Ukraine

Zur Logik von Putins Ukraine-Krieg und den Folgen

Sicher hat die NATO-Osterweiterung die Blockkonfrontation aufrechterhalten und sogar verschärft. Doch die konkreten Gründe für den Krieg gegen die Ukraine liegen ausschließlich in der imperialistischen Politik der Herrschenden in Russland.

Jakob Schäfer

Nicht nur in den Mainstream-Medien, sondern auch in weiten Kreisen der Linken wird die Erklärung des Konflikts in der Person Putins gesucht. Damit wird aber weder das Interesse der in Russland herrschenden Klasse erklärt noch die Blockkonfrontation verständlich gemacht, der Hintergrund für die Kriegsentscheidung des Kremls.


Ursachen der Blockkonfrontation


Für das Verständnis der besonderen Spannungen zwischen Russland und der Nato muss man erklären, warum dies weit über die üblichen Differenzen und Spannungen zwischen Wettbewerbsstaaten hinausgeht. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990/91 wurde eine weitreichende Änderung der geopolitischen Konstellationen eingeleitet. Die Freude der Herrschenden im Westen war vor allem deswegen so groß, weil man davon ausging, dass sich daraus für das imperialistische Kapital nicht nur eine beträchtliche Markterweiterung ergibt, sondern sich auch neue Anlagefelder für Auslandsdirektinvestitionen (ADI) eröffnen. Nicht zuletzt versprach man sich einen direkten – sehr lukrativen – Zugriff auf die bedeutenden Energiequellen und andere Bodenschätze. Das Kalkül war: Die betriebswirtschaftlich unfähigen Bürokraten können solche großen Geschäfte gar nicht privatwirtschaftlich bewältigen und werden dem anlagesuchenden Kapital die Tore öffnen. In gewisser Weise lief dies in den anderen Comecon-Staaten so (vor allem in Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Polen, und zwar in dieser Rangfolge), aber das war in seiner Größenordnung in keiner Weise vergleichbar mit dem, was man sich in Russland erhoffte.

Das auf Auslandsmärkte und Anlagefelder drängende imperialistische Kapital und die entsprechenden Regierungen (nicht nur in den USA) unterschätzten allerdings die Wandlungsfähigkeit der Staatsbürokratie in diesen Ländern, vor allem in Russland. Diese hatte schon vorher durch Korruption beträchtlichen Reichtum angesammelt und sich in eine kapitalistische Klasse transformiert. Entscheidend aber: Die Bürokraten waren nicht auf den Kopf gefallen und haben ihren Bereicherungstrieb in der Weise eingesetzt, dass sie sich mit Mafiamethoden Staatsvermögen aneigneten, indem sie große Anlagen für einen „Knopf und einen Klicker“ kauften. Damit wurden in kürzester Zeit neue Rechtsverhältnisse geschaffen.

Für diese neue Großbourgeoisie funktionierte der Übergang recht gut, weil mit dem Export von Rohstoffen gewaltige Summen eingespielt wurden, was sowohl den neuen Eigentümern viel einbrachte, als auch dem Staat genügend Mittel verschaffte, um seine innen- und außenpolitischen Ziele zu verfolgen. Die Staatsspitze und die sogenannten Oligarchen blieben eng vernetzt (unmittelbarer als in den westlichen „Demokratien“, weshalb der Begriff „Oligarchie“ überhaupt eine gewisse Berechtigung hat). Letztlich aber behielt bei dieser Konstellation die zentrale Staatsmacht die Kontrolle und konnte jederzeit einen Oligarchen entmachten, wenn er sich nicht mehr angepasst verhielt (siehe Michail Borissowitsch Chodorkowski, der 2003 entmachtet wurde und ins Gefängnis wanderte).


Schocktherapie


Gleichzeitig zur Auflösung des Warschauer Pakts und des RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, international auch Comecon) wurde nach den Regeln des Washington-Consensus des IWF eine regelrechte Schocktherapie durchgesetzt: Liberalisierung, Stabilisierung und Privatisierung. Besonders die Liberalisierung der Preise hatte mit dem gravierenden Anstieg der Inflation verheerende Folgen für breite Bevölkerungsschichten (mindestens 12 Prozent leben dauerhaft unter der Armutsgrenze).

Allerdings kamen damit drei Dinge zusammen:

Erstens: Entscheidende Teile der russischen Staatsbürokratie rissen sich wesentliche Teile des staatlichen Anlagevermögens unter den Nagel und setzten eine mafiöse Wirtschaftspolitik durch. Dies entsprach nicht dem Washington-Consensus und erst recht nicht den Wünschen des westlichen Kapitals.

Zweitens: In Russland setzte aufgrund der abrupten Brüche zunächst eine gravierende Wirtschaftskrise ein, die 1998/1999 ihren Tiefpunkt erreichte.

Drittens: Parallel dazu wurde zwar eine gewisse „Friedensdividende“ realisiert (die weltweiten Rüstungsausgaben gingen ein paar Jahre lang in Relation zum Welt-BIP zurück), aber die russische Staatsmacht behauptete sich nicht nur als innenpolitischer Garant der herrschenden Klasse in Russland, sondern auch als geopolitisch bedeutsamer Player. Dies war nur möglich, weil Russland seine Atomwaffen behielt (die in der Ukraine stationierten Atomwaffen wurden abgezogen).

Die Kombination dieser Faktoren ließ also eine Übernahme bedeutender russischer Rohstoffquellen (wovon die Gas- und Ölquellen nur die wichtigsten sind) durch das anlagehungrige Kapital des Westens nicht zu. So konnte sich zwar die neue russische Großbourgeoisie gut bereichern und im Verbund mit dem Kreml ihre Macht absichern. Gleichzeitig wurde dies aber auch zu einer starken Verengung der wirtschaftlichen Basis dieser Klasse. Wenn wir die wichtigsten Produkte zusammenrechnen, dann stellen die extraktiven Sektoren zusammen mindestens 75 % aller Exporte: Rohstoffe und Energie 53,8 %; Metall und Metallerzeugnisse 11,2 % (Russlands Weltmarktanteil an Palladium beträgt übrigens 40 %); Holz und Zellstoffe 3,6 %; Lebensmittel und Rohstoffe für deren Herstellung 7,2 %). Bei den 75 % sind die Exporte von chemischen Erzeugnissen (7,6 %), die ja ebenfalls zu einem großen Teil auf extraktiver Industrie beruhen, noch nicht mal mitgerechnet. Der Maschinen- und Anlagenbau kommt bei den Exporten gerade mal auf 6,3 % (alle Zahlen für 2021). [1] Die viel beachteten russischen Waffenexporte spielen zwar geopolitisch eine gewisse Rolle, für die russische Wirtschaft bilden sie aber mit einem Exportanteil von 2 % keine bedeutende Stütze.

Aus der starken Konzentration auf extraktive Industrien ergibt sich die hohe Verwundbarkeit der russischen Wirtschaft, was letztlich einer der Gründe ist, warum der Ukrainekrieg für den westlichen Imperialismus zu einem gewissen Glücksfall geworden ist: Mittelfristig eröffnet sich ihm hiermit die Aussicht auf einen Zusammenbruch der russischen Wirtschaft, sodass sich dann die Chance eröffnet, doch noch den direkten Zugriff auf die Rohstoffe zu bewerkstelligen. Mindestens aber kann die hiesige Waffenindustrie (v. a. in den USA) auf absehbare Zeit einen gewaltigen Reibach machen, während des Kriegs die eigenen Waffen testen usw. Aus diesen Gründen können wir nicht davon ausgehen, dass die Regierungen vor allem in Washington, London und Paris an einer baldigen Waffenruhe interessiert sind (für London ist dieses mörderische Kalkül inzwischen mehrfach belegt worden). Und dass Biden auf einen Regimewechsel (System Change) setzt, hat er ja mit seiner Rede in Polen deutlich gemacht.


Die Logik der jeweiligen militärischen Machtpolitik


Die jeweilige militärische Machtpolitik der NATO auf der einen und Russlands auf der anderen Seite basiert auf unterschiedlichen ökonomischen Expansionsmodellen. Der Westen (in dem Fall vor allem die NATO) wollte und will weiterhin Russland unter Druck setzen, ohne natürlich einen Weltkrieg zu riskieren. Dazu dient unter anderem die NATO-Osterweiterung, wobei dies dem Westen spätestens seit dem ersten Tschetschenienkrieg (1995–2000) sehr leicht gemacht wurde und wird. Damit war nämlich allen Anrainerstaaten (vor allem im Baltikum), aber auch in Ostmitteleuropa klar, dass der großrussische Chauvinismus und Imperialismus sich wieder verstärkt hatte. Im Grunde war dies den Bevölkerungen in Osteuropa immer präsent (Einmarsch in Ungarn 1956, Einmarsch in der Tschechoslowakei 1968; aber auch der Einmarsch in Afghanistan 1979 hatte seine politischen Auswirkungen in Osteuropa). Mit dem Tschetschenienkrieg war das großrussische, imperialistische Bestreben wieder so handgreiflich nah und hochaktuell, dass die Regierungen dieser Staaten von sich aus (da musste die NATO gar keine große Überzeugungsarbeit mehr leisten) in die NATO und in die EU drängten. Aktuell sind es aus gleichen Gründen gerade Moldawien und die Ukraine, Finnland stellt seine bisherige Neutralitätspolitik infrage usw.

In der Logik des Machtanspruchs der herrschenden Klasse in Russland bedeutete die Blockkonfrontation, dass Putin (der starke Mann der sog. Oligarchen) die Osterweiterung der NATO als eine Bedrohung begriff, vor allem im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer Waffen, die letztlich darauf abzielen, Russland erpressbar zu machen. Die Stationierung solcher Waffen nahe der russischen Grenze verfolgte ohne jeden Zweifel genau dieses Ziel. Parallel zur Abwehrhaltung gegen die NATO-Osterweiterung verstärkte die russische Regierung ihre Einsätze im Nahen Osten und in Afrika (hier vor allem mit Hilfe der Söldner-„Gruppe Wagner“). Auch das Bündnis mit Erdogan ist Teil dieser Strategie, sich als geopolitischer Machtfaktor zu behaupten.

Es liegt in der Logik der Blockkonfrontation der zwei imperialistischen Blöcke mit ihren unterschiedlichen Kapitalverwertungsstrategien, dass Putin als Vertreter des wirtschaftlich, geopolitisch und militärisch schwächeren Blocks sein Einflussgebiet erweitern oder zumindest behaupten will. Er drückte es so aus: Russland müsse respektiert werden. Kurz: Die NATO ist an der Blockkonfrontation beteiligt, aber die konkrete Schuld an diesem Krieg liegt unmissverständlich beim Kreml!


Die Folgen


a Die Folgen für die Weltwirtschaft sind Mitte April 2022 in ihren Dimensionen noch nicht zu überblicken, sind aber in jedem Fall gravierend. Sie betreffen durch die Energiepreisentwicklung die gesamte Weltwirtschaft (in Asien, Afrika und Lateinamerika möglicherweise noch mehr als in Europa). Eine konkretere Abschätzung der mittelfristigen Folgen wird einigermaßen verlässlich frühestens im Mai/Juni möglich sein.

Neben den Auswirkungen auf den Energiesektor gibt es eine zweite Ebene, die sich recht schnell auswirken kann. Der Unterschied der drohenden wirtschaftlichen Klemme Russlands zur Lage 1998 ist folgender: Am 17. August 1998 war der Staat pleite und musste die Bedienung der Binnenschulden einstellen. Heute ist die russische Wirtschaft nicht von sich aus in die Krise geraten: Schließlich konnten auf Basis der extraktiven Wirtschaft Zentralbankreserven in Höhe von über 630 bis 640 Mrd. US $ angehäuft werden; diese sind aber fast bis zur Hälfte im Ausland angelegt und dort inzwischen im Rahmen der Sanktionen eingefroren. Heute wirkt das Abschneiden vom internationalen Zahlungsverkehr verheerend, auch wenn die Öl- und Gaslieferungen (Stand 13.4.) noch weiterlaufen. Das Ausschließen bestimmter russischer Banken vom internationalen Zahlungsverkehr hat zur Folge, dass Russland im Rating bei Fitch, S&P und vor allem bei Moody’s auf Ramschniveau oder nur unwesentlich darüber eingestuft ist. Trotz gegenteiliger Behauptungen westlicher Banken kann sich daraus sehr wohl ein internationaler Finanz-Crash entwickeln.

b Konkret für Deutschland bedeutet der Krieg neben den weltwirtschaftlichen und energiepolitischen Folgen einen Einschnitt auf zwei weiteren Ebenen, die hier gravierender sind als für das Kapital in den Ländern des Globalen Südens: Viele Lieferketten aus Russland und vor allem der Ukraine werden nachhaltig gekappt und können nicht von heute auf morgen (d. h. nicht innerhalb von Wochen, in vielen Fällen auch nicht einmal innerhalb von Monaten) einfach mal woanders aufgetan werden. Einige dieser ADI sind auf mittlere Sicht mehr oder weniger wertlos.

c Mit diesem Krieg hat der Rüstungswettlauf einen neuen Schub bekommen, nicht nur in Europa (gerade hat China eine Steigerung seiner Rüstungsausgaben um 7,1 Prozent beschlossen – und das trotz niedrigerem Wirtschaftswachstum). Je nach Verlauf des Ukrainekriegs könnte dies sogar eine direkte Auswirkung auf Pekings Übernahmegelüste in Richtung Taiwan und die damit verbundene Kriegsgefahr haben. Für Deutschland hat der SPD-Kanzler ein gewaltiges Aufrüstungsprogramm von 100 Mrd. € angekündigt. Schon bisher ist der deutsche Rüstungshaushalt (je nach Quelle) der siebt- bis sechstgrößte der Welt. Der Schub wird sich auch auf die Aufrüstung in anderen Ländern auswirken.

d Die Folgen für den Kampf gegen den Klimawandel sind verheerend, und zwar durch das unmittelbare Kriegsgeschehen, durch die enorm wachsende Staatsverschuldung wegen der Hochrüstung (nicht nur in Deutschland), durch die verstärkte Nutzung von Kohle und Atomenergie, was zu Lasten des Ausbaus erneuerbarer Energien geht, usw.

e Zurzeit (Mitte April) ist die spannendste Frage gleichzeitig diejenige, die am schwersten abzuschätzen ist: Wird Putin diesen Krieg überstehen? Neben dem außenpolitischen Druck (Sanktionen usw.) wirken in jedem Fall zwei Faktoren: Wie lange machen die Oligarchen mit? Für manche erscheint es jetzt schon als ein nicht zu vertretendes Abenteuer. Und: Wie wird sich der Widerstand in der Bevölkerung entwickeln? Selbst wenn Putin nicht in unmittelbarer Folge dieses Kriegs stürzt, seine politische Position wird mit diesem Krieg in jedem Fall stark untergraben, seine Stellung wird nicht mehr die sein wie vor dem Krieg.


Die Motivationen bei den Anti-Putin-Protesten


Die Motivationen bei den Friedenskundgebungen sind extrem disparat und zu bestimmten Fragen völlig entgegengesetzt. Es sind in vielen Fällen noch nicht mal wirkliche Anti-Kriegs-Proteste, sondern vorrangig Anti-Putin-Proteste. Unter dem Dach der Proteste gegen „Putins Krieg“ finden sich nicht wenige Menschen, die nach Waffenlieferungen für die Ukraine schreien, die die Aufrüstung der Bundeswehr gut finden, die die NATO-Osterweiterung vorbehaltlos unterstützen usw. Es ist klar, was sich bei diesem Teil der Kundgebungsteilnehmer*innen alles mischt: Es ist auf der einen Seite zwar durchaus der Wille, dass der Krieg aufhöre, aber es ist ganz stark auch von – die Wirklichkeit verkennenden – antikommunistischen Motiven und von Russenfeindlichkeit (als eine besondere Form der Xenophobie) bestimmt. Am penetrantesten ist hier ein Großteil der ukrainischen Kundgebungsteilnehmenden, die beispielsweise nach einer Flugverbotszone – und damit nach einem faktischen direkten Kriegseintritt der Nato – rufen. Dennoch: Den Bürgerlichen und den Kriegstreibern das Feld bei den Antikriegsprotesten zu überlassen, wäre völlig falsch. Es muss eine in sich konsistente linke Antikriegsbewegung aufgebaut werden.


Welche Aufgaben stellen sich uns?


Geschichtliche Vergleiche hinken meistens, in diesem Fall – angesichts der drohenden Gefahr einer Eskalation und/oder eines sich endlos hinziehenden Zermürbungskriegs – sind Versuche, Parallelen zu ziehen, zumeist sehr irreführend. Die geopolitisch anderen Konstellationen heute und vor allem die Zerstörungskraft moderner Waffensysteme verbieten es, die Frage der Bewaffnung des angegriffenen Staates als die entscheidende Stellschraube im Kampf gegen den Aggressor anzusehen.

Wer Menschenleben achtet und retten will muss sich folgende Fragen stellen: a.) Wie kann dieser hasserfüllte, mörderische Krieg so schnell wie möglich gestoppt werden? b.) Wie kann eine mittelfristige Lösung der durch den Krieg gesteigerten Ablehnung des jeweils anderen Landes gefunden werden? Anders ausgedrückt: Wie ist überhaupt eine Verständigung vorstellbar und auf mittlere Sicht realisierbar? – Ganz bestimmt nicht, indem der Krieg fortgesetzt und eskaliert wird (von der Zerstörung der Infrastruktur und der möglichen Beschädigung von Atomanlagen noch gar nicht zu reden).

Sich seit Jahrzehnten gegen Waffenexporte auszusprechen, aber ausgerechnet dann – wenn es um einen „heißen Konflikt“ geht – davon abzurücken, geht gar nicht. Wir müssen uns schon die Mühe machen, zu erklären, dass Waffenexporte nicht deeskalieren, sondern nur eskalieren (möglicherweise sogar bis zu einem Atomkrieg);

Der soziale Widerstand setzt auf Aktionen zivilen Ungehorsams: Störung des Verwaltungsmaschinerie der Besatzungsmacht, Kundgebungen, Demonstrationen, Streiks. Ein solche Perspektive ist allerdings praktisch unmöglich, seitdem und solange die Menschen dem mörderischen Bombenhagel ausgesetzt sind. Dies hätte wohl eine größere Chance gehabt, wenn die Bevölkerung, vor allem die Arbeiter*innenklasse, von vornherein so gut organisiert gewesen wäre, dass die ukrainische Armee gar nicht erst zum Zug gekommen wäre und nicht hätte schießen können. Dass ein sozialer Widerstand (der also nicht auf bewaffnete Auseinandersetzungen mit der eindringenden Armee gesetzt hätte) nicht von vornherein unmöglich ist, zeigen die Demonstrationen in der südukrainischen Großstadt Cherson am 11., 12. und 13 März (https://t.me/suspilnekherson/9271). Auf dem zentralen Freiheitsplatz schwenkten die Menschen ukrainische Flaggen und riefen „Cherson gehört der Ukraine“ und „Ruhm der Ukraine“. Als die Demonstranten an einer Kolonne russischer Armeefahrzeuge vorbeiliefen, riefen einige auf Russisch „Geht nach Hause“ und „Faschisten“. Der 13. März ist in der Großstadt mit rund 300.000 Einwohnern der Jahrestag der Befreiung von den Nationalsozialisten. Auch in Nova Kachowka, Berdjansk, and Melitopol gab es laut Suspilne Cherson Demonstrationen.

Den sozialen Widerstand als die wirkungsvollste, lebensschonende Gegenwehr zu propagieren, heißt nicht, den Menschen in der Ukraine das moralische Recht abzusprechen, sich auch bewaffnet zur Wehr zu setzen. Aber wie die Entwicklung nach sieben Wochen Krieg blutig demonstriert hat, ist es in einem Krieg mit so vielen High-Tech-Waffen und so viel Zerstörungskraft kontraproduktiv, sich auf einen bewaffneten Krieg einzulassen. Damit sterben viele Menschen, ohne dass eines der politischen Probleme auch nur im Ansatz gelöst wird. Im Gegenteil, die Gräben zwischen den Bevölkerungen der beiden Länder werden damit nur tiefer, es sterben unzählige Menschen und das wird wohl auch so schnell nicht enden. Der Misserfolg der russischen Armee führte schon nach zwei Wochen zu einer mörderischen Bombardierung der Zivilbevölkerung. Was hat die ukrainische Bevölkerung damit gewonnen?

Auch der soziale Widerstand ist kein Spaziergang, aber er verhindert auf jeden Fall das Abschlachten von Tausenden von Menschen in Mariupol und anderswo. Die Besatzungsmacht im Land politisch zermürben und den Schulterschluss mit der russischen Bevölkerung – und den russischen Soldaten! – zu suchen, wäre erfolgversprechender gewesen, als das, was den Menschen heute widerfährt. Die unmittelbaren politischen Ziele sollten sein: Stopp aller Kampfhandlungen! Für eine neutrale Ukraine! Mittel- und langfristig geht es um den Sturz der Herrschenden in Russland und in der Ukraine! Sowie: Umfassende Abrüstung und zwar auf russischer wie auch auf NATO-Seite.

      
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Erklärung ukrainischer Sozialist*innen: Internationale Solidarität gegen den Krieg!, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online)
Internationales Komitee der IV. Internationale: Resolution zur Ukraine, Inprekorr Nr. 3/2015 (Mai/Juni 2015)
 

Auch der soziale Widerstand ist kein Spaziergang, aber er verhindert auf jeden Fall das Abschlachten von Tausenden von Menschen in Mariupol und anderswo. Die Besatzungsmacht im Land politisch zermürben und den Schulterschluss mit der russischen Bevölkerung – und den russischen Soldaten! – zu suchen, wäre erfolgversprechender gewesen, als das, was den Menschen heute widerfährt. Die unmittelbaren politischen Ziele sollten sein: Stopp aller Kampfhandlungen! Für eine neutrale Ukraine! Mittel- und langfristig geht es um den Sturz der Herrschenden in Russland und in der Ukraine! Sowie: Umfassende Abrüstung und zwar auf russischer wie auch auf NATO-Seite.

Noch ein klärendes Wort, um Missverständnisse zu vermeiden: Wenn Kurt Tucholsky schreibt: „Jeder Krieg ist eine Niederlage. Denn Krieg vernichtet Leben.“, dann ist dem – bezogen auf den Krieg zwischen Staaten – zuzustimmen. Im Unterschied zu den Pazifisten wollen wir aber festhalten, dass der bewaffnete Kampf einer Befreiungsbewegung gegen eine kolonialistische/imperialistische Macht nicht nur gerechtfertigt ist, sondern zumeist auch der einzige Erfolg versprechende Weg ist. Im Kampf der kurdischen Selbstverteidigungskräfte gegen die türkische Besetzung von Rojava darf es überhaupt kein Wackeln geben. Zu keinem Zeitpunkt haben die revolutionären Kräfte in Rojava ihren Kampf in der Erwartung geführt, dass Teile der Welt um ihretwillen in einem Inferno unterzugehen bereit sein müssten. Die herrschenden Klassen der Ukraine haben von Anfang an auf die letztendliche Überlegenheit der Nato über die russische Armee gesetzt – koste es die Menschen Europas, einschließlich ihrer eigenen Bevölkerung, was es wolle.


Und bei uns?


Im Grund lässt sich aus der mit dem Krieg entstandenen Lage ein ganzes sozialpolitisches und ökologisches Programm ableiten, für das es zu kämpfen gilt. Nehmen wir nur ein paar wenige Beispiele, die sich in der täglichen Argumentation gut begründen lassen:

In den Gewerkschaften sollten wir uns für direkte Patenschaften mit gewerkschaftlichen Kollektiven in der Ukraine stark machen. Obenan muss aber – auch in den hiesigen Gewerkschaften – der antimilitaristische Kampf für Abrüstung und Austritt aus der NATO und deren Auflösung stehen.

13. 4. 2022



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2022 (Mai/Juni 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz


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