Klima

„Das Schlimmste kommt erst noch …“

Worum es geht: Klima – Leben – wir und unsere Nachkommen. Der Kampf dafür ist unabdingbar, und zwar jetzt!

Daniel Tanuro

„Das Leben auf der Erde kann sich von einem drastischen Klimaumschwung erholen, indem es neue Arten hervorbringt und neue Ökosysteme schafft. Menschen können das nicht.“ – so heißt es in der Zusammenfassung des Berichtsentwurfs des Weltklimarats (IPCC), der als vollständiger Sachstandsbericht für den Februar 2022 erwartet wird.

Der Text ist eindeutig, was die Gefahrenschwelle betrifft, die nicht überschritten werden darf: Ein Überschreiten des 1,5°C-Ziels wird „schrittweise zu schwerwiegenden, jahrhundertelangen und teilweise irreversiblen Folgen“ führen. Neben anderen Phänomenen wäre das Abschmelzen des grönländischen und westantarktischen Eisschildes auf der historischen Zeitskala irreversibel. Das Verschwinden der bedrohten Gletscher in diesen Regionen (für einige Glaziolog*innen hat der Prozess bereits begonnen und wird weitergehen) würde den Meeresspiegel in den kommenden Jahrhunderten um etwa 13 Meter ansteigen lassen.

Im Pariser Abkommen wurde das Ziel festgelegt, „die Erwärmung deutlich unter 2°C zu halten und gleichzeitig die Anstrengungen aufrecht zu erhalten, die 1,5°C nicht zu überschreiten“. Die IPCC-Expert*innen sind mit dieser zweideutigen Formel jedoch nicht zufrieden. Dem Text zufolge sollten wir deutlich unter 1,5°C bleiben, denn „selbst bei 1,5°C werden sich die Lebensbedingungen über die Anpassungsfähigkeit einiger Organismen hinaus verändern“, heißt es in dem Bericht. Zur Erinnerung: Der durchschnittliche Temperaturanstieg seit dem vorindustriellen Zeitalter liegt bereits bei 1,1°C und die Weltorganisation für Meteorologie warnt, dass bei den derzeitigen Emissionsraten ein 40-prozentiges Risiko besteht, dass der Schwellenwert von 1,5°C bereits im Jahr 2025 überschritten sein wird.

„Das Schlimmste kommt erst noch und wird das Leben unserer Kinder und Enkel viel mehr betreffen als unseres“, schreibt der IPCC. Ohne strikte, einschneidende Maßnahmen werden in zehn Jahren weitere 130 Millionen Menschen von extremer Armut betroffen sein. Bei einer Erderwärmung um 2°C werden bis 2050 zusätzlich 80 Millionen von Hungersnot betroffen und Hunderte von Millionen Menschen in den Küstenstädten wegen zunehmender Flutkatastrophen zur Flucht gezwungen sein. Selbst bei 1,5°C mehr werden etwa 350 Millionen Bewohner*innen von Ballungsräumen mit Wassermangel zu kämpfen haben.

Man kann nicht oft genug darauf verweisen, dass die Armen und die armen Länder am meisten von der zunehmenden Katastrophe betroffen sein werden. Der Berichtsentwurf stellt fest, dass „die Anpassungskosten für Afrika bei einer Überschreitung der 2°C-Grenze voraussichtlich um zig Milliarden Dollar pro Jahr steigen werden“. Wer wird dafür zahlen? Zur Erinnerung: Mehr als zehn Jahre nach der COP in Cancún (2010) haben die reichen Länder immer noch nicht ihr Versprechen eingelöst, jährlich 100 Mrd Dollar in den Klimafonds einzuzahlen, der den Ländern des globalen Südens helfen soll. Dies ist einer der Knackpunkte bei den Verhandlungen im Vorfeld der COP 26, die Ende des Jahres in Glasgow stattfinden soll. So wird mit der in den Führungsetagen der Finanzindustrie und Politik sorgfältig gewahrten Diskretion langsam ein beispielloses Verbrechen gegen die Menschheit vorbereitet. Ein Verbrechen an den Armen, die nahezu keine Verantwortung für den Klimawandel tragen!


Kämpfen …


Kopenhagen, 2015

Foto: kris krüg

Der Text, der der Presse zugespielt wurde, ist nicht der Berichtsentwurf selbst, sondern der Entwurf der Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger. Die übliche Praxis des IPCC – eines zwischenstaatlichen Gremiums, notabene – ist, dass diese Zusammenfassung Gegenstand von – oft heftigen – Verhandlungen zwischen den Wissenschaftler*innen, die den vollständigen Bericht geschrieben haben, und den Staatsvertreter*innen ist. Es liegt auf der Hand, dass diejenigen, die das Dokument durchsickern ließen, damit den Originaltext in Umlauf bringen wollten, bevor die Regierungsvertreter*innen die Aufweichung oder Streichung der bedrohlichsten Formulierungen durchgesetzt haben.

Diese Annahme ist sehr wahrscheinlich, da die kapitalistische Lobby der fossilen Industrien seit Jahrzehnten bemüht ist, die Gefahren zu leugnen oder kleinzureden, und über mächtige politische Hebel verfügt (China und Saudi-Arabien haben z. B. erreicht, dass die Presse und NGOs nicht bei den Vorbereitungsgesprächen für die COP 26 zugegen sind). Das Leck ist also ein doppeltes Alarmsignal: Es zeigt zum einen den extremen Ernst der objektiven Lage und zum anderen die Gefahr, dass die Schlussfassung diesen extremen Ernst teilweise vor der Weltöffentlichkeit verbergen wird.

Wie dem auch sei, wir kommen nicht daran vorbei, dass die sozialen Bewegungen mehr denn je mit aller Kraft Alarm schlagen und so breit wie möglich mobilisieren müssen, um die Staaten zu zwingen, sofort die radikalen Maßnahmen zu ergreifen, die unabdingbar sind, um die Erwärmung deutlich unter 1,5°C zu halten, und zwar sozial gerecht wie auch verantwortungsvoll gegenüber dem globalen Süden (strikte Einhaltung des Prinzips der „gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung“). Ohne Taschenspielertricks, ohne „temporäre Überschreitung“ der Klimaziele, ohne Rückgriff auf „Zauberlehrlings-Technologien“ und ausschließlich unter Einsatz von Maßnahmen, die mit dem zwingend gebotenen Schutz der Biodiversität vereinbar sind.


… statt der Politik zu trauen!


Machen wir uns nichts vor: Die Regierungen haben ganz anderes im Sinn, wenn sie uns bis 2050 „CO2-Neutralität“ (oder „Netto-Null-Emissionen“) versprechen. Im günstigsten Fall bescheren uns diese Regierungen ein Szenario der „temporären Überschreitung“ der 1,5°C bei gleichzeitiger Zunahme „kohlenstoffarmer Technologien“ (im Klartext: Atomkraft) und dem Einsatz von sogenannten „negativen Emissionstechnologien“. Obwohl sich die meisten dieser Technologien noch im Anfangs- oder Versuchsstadium befinden, wird uns weisgemacht, dass sie den Planeten abkühlen können, indem sie in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts riesige Mengen an CO2 aus der Atmosphäre entfernen und unterirdisch speichern. In Wahrheit dienen diese Science-Fiction-Szenarien nur dazu, die heilige Kuh des kapitalistischen Wachstums unangetastet zu lassen und die Profite der für den Schlamassel Hauptverantwortlichen zu schützen: die multinationalen Öl-, Kohle-, Gas- und Agrarkonzerne.

Der jüngste Bericht der Internationalen Energieagentur (IEA) über „Netto-Null-Emissionen“ weist dieser kriminellen Politik den Weg. Denn um im Jahr 2050 „Netto-Null-Emissionen“ erreichen zu können, ohne das Wirtschaftswachstum anzutasten, bräuchten wir laut IEA doppelt so viele Kernkraftwerke und müssten hinnehmen, dass ein Fünftel der weltweit erzeugten Energie weiterhin aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe stammt, wodurch 7,6 Gt CO2 pro Jahr emittiert werden. Diese 7,6 Gt CO2 müssten alljährlich abgeschieden und unterirdisch in geologischen Reservoirs (deren Wasserdichtigkeit nicht garantiert werden kann) gespeichert werden. Weiterhin müssten 410 Millionen Hektar für eine Monokultur zur Erzeugung von Biomasse umgewidmet (das entspricht einem Drittel der dauerhaft genutzten landwirtschaftlichen Anbaufläche!) und die Zahl der Megastaudämme verdoppelt werden. Überall müssten die Erdoberfläche und sogar der Mond umgepflügt werden, um die „seltenen Erden“ auszubeuten, die für die „grünen Technologien“ unverzichtbar sind, etc.

Diese wahnsinnige produktivistische Politik wird von den Ländern und Ländergruppen umgesetzt, die heutzutage zum „grünen Kapitalismus“ hin drängen ... Ihr Ziel ist nicht, den Planeten zu retten, sondern den Kapitalisten den größtmöglichen Marktanteil an den neuen Technologien zu sichern und die größtmögliche Teilhabe an den Profiten. Der Hinweis erübrigt sich, dass dabei auch die neoliberale Politik aufrecht erhalten und die sozialen und demokratischen Rechte abgebaut werden, um die Investitionen dem Kapital schmackhafter zu machen.


Die grünen Wasserträger des Systems


Die Absichtserklärung der belgischen Regierung, aus der Kernenergie auszusteigen, sollte keine Illusionen schüren, da dies an der neoliberalen Politik des „grünen Kapitalismus“ nichts ändert. Gaskraftwerke zu betreiben, um Atomkraftwerke zu ersetzen, ist ein Verbrechen gegen das Klima und eine Beleidigung für die Zehntausenden von jungen Menschen, die in unserem Land auf Greta Thunbergs Aufruf hin auf die Straße gegangen sind. Den Energiekonzernen, die diese überflüssigen und schädlichen Kraftwerke bauen werden, Millionen von Euro hinterher zu werfen, ist eine Beleidigung für die Hunderttausende von Arbeitern, deren Löhne immer weiter gedrückt werden. Das von diesen Kraftwerken produzierte CO2 abzuscheiden und im Meeresgrund der Nordsee zu speichern (auf wessen Kosten?) ist gegenüber zukünftigen Generationen genauso unverantwortlich wie das Einlagern von Atommüll in tiefen geologischen Schichten, wie in Bure (in Frankreich) oder anderswo. Und der Ablasshandel mit dem globalen Süden zum Erwerb von „Emissionsrechten“ zur CO2-Kompensation ist ebenso kolonialistisch wie die direkte Ausplünderung der Ressourcen dieser Länder zu Zeiten von Leopold II. und seinen Nachfolgern.

      
Mehr dazu
Daniel Tanuro: Am Rande des Abgrunds – und das Szenario, das der Weltklimarat nicht modelliert hat, die internationale Nr. 5/2021 (September/Oktober 2021)
Daniel Tanuro: Das ist keine Naturkatastrophe, SoZ-online, Juli 2021
Internationale Sozialistische Organisation: Systemversagen – kein Naturereignis!, die internationale Nr. 4/2021 (Juli/August 2021) (nur online)
Internationales Komitee der IV. Internationale: Resolution zu den Klimakämpfen und COP26, die internationale Nr. 3/2021 (Mai/Juni 2021)
Daniel Tanuro: Der Klimawandel lässt sich nur auf der Straße bekämpfen, die internationale Nr. 1/2020 (Januar/Februar 2020)
Daniel Tanuro: Von COP zu COP kommt die Katastrophe näher, die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019) (nur online)
 

Was wir brauchen, ist eine andere Politik. Eine soziale und ökologische Politik, die mit diesem kapitalistischen Wachstum bricht, das so viel Ungleichheit und Zerstörung erzeugt und immer mehr Ungleichheit und Zerstörung erzeugen wird. Der Produktivismus ist eine Sackgasse. Es ist höchste Zeit, für uns und vor allem für unsere Kinder die Mauern einzureißen, die uns daran hindern, eine andere, lebenswerte Zukunft zu erfinden. Der Weg zu einem besseren Leben, zu einem guten Leben – Buen vivir – der Weg zu einer möglichen und wünschenswerten Zukunft besteht darin, weniger zu produzieren, weniger zu konsumieren, weniger zu transportieren, mehr zu teilen und sich zu kümmern. Teilen von Reichtum, notwendiger Arbeit, Zeit und Raum, auf globaler Ebene; Fürsorge für Menschen, andere Lebewesen und Ökosysteme, auf globaler Ebene. Entweder machen wir diesen antikapitalistischen Weg durch unsere Kämpfe und durch die Verknüpfung unserer Kämpfe frei, oder wir werden weiter in der Finsternis einer schrecklichen Katastrophe versinken. […]

Aus: gauche anticapitaliste vom 24.6.2021
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 5/2021 (September/Oktober 2021) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz