde, und die Ukrainische Helsinki-Gruppe. Aber dies waren eher marginale Formen eines politischen Bewusstseins, das durch Zensur und Einschüchterung unterdrückt wurde.

Ich habe zwanzig Jahre lang in der Ukraine gearbeitet und bin durch das ganze Land gereist, nach Odessa, Charkiw, Dnipropetrowsk und Lwiw. Überall sprach ich Ukrainisch, und fast überall antwortete man mir auf Russisch, wechselte aber ins Ukrainische. Außer einmal auf einem Markt in Kiew habe ich nie Chauvinismus oder Rassismus gegen mich erlebt, weil ich Ukrainisch sprach. Heute verständigen sich Russisch- und Ukrainischsprachige fließend und mit gegenseitigem Respekt. Gleichzeitig habe ich beobachtet, wie sehr die ukrainische Sprache akzeptiert und zunehmend als Alltagssprache verwendet wurde, insbesondere nach dem Maidan im Jahr 2014.

 Es scheint offensichtlich, dass der Krieg von 2014 und insbesondere der heutige Krieg die ukrainische nationale Identität gestärkt haben, sogar unter der russischsprachigen Bevölkerung. Aber was ist mit Gebieten wie dem Donbass?

Zunächst sei darauf verwiesen, dass es überall in der Ukraine russischsprachige Menschen gibt, und zwar nicht nur Russen. Es sind Russen und Ukrainer, Juden und Krimtataren, Armenier und Griechen. Die russische Sprache an sich ist also kein wichtiges Merkmal der nationalen Identität oder der politischen Zugehörigkeit, außer für rechtsextreme Nationalisten. Entscheidend ist, ob man sich mit seinen Mitbürgern, die hier in diesem Land leben, als eine Nation identifiziert.

Viele in der internationalen Linken verstehen das nicht, wenn sie sagen, dass es diese russische Bevölkerung gibt, die unzufrieden ist, weil sie diskriminiert wird. Das ist einfach nicht wahr. Das ist eine Behauptung, die von den Verfechtern der Ideologie des russkiy mir (der russischen Welt) aufgestellt wird, zu der ihrer Ansicht nach die gesamte Ukraine rechtmäßig gehört, einschließlich des Donbass.

Diejenigen, die eine Diskriminierung der russischen Sprache behaupten, beziehen sich neuerdings auf das Gesetz vom Januar 2021, das vorschreibt, dass öffentliche und kommerzielle Dienstleistungen in ukrainischer Sprache erbracht werden müssen, während bisher vor allem in den Massen- und sozialen Medien das Russische vorherrschte. Es handelt sich dabei um ein Gesetz zur positiven Diskriminierung, das die ukrainische Sprache, die jetzt Amtssprache ist, stärken soll. Eine solche Maßnahme wird als notwendig erachtet, nachdem die ukrainische Sprache drei Jahrhunderte lang diskriminiert und verboten war, und wegen des Drucks der Medienunternehmen, die aus dem benachbarten Russland senden.

Das Gesetz wird weitgehend befürwortet, weil es das ausdrückt, was die meisten Menschen selbst wollen. Bei der Einführung des Gesetzes wurde jedoch den Maßnahmen, die erforderlich sind, um ausschließlich russischsprachigen Menschen den Übergang zu erleichtern, zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die größten Kritiker sind Medien und Verlage, die nun ihre Dienste parallel in ukrainischer Sprache anbieten müssen, wenn sie diese weiterhin auf Russisch anbieten wollen.

Wir sollten uns anschauen, wie die Lage im Donbass tatsächlich ist. Er war der industriell am weitesten entwickelte Teil der Ukraine; die Region erstreckt sich auch über die Grenze zu Russland. Sie hatte einen sehr hohen Lebensstandard, war wirtschaftlich eng mit der Wirtschaft der Russischen Föderation verflochten und war seit jeher mit Moskau und Leningrad über die Eisenbahn und andere Verkehrswege verbunden. Ab den 1970er Jahren, insbesondere nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als die neuen Kapitalisten das staatliche Vermögen plünderten und privatisierten, ging es mit dieser Region wirtschaftlich bergab. Die Arbeiterklasse erlebte, was auch die Arbeiter in den Rostgürteln der USA und Großbritanniens erlebt haben: Sie wurden an den Rand gedrängt, arbeitslos und waren gezwungen, auf der Suche nach Arbeit auszuwandern. Ihre Umwelt wurde durch die industrielle Produktion vergiftet und verschmutzt. Darunter leiden sie in vielerlei Hinsicht, auch was ihre Gesundheit und ihre Perspektiven angeht.

Es gibt also diesen Unmut, der von russischen Nationalisten, den extremen Rechten im Donbass und in Russland aufgegriffen wurde. Sie argumentieren, dass die Menschen im Donbass politisch entrechtet wurden und deshalb eine eigene Regierung brauchen, oder vielmehr, dass sie sich der Russischen Föderation anschließen sollten. So hat dieser Prozess begonnen, und wenn man genau hinsieht, wurden die separatistischen Republiken 2014 von rechtsextremen russischen Nationalisten gegründet. Dies wiederum führte zu starken nationalistischen, auch rechtsextremen Reaktionen in der Ukraine. Diese beiden Nationalismen befruchten sich gegenseitig und prägen wichtige Teile des gesamten politischen Prozesses und der militärischen Situation.

Ukraine und benachbarte Gebiete

Karte: Johann Baptist Homann (~1715)

 

Beim Referendum im Dezember 1991 sprach sich die Mehrheit der Wähler*innen im Donbass für die ukrainische Unabhängigkeit aus. Doch die Unabhängigkeit kam ohne einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit und ohne die alte sowjetische Führungsschicht aus den öffentlichen Ämtern zu entfernen oder ihre Kontrolle über die Wirtschaft zu brechen. Wie nirgendwo sonst in der Ukraine pflegte die Führungsspitze im Donbass ein autoritäres, paternalistisches Verhältnis zur arbeitenden Bevölkerung und förderte eher deren ausgeprägte regionale Identität als eine bürgerliche und nationale Identität. Aber sie identifizieren sich trotzdem mit anderen Menschen in der Ukraine als Bürger eines Landes. Das war die Situation vor 2014, aber die Situation wurde offensichtlich durch die ausgebrochenen Konflikte polarisiert und verschärft.

Als Viktor Janukowitsch 2010 gewählt wurde, brachte er eine Gruppe von Oligarchen aus dem Donbass mit an die Regierung in Kiew. Sie stellten sich hinter ihn, weil er den Zugang zu Lizenzen für den Handel mit dem Ausland kontrollierte, z. B. für die Verarbeitung von Öl, Gas und Chemikalien in der Ukraine. Seine Minister stammten im Wesentlichen aus der Donbass-Region. Als er 2014 vom Maidan gestürzt wurde, floh er nach Russland, aber seine Partei etablierte sich als Rumpftruppe im Donbass. Sie versuchten, von dort aus zum Gegenschlag auszuholen und weiterhin in der Ukraine ihre Strippen zu ziehen. Die Russische Föderation unter Putin schaltete sich ein und unterstützte sie militärisch. Zunächst nahm Russland im Februar 2014 die Krim ein, und dann zogen die Hintermänner dieser Operation in den Donbass und gründeten mit den lokalen russischen nationalistischen Parteien und den Überresten von Janukowitschs Partei die Volksrepubliken Donezk und Luhansk.

 Einige verweisen auf die Friedensverhandlungen nach 2014 und insbesondere auf das Minsk-II-Abkommen als Grundlage für die jetzigen Gespräche. Welche Art von Friedensvereinbarung könnte die Ukraine akzeptieren, die trotz der gegenwärtigen Erfolge gegen die Invasoren nicht nur eine Demütigung bedeuten würde?

Falls die Minsk-II-Vereinbarung jemals als Grundlage für die Lösung des Konflikts getaugt hat, hat Putin sie zerstört. Putin wollte sich nicht einmal mit Selensky treffen, sondern hat darauf bestanden, dass die Ukraine zuvor die Führer der separatistischen Republiken als Verhandlungspartner akzeptiert. Die ukrainische Regierung hat dies abgelehnt. Dies war einer der Auslöser für die russische Invasion, die jedweden Verhandlungsprozess zunichte gemacht hat. Putin hat den Verhandlungsweg blockiert, indem er einmarschiert ist, die Kapitulation der Ukraine fordert und Zivilisten in ihren Häusern, in Krankenhäusern und in sogenannten Evakuierungskorridoren bombardiert.

Die ukrainische Regierung erklärt nun, dass sie sich nicht auf umfassende Verhandlungen einlassen wird, solange sich Russland nicht vollständig zurückzieht, einschließlich von der Krim und aus dem Donbass. Sie sagt, sie könne nicht verhandeln unter dem Druck der Bomben auf die Zivilbevölkerung. Aber sie hat ihre Vertreter*innen zu den Gesprächen geschickt, die in ihren Augen dazu beitragen könnten, das Leben der Zivilbevölkerung zu schützen.

Meiner Meinung nach hat Putin erwartet, einen Blitzkrieg führen, schnell einmarschieren und die Ukraine besetzen zu können und dabei nur minimalen Schaden anzurichten, damit die ukrainische Bevölkerung eine russische Herrschaft und eine von Moskau eingesetzte Regierung eher akzeptieren würde. Das war die ursprüngliche Strategie, die Putin verfolgte und die durch den erbitterten Widerstand der Ukrainer vereitelt wurde. Vieles deutet darauf hin, dass den russischen Soldaten die Kampfmoral fehlt, in dem gewünschten Tempo vorzurücken oder sich vor Ort auf Nahkampfgefechte mit ihren Gegnern einzulassen. Insofern ist es schwierig, die Invasion wie geplant durchzuführen.

Die Westmächte haben der Einrichtung einer Flugverbotszone nicht zugestimmt, da dies einen Krieg zwischen der NATO und Russland auslösen könnte. Die Unterstützung des Westens ist jedoch beträchtlich und wird vom russischen Staat und seinen großen Wirtschaftspartnern registriert. Und zunehmend auch von der russischen Bevölkerung, die die Invasion auch nicht gerade begeistert unterstützt. Jetzt sind es also die Russen, die um Verhandlungen bitten, aber sie bitten nicht wirklich darum, sondern fordern die Kapitulation der Ukraine.

Wir befinden uns jetzt in einem ausgewachsenen Krieg. Die Russen sind dazu übergegangen, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und sie unter Beschuss aus ihren Häusern zu vertreiben. Ich glaube, dass uns hier ein langer Kampf bevorsteht und ich befürchte immer mehr, dass wir auf eine Situation wie in Syrien zusteuern könnten.

 Wie lässt sich das vermeiden?

Im Moment versucht Russland, die ukrainische Seite zu besiegen oder das Land zumindest zu teilen. Die Ukraine steht vor nahezu unüberwindbaren Problemen, hat sich aber fest verschanzt und fordert den vollständigen Rückzug Russlands aus der gesamten Ukraine – nach dem Stand vor 2014. Teilung oder Wiedervereinigung und kein Kompromiss, anders als diejenigen im Westen, die Frieden fordern, wenn im Gegenzug die Ukraine die Bedingungen Russlands akzeptiert. Ich glaube zwar, dass diese Friedensbefürworter aufrichtig sind, aber sie haben kaum die moralische Autorität, eine solche Lösung aus ihren bequemen Häusern heraus in ihren noch friedlichen Demokratien zu propagieren. Ich denke, dass wir uns nur dann hin zu einem Waffenstillstand und ein Friedensabkommen bewegen können, wenn es in Russland und auch im Westen eine massenhafte Antikriegsbewegung gibt und wenn Putins Herrschaft ernsthaft erschüttert ist. Beides ist nicht in Sicht. Aber wenn es eine stärkere Volksbewegung gibt, die die russische Regierung auffordert, ihre Truppen aus der Ukraine abzuziehen, dann könnte sich die Situation langsam ändern.

Es bedarf einer massiven politischen Reaktion im Westen und neuer Konzepte und Strategien für einen Frieden in Europa. Als Vergleich würde ich die Zeit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre heranziehen, als die Amerikaner Marschflugkörper in Großbritannien stationierten und die Sowjetunion mit der Stationierung von SS-19 und SS-21-Raketen in der Tschechoslowakei antwortete. Die Antwort war eine Massenbewegung, die von der Kampagne für Nukleare Abrüstung organisiert und angeführt wurde. E. P. Thompson und andere aus dem kleineren europäischen Lager der Atomwaffengegner trugen zu dieser Kampagne wichtige neue Erkenntnisse über Krieg und mögliche Wege zum Frieden in unserem Zeitalter der Massenvernichtungswaffen bei. Das war an sich schon eine bedeutende Entwicklung, und ich glaube, dass sie einen großen Einfluss auf das Verhalten der Großmächte in der Folgezeit hatte. Aufklärung wurde betrieben und wichtige Vorschläge wurden gemacht, die Teil des Abrüstungsprozesses wurden, etwa zur Begrenzung der Reichweite von Raketen in Europa. Es folgten die Gespräche zwischen Michail Gorbatschow und europäischen und amerikanischen Politikern, die den Kalten Krieg zumindest für einige Jahre beendeten.

Wir brauchen also eine neue europäische Strategie der nuklearen Abrüstung und des Friedens, die aus der Gesellschaft heraus getragen wird. Die Regierungen sind zu langsam, und sie antworten auf Krieg mit Krieg. Sie zählen die Verluste ihrer eigenen Konzerne, die sich aus der Verflechtung zwischen dem russischen Kapital und dem westlichen Kapital durch Investitionen, Handel, Schulden, Pipelines und so weiter ergeben. Es bedarf einer klaren Botschaft seitens einer Volksbewegung sowohl in Russland als auch im Westen, die diese Regierungen zu echten Verhandlungen zwingen würde. Daran mangelt es im Moment, aber es gab einen Moment, in dem der Ernst der Lage und die strategische Bedeutung der Ukraine für den europäischen Frieden erkannt wurden.

 Wir können die Botschaft der russischen Friedensbewegung verbreiten, und natürlich kann der ukrainische militärische Widerstand die Moral der russischen Truppen untergraben. Aber wie könnten wir eine Friedensbewegung aufbauen, die nicht nur auf ein neues Abkommen zwischen Washington und Moskau über die Köpfe der Menschen in der Ukraine und anderen kleineren oder schwächeren Staaten hinweg abzielt? Putins Einmarsch hat offenbar die Unterstützung für die NATO nicht nur in Osteuropa, sondern beispielsweise auch in Finnland gestärkt.

Wir können keinen dauerhaften Frieden erreichen, indem wir die Blöcke reformieren. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung muss das Herzstück des globalen Friedens sein. Die Ansicht, dass die Krise durch eine neue Beziehung zwischen Russland und dem Westen gelöst werden kann, ist nicht die richtige Herangehensweise an das Problem. Zwischen dem Westen und Russland gibt es viele Länder. Russland hat einundzwanzig Militärstützpunkte und -einrichtungen außerhalb seiner eigenen Grenzen, achtzehn davon in unabhängigen ehemaligen Sowjetstaaten. Diese fungieren für den Kreml als Gendarm der gesamten Region.

Die Ukraine ist gefangen zwischen zwei regionalen Militärmächten, die ihre jeweiligen regionalen Integrationsprojekte schützen. Da sind zum einen Russlands Eurasische Wirtschaftsunion und seine Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, ein Militärbündnis, das vor kurzem in Kasachstan in Aktion getreten ist. Daneben gibt es bilaterale Vereinbarungen, die Russland mit einer ganzen Reihe anderer Länder, darunter China, getroffen hat. Das von den Vereinigten Staaten geführte NATO-Bündnis garantiert die militärische Sicherheit der Europäischen Union und beteiligt sich an Kriegen östlich und südlich der Russischen Föderation. Diese beiden regionalen Integrationsprojekte sind seit langem auf dem Vormarsch, und nun kommt es zu einer Konfrontation. Die Ukraine steht dabei im Mittelpunkt dieses Konflikts, denn für russische multinationale Unternehmen und den russischen Staat führt der Weg zur Anerkennung als transnationale Akteure über die Ukraine, was Investitionen, Handel, Schulden, Verkehr, Kommunikation etc. betrifft. Russland versucht, eine enge Zusammenarbeit mit dem deutschen Kapital aufzubauen. Das schreckt die USA auf, da ihre Macht, jedenfalls in Europa, geschwunden ist und sie die Initiative verloren hat. Zwischen diesen beiden Mühlrädern der großen regionalen Integrationsprojekte wird die Ukraine zerrieben.

      
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Ich bin kein außenpolitischer Regierungsberater, sondern möchte zeigen, dass man die Situation auch anders betrachten kann als durch die Brille der Regierungen. Dafür müssen wir uns auf die Grundprinzipien verständigen. Das bedeutet erstens, dass jedes Land das Recht hat, sich selbst zu verteidigen, aber alle seine militärischen Kräfte, die außerhalb des eigenen Landes stationiert sind, abziehen sollte. Zweitens, dass wir abrüsten und die Offensivwaffen reduzieren und vernichten müssen. Mit solchen Angriffsraketen werden gerade die Stadtzentren angegriffen. Wir müssen darüber nachdenken, wie eine Zusammenarbeit und Vernetzung der Bevölkerung geschaffen werden kann, d. h. Bürger-, Sozial- und Menschenrechtsbewegungen, Arbeitskollektive und Gewerkschaftsorganisationen über die Grenzen hinweg, um gegenseitiges Vertrauen und Unterstützung aufzubauen, anstatt uns ausschließlich auf die Regierungen zu verlassen. Wenn wir anfangen, ein solches Konzept zu entwickeln, können wir vielleicht zeigen, dass es einen anderen Weg gibt, das Problem anzugehen, als nur das Kräfteverhältnis zwischen den Staaten zu betrachten. Das soll uns freilich nicht davon abhalten, Druck auf die Staaten auszuüben und für eine andere Regierungspolitik zu kämpfen.

Im Moment können die Ukrainer jedoch nicht an den Diskussionen über einen dauerhaften zukünftigen Frieden teilnehmen. Das muss später geschehen, nach dem Ende des Krieges. Sie fordern ein sofortiges Ende der Aggression gegen sie und bitten verzweifelt um Hilfe von denen, die angeblich auf ihrer Seite stehen. Sie sind zunehmend frustriert über die Unfähigkeit der westlichen Staaten, ihnen zu helfen, aber sie machen sich keine Illusionen über die NATO oder darüber, wessen Interessen sie letztendlich dienen wird. Sie sind sich der praktischen Hilfe, die ihnen von Bürger-, Gewerkschafts- und Menschenrechtsorganisationen sowie Wohltätigkeitsorganisationen zuteil wird, durchaus bewusst und dankbar dafür. Diese Hilfe trägt dazu bei, Leben zu retten. Unsere Aufgabe ist es, an ihrer Seite zu stehen, Verbindungen zu ihnen aufzubauen und aufrechtzuerhalten und zu fordern, dass Putins Regime die Massaker beendet. Diese Verbindungen, die wir jetzt mit ihnen knüpfen, werden die Grundlage für spätere tiefgreifende Diskussionen und Entscheidungen über den langfristigen Frieden bilden.

Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz