Staat und Religion

Antizionismus gleich Antisemitismus?

Der Autor beleuchtet hier unterschiedliche Varianten eines (u. a. rassistischen) Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart, um eine differenzierte Sicht auf einen antikolonialistisch motivierten Antizionismus zu ermöglichen.

Paul B. Kleiser

Inzwischen wird auch von einem muslimischen Antisemitismus gesprochen. Sicherlich sollte man junge Muslime davon abhalten, vor Synagogen zu demonstrieren, doch ihre Wut und ihr Zorn richtet sich gegen die israelische Politik den Palästinenser*innen und Gaza gegenüber. Es ist der israelische Staat, der die Menschenrechte mit Füßen tritt! Die Antisemitismus-Beschuldigung stellt ein Ablenkungsmanöver der Israel-Freunde dar! [1]

Bei der Analyse der verschiedenen Formen von Judenfeindschaft empfiehlt es sich, genau auf die historischen Umstände zu achten. Nachdem unter Kaiser Konstantin das Christentum im Römischen Reich zur Staatsreligion wurde, gab es immer wieder Ausfälle gegen Juden und Jüdinnen. Denn zu wichtig war das Christentum als ideologischer Kitt für das Reich, als dass man andere Religionen ohne weiteres dulden konnte. Doch das Verhalten schwankte (schon aus wirtschaftlichen Gründen) zumindest bis zum 1. Kreuzzug 1096 zwischen Duldung und Akzeptanz. Erst ab dem 12. Jahrhundert verschlechterte sich die Lage der (europäischen) Juden, weil die mittelalterlichen Gesellschaften immer stärker in der Lage waren, wichtige Teile der Wirtschaft selbst zu organisieren. Die Juden wurden immer stärker in den Handel, den Wucher und das Zinsgeschäft abgedrängt, das Christen verboten war.

In der Zeit der Reformation stieg – mit der Bedeutung der Religion – auch die Ablehnung der Juden. Luther war ein großer Judenhasser; für ihn waren die Juden „Lügner und Betrüger“. Die klassischen Vorwürfe waren, die Juden seien „verstockt“, weil sie sich nicht taufen ließen und Christi „Wahrheit“ nicht anerkennen wollten. Später warf man ihnen auch ihre „Speisevorschriften“ (koscheres Essen) vor. Höhepunkt waren die Beschuldigungen, sie würden das Blut von christlichen Knaben trinken.


Antijudaismus und Maria Theresia


Es ist im Allgemeinen wenig bekannt, dass Kaiserin Maria Theresia (Kaiserin 1740–1780) eine heftige Judenhasserin war und hierin eine der Ursachen für den österreichischen (katholischen) Antijudaismus liegt. Im 19. Jahrhundert wurde sie auch gerne als Kronzeugin für den wachsenden Antisemitismus herangezogen, z. B. vom Deutschnationalen Georg von Schönerer oder dem Wiener Bürgermeister Karl Lueger (beide erklärte Antisemiten, Lueger wurde von Hitler in Mein Kampf als der „größte deutsche Bürgermeister“ bezeichnet). Auch der Primas von Österreich, Kardinal Theodor Innitzer (1875–1955), vertrat einen harten katholischen Antijudaismus; außerdem kann er als eine Stütze des österreichischen „Ständestaates“ gelten. Desweiteren befürwortete er den Anschluss des Landes an Großdeutschland.

In der christlichen Umwelt galten Juden seit dem Mittelalter als die Fremden und Feinde schlechthin – doch es gab in der konkreten Behandlung sehr große Unterschiede. Maria Theresias Leitlinie: „Ich kenne keine ärgere Pest von Staatt als diese Nation, wegen Betrug, Wucher und Geldvertragen, Leut in Bettelstand bringen, all üble Handlungen ausüben, die ein andre ehrlicher Mann verabscheute, mithin (sind) sie so vill sein kann, von hier abzuhalten und zu vermindern.“ (zit. nach Stollberg-Rilinger 2019, 634) Sie hatte wenig konkrete Erfahrungen mit Juden, denn in Wien waren sie damals selten – anders als in Prag. Ihre Minister und die Landstände teilen ihre Vorurteile im Allgemeinen nicht. In Brünn wollte sie wegen den Juden nicht bleiben. Und über die 40 000 Juden in Böhmen: „Ich gestehe, das erregt Angst und Abscheu“. Dabei hatten jüdische Bankiers 1741 zwischen ihr und Bayern vermittelt, um einen Krieg zu verhindern. Die Juden waren auf den Kaiser angewiesen, denn seit dem Staufer Friedrich II. galten sie als „kaiserliche Kammerknechte“ und erhielten vom Kaiser ihre Privilegien!

Als 1980 ihr 200. Geburtstag gefeiert wurde, hatte man diese dunklen Seiten ihrer Vita getilgt. Maria Theresia war die Urheberin der letzten großen Massenvertreibung von Juden vor der Französischen Revolution. 1744 war Prag vorübergehend von preußischen Truppen besetzt worden; nun wurde behauptet, sie hätten mit den Juden gemeinsame Sache gemacht und heimlich Kanonen aus der Stadt geschafft. Nach Abzug der Preußen rückten österreichische Husaren ein, plünderten das Judenviertel und zerstörten es. Auch in anderen Städten kam es zu Ausschreitungen; in Prag „gab es kein Haus, in dem nicht ein Toter oder Verwundeter oder Blutiggeschlagener“ war. (ibid. 637)

Doch es kam noch schlimmer: Maria Theresia erließ den Befehl, dass die überlebenden Juden zum 1. Januar die Stadt zu verlassen hätten (immerhin ein Viertel der Bevölkerung, die weitaus größte aschkenasische Gemeinde in Europa!). Die reicheren Juden aktivierten ihre Handelsnetze in ganz Europa, um das Unglück abzuwenden. Vor allem Graf Kinsky versuchte mit dem Argument, die Wirtschaft würde massiven Schaden erleiden, die Königin von ihrem Vorhaben abzubringen, doch ohne Erfolg. Sogar der Mainzer Kurfürst, der Papst und der Sultan intervenierten zugunsten der Juden. Dennoch mussten mehr als 10 000 Juden und Jüdinnen Prag verlassen und viele kamen zu Tode. Da die Böhmen nicht so recht mitziehen wollten, wurde die Aufgabe dem Militär anvertraut.

Doch der böhmische Handel lag weitgehend in jüdischer Hand; der Adel war auf die jüdischen Kaufleute angewiesen, um die Produkte seiner Güter zu vermarkten, und die Handwerker bezogen von ihnen die Rohstoffe. Es kam zu massiven Störungen der Wirtschaft. Nach vielem Hin und Her durften die Juden dann im September 1748 nach Prag zurückkehren – und eine „Toleranzabgabe“ von 300 000 Gulden bezahlen! Erst Maria Theresias Sohn (und Nachfolger) Joseph II. leitete eine andere, „aufgeklärte“ Politik ein.

Die angeblichen Ritualmorde: Das Anderl von Tirol

Alte Vorurteile bestehen bis heute weiter: Legenden von Ritualmorden (an kleinen Kindern) kursierten in Österreich und dem Rheinland. Ein bekanntes Beispiel ist Simon von Trient (1475). Oder das „Anderl von Rinn“ (Tirol): Im Jahre 1619, also im Dreißigjährigen Krieg, kam das Gerücht von einem Ritualmord auf (der aber lag bereits fünf Generationen zurück): Am 12. Juli 1462 hätten durchreisende jüdische Kaufleute das Kind Andreas Oxner von seinem Paten gekauft und zu Tode gefoltert. (Diese Geschichte erschien einem Arzt in Träumen, das reichte als Beweis aus.) Es wurde nach und nach ein Märtyrerkult aufgebaut, 1678 sodann ein „Judenstein“ errichtet, eine Kinderleiche als Reliquie dorthin überführt, ab 1744 im Hochaltar zur Schau gestellt. 1755 erließ Papst Benedikt XIV. die „Constitutio Beatus Andreas“ (Seligsprechung). Die Barockzeit war besonders anfällig für alle möglichen Formen des religiösen Wahns. Pilger*innen zum Anderl genossen (laut Papst) „einen ewigen vollkommenen Ablass“. Im Jahr 1803 wurde in Innsbruck „eine kurze Geschichte des unschuldigen Kindleins und wunderbaren Blutzeugen (!) Andreas von Rinn veröffentlicht (mit detaillierten Schilderungen der Marter zur Befriedigung der Sensationsgier der Pilger*innen). Sogar bei den Gebrüdern Grimm tauchte in ihren (volkstümlichen) Sammlungen der Tiroler „Judenstein“ auf. (Benz 2020, 29ff.)

Ende 19. Jahrhundert bemächtigte sich auch der moderne Antisemitismus des Stoffs: Der Wiener Geistliche Joseph Deckert veröffentlichte 1893 das Buch „Vier Tiroler Kinder Opfer des Chassidischen Fanatismus“ – diesmal mit Rassenantisemitismus. Die offizielle Katholische Kirche versuchte nach 1945, den Kult zu beenden. 1953 strich der Innsbrucker Bischof Paulus Rusch den Anderl-Gedenktag aus dem Festkalender. 1985 ließ Bischof Stecher die angeblichen Gebeine des Anderl aus dem Altar entfernen. Ein Wandbild in der Kirche Rinn wurde übermalt. 1988 verbot die Amtskirche die Verehrung des Anderl.

ABER: Katholische Fundamentalisten setzen die Verehrung fort – mit Prozessionen am 12. Juli und Feldmesse – Busreisen von überall her wurden organisiert. Motor war der Geistliche Gottfried Melzer (1932 – 2013, ein suspendierter Geistlicher, der wohl auch massive pekuniäre Interessen hatte). Er gab die Zeitschrift „Pro Fide Catholica“ heraus und wurde 1998 wegen „Volksverhetzung“ verurteilt – aber ihm zur Seite stand der damalige Bischof von St. Pölten, Kurt Krenn (1936–2014). Krenn war durch die Missbrauchs-Skandale in seinem Priesterseminar bekannt geworden. Die Fundamentalisten beharrten auf dem Wahrheitsgehalt der Anderl-Geschichte. Sie hat eine Brückenfunktion zu den Legenden von Fundamentalisten (FPÖ) und Rassisten!“ Und zu den Verschwörungsideologen der QAnon-Bewegung!

Eine Frau schrieb am 5. Juni 1989: „Ich will mich beim seligen Anderl bedanken. Ich habe ihm vier Wochen die Litanei gebetet und Veröffentlichung versprochen: Ich hatte an beiden Händen Gelenkrheuma. Die waren ganz dick geschwollen und schmerzten sehr. Im Krankenhaus konnten sie mir nicht helfen. Der Anderl hat mir zuhause schnell geholfen.“ Und es gab viele Dankesschreiben nach dem Ende des Kommunismus: „Wir schreiben diesen unblutigen Machtwechsel der Fürbitte Kaiser Karls und des sel. Andreas von Rinn zu.“

Wichtig ist, zu betonen, dass der katholische Fundamentalismus nie von seiner grundlegenden Absicht abgelassen hat, Europa zu „rekatholisieren“ (vgl. die Auftritte von Otto von Habsburg)! Der katholische Antijudaismus lehnte den Antisemitismus als „geschlossenes ideologisches Denkmodell“ ab, da er von einem (abgelehnten) „Primat der Rasse“ und nicht von der (richtigen) Religion ausging. Die „goldene Internationale“ der Juden sei genauso schädlich wie die „rote“ bzw. „schwarze Internationale“ der Arbeiterbewegung. Eigentlich hätten die Juden gar keine wirkliche Religion, sondern „einen Geschäftsvertrag mit Jehova“ und sie zahlten dem Gott „in Satzungen und Formeln“, der ihnen dafür ausdrücklich die angenehme Pflicht auferlegt, alles Nichtjüdische zu vertilgen“, so der Publizist Wilhelm Marr (1819-1904), ursprünglich ein Linker. (zit. nach Longerich 2021, 94)

Der Hostienfrevel

Ein weiterer – womöglich tödlicher – Vorwurf gegen Juden war der Hostienfrevel. Als Beispiel sei die „Deggendorfer Gnad“ genannt – ein Pogrom an Deggendorfer Juden 1338 wegen eines angeblichen Verkaufs einer Hostie an Juden durch eine Christin – das dortige Judenhaus wurde sodann in Brand gesteckt. (Erstens verkaufte eine Christin (!) und zweitens wurden die Judenmorde als „Gnade“ bezeichnet!) Es wurden bis in die 1960er Jahre hinein Wallfahrten nach Deggendorf organisiert. Erst nach dem II. Vaticanum wurden sie vom Regensburger Bischof eingestellt – es soll aber weiterhin „private Wallfahrten“ geben. In Bayern findet man nach wie vor auch Judensäue an Kirchen – bekanntestes Beispiel der Dom zu Regensburg.


Entwicklungen im Deutschen Reich


In Deutschland war die Lage je nach Land sehr unterschiedlich: Das liberale Baden emanzipierte seine Juden – nach einigem Hin und Her – in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, während in Preußen und Bayern die reformfeindliche Politik fortgesetzt wurde. Dies galt vor allem 1840 nach der Regierungsübernahme von Friedrich Wilhelm IV., der eine Politik der Restauration eines christlich-protestantischen Ständestaates versuchte und die Juden aus der Gesellschaft ausschließen wollte. Die Ideologie dazu wurde von Philip-Ludwig Wolfart geliefert, für den Preußens Staatswohl als das „einer rein evangelisch-christlichen Monarchie“ „gesichert werden müsse“ und am besten durch „Rechtsungleichheit“ gesichert werde. Jeder Versuch einer totalen Nivellierung – „zunächst die Emanzipation der Juden, auch allenfalls (…) der Frauen, der Proletarier usw.“ würde zu einer Auflösung des Staates führen. (Longerich 2021, 60)

Die Romantik hatte ein gespaltenes Verhältnis zu Juden: Einerseits wurden Heinrich Heine (Liebling von „Sissi“!) und Ludwig Börne für ihre Arbeiten berühmt, andererseits gab es auch die katholischen Fundis und Judenfeinde à la Adam Müller. Frauen konnten sich in einem bestimmten Grade (besonders in Berlin in den Salons) emanzipieren; bekanntestes Beispiel ist Rachel Varnhagen (1771–1833), der Hannah Arendt nicht zufällig eine große Biografie gewidmet hat.

Im mehrheitlich katholischen Bayern betrieb vor allem Joseph Görres (1776–1848) den Kampf gegen die Judenemanzipation. In seiner Christlichen Mystik (1842) legte er eine Sammlung von Schilderungen von Morden, die von Juden an christlichen Kindern begangenen worden sein sollen – deren Wahrheitsgehalt nicht vorhanden oder zweifelhaft war. Es gab Versuche, Juden in Handwerk und sogar Landwirtschaft unterzubringen, doch angesichts der Krise dieser beiden Sparten (und dem Unwillen der Behörden) scheiterte das zumeist. Einzig im Bereich der Industrialisierung (Textil) und des Eisenbahnbaus investierten (reiche) Juden (wie Henry Strousberg, Gustav Hirsch, sowie die Banker Warburg, Oppenheim und Bleichröder) in erheblichem Maße, wobei ihnen ihre internationalen Verbindungen zugutekamen.

Nach der Reichsgründung kam es 1873 zum „Gründerkrach“, dem (bis Mitte der 1890er Jahre) eine lange depressive Welle folgte. In dieser Zeit entwickelte sich der Rasse-Antisemitismus; die wichtigsten Autoren waren Eugen Dühring, Paul de Lagarde, Julius Langbehn, Theodor Fritsch und Houston Stewart Chamberlain.

Der Nationalökonom Eugen Dühring (1833-1921) stellte 1881 erstmals in Deutschland in DieJudenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage die Rassenfrage in den Mittelpunkt seiner Argumentation: Aufgrund ihrer Rasse seien die Juden wegen Selbstsucht, Unmoral, Unfähigkeit und wegen ihres Hasses auf das Menschengeschlecht (sic) zu kulturell hochstehenden, wissenschaftlich-künstlerischen Leistungen nicht in der Lage. Jede Assimilation müsse ihnen verwehrt und sie als Parasiten und Feinde aller Kulturvölker „ausgegliedert“ werden. (Schäfer, 2020, 214) Er schlägt Sondergesetze, Ghettoisierung und Deportationen vor. Das kommt bereits in der Nähe von Nazi-Argumentationen. Es verwundert, dass Friedrich Engels in seinem „Anti-Dühring“ den antisemitischen Blödsinn nicht aufs Korn genommen hat, aber vielleicht fand er das unter seiner Würde.

Der Orientalist Paul de Lagarde (1827–1891) behauptete: „Deutschland wird sich ihrer (der Juden) also nach Kräften zu erwehren haben; sie sind ein Gift für uns und müssen als solches behandelt werden. (…) Ihre Ausbeutungsgier ist grenzenlos; sie gehen krumme Wege; und ihre Moral ist nicht unsere. Sie würdigen Kunst und Wissenschaft herab: Sie sind demokratisch gesinnt; es zieht sie zum Pöbel; sie sympathisieren überall mit der Fäulnis.“ Demokratie ist also Fäulnis, möchte uns der Schlaumeier sagen.

 

Bibliografie

Benz, Wolfgang, 2020: Antisemitismus. Präsenz und Tradition eines Ressentiments, Frankfurt am Main (Wochenschauverlag).

Deeg, Sophia/Dierkes, Hermann, (Hg.), 2010: Bedingungslos für Israel? Positionen und Aktionen jenseits deutscher Befindlichkeiten, Köln (Neuer ISP Verlag). Digitalisat

Geyer, Martin H., 1998: Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne, Göttingen. (Vandenhoek & Rupprecht)

Herbert, Ulrich, 2021: Wer waren die Nationalsozialisten?, München (C.H.Beck).

Longerich, Peter, 2021: Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte, Von der Aufklärung bis heute, München (Siedler).

Schäfer, Peter, 2020: Kurze Geschichte des Antisemitismus, München (C.H.Beck).

Stollberg-Rilinger, Barbara, 2019: Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit, München (C.H.Beck).

Scholz, Dieter David, 2013: Wagners Antisemitismus. Jahrhundertgenie im Zwielicht, Darmstadt (WBG).

Traverso, Enzo, 1995: Die Marxisten und die jüdische Frage. Geschichte einer Debatte (1843-1943), Mainz (Decaton).

Vidal, Dominique, 2019: Antisionisme = Antisémitisme? Réponse à Emmanuel Macron, Paris (Libertalia).

Ein weiterer einflussreicher Hetzer war der Verleger Theodor Fritsch (1852–1933) mit seinem (unter Pseudonym veröffentlichen) Antisemiten-Katechismus 1897 (später: Handbuch der Judenfrage, von den Nazis eifrig rezipiert). Der Unterschied zwischen den „Indogermanen“ und den „Semiten“ bestimme sich wie folgt:

„Die europäischen Völker gehören fast sämmtlich der arischen oder indogermanischen Rasse an, die Juden der semitischen. Die arischen Völker sind mehr sesshafter Natur; sie pflegen Ackerbau, Gewerbe, Kunst und Wissenschaft; sie sind staatengründend, muthig und tapfer; der Grundzug ihres Wesens ist die Geradheit, Ehrlichkeit, Treue und Hingebung. Sie sind die eigentlichen Kultur-Völker. Die echten Semiten hingegen sind von Natur Nomaden; sie haben keine eigentlich dauernden Wohnsitze, kein rechtes Vaterland. Sie ziehen dahin, wo die beste Beute winkt. Sie bauen und bebauen nichts selbst; sie suchen die durch fremden Fleiß geschaffenen Kultur-Stätten auf, beuten die vorhandenen günstigen Verhältnisse aus, grasen, sozusagen, die Weideplätze ab und lassen sie geplündert und verödet zurück.“ Und dieser ideologische Blödsinn wurde im Dritten Reich millionenfach verbreitet und gelehrt.

Die vielleicht größte Wirkung entfaltete der in Deutschland lebende Brite Houston Stewart Chamberlain (1855–1927), der gut mit Wilhelm II. bekannt war und 1908 Richard Wagners Tochter Eva heiratete. Er begriff sich als Vorkämpfer des „Bayreuther Gedankens“ und sorgte mehr und mehr für eine antisemitische und rassistische Interpretation von bestimmten Werken Richard Wagners. (Dieser konnte sich nicht wehren, da er ja 1883 bereits gestorben war!) Chamberlain unterschied zwischen „homogen-reinen und chaotischen Rassen“. Eine wirklich reine Rasse seien die Germanen mit ihren Hauptvertretern, den Deutschen. Ein Beispiel für „Rassenchaos“ seien die Österreicher: Er sieht den Aufstieg Preußens gegen Österreich als Sieg der „unbezwingbaren physischen Kraft echter Rasse“ über die Rassenlosigkeit Österreichs, als Sieg der „moralischen Kraft einer wahren Nation“ über das „nur aus dynastischen Interessen zusammengestoppeltes, jeder inneren Einheit lediges Territoriumkonglomerat“ Österreichs. (Schäfer, 2020, 217; zu Chamberlain und Wagner siehe Scholz, 2013, 156–159).

Alle konservativen Parteien (mit besonderen Positionen das katholische Zentrum) waren vom Antisemitismus durchdrungen. Doch politisch wichtiger für die antisemitische Agitation waren große Verbände wie der „Bund der Landwirte“, der „Deutschnationale Handlungsgehilfenverband“ und besonders der von Heinrich Claß (1868–1953) geführte nationalistische „Alldeutsche Verband.“ Am klarsten distanzierten sich die Sozialdemokraten (die bei den Reichstagswahlen 1912 mit 34,8 % die weitaus meisten Stimmen erhielten) und die Freisinnigen.

Deutschland war vor den Nazis ein Land mit einer relativ starken antisemitischen Rechten, doch im Vergleich zu Frankreich und vor allem Russland hätte man die Untaten der Nazis nicht vorhersehen können. Nach der Ermordung Zar Alexanders des Zweiten 1881 kam es in vielen Dörfern Russlands, vor allem in der Ukraine, zu blutigen Pogromen, die vom Staat auch noch gefördert wurden. Danach gab es – im Umkreis der ersten russischen Revolution – Pogrome in Kischinew und Odessa mit vielen Toten. Im Jahr 1903 erschien auch die erste Fassung des (von der zaristischen Geheimpolizei verfassten) Machwerks Die Protokolle derWeisen von Zion, in dem jüdische Weltbeherrschungspläne behauptet wurden. In Frankreich führte in den 1890er Jahren die Affäre um den Offizier Alfred Dreyfus, der unschuldig in Haft und Verbannung geschickt wurde, zu einer neuerlichen Aufwallung des Antisemitismus. Wiewohl bald klar wurde, dass ein anderer Landesverrat begangen hatte, dauerte es Jahre, bis die – vor allem von Émile Zola entwickelte – Kampagne „Ich klage an“ zu seiner Freilassung und Rehabilitierung führte.

Woher kam der Hass auf die Juden?

Das Deutsche Reich war ein militaristischer Obrigkeitsstaat, der die Arbeiter unterdrückte und stolz auf seine Untertanen war. Doch wirtschaftlich war das Reich – neben den USA – seit Mitte 1890 der erfolgreichste Staat des Planeten. (Man denkt heute unwillkürlich an die VR China!). Das Reich wurde zur Nummer zwei oder drei, in Wissenschaft und Technik war Deutschland weltweites Vorbild. Über Berlin schrieb 1892 ein Amerikaner: „Es ist eine neue Stadt, die neueste, die ich je gesehen habe. Chicago nähme sich dagegen ehrwürdig aus, denn es gibt viele altaussehende Bezirke in Chicago, in Berlin jedoch nicht viele. Die Hauptmasse der Stadt macht den Eindruck, als sei sie vorige Woche erbaut worden.“ (Herbert 2021, 57) Massives Verkehrsaufkommen, großes Tempo. Und es entstand die mächtigste Arbeiterbewegung der Welt mit Gewerkschaften, Genossenschaften und der SPD, die bei den Wahlen 1912 erstmals stärkste Partei wurde.

Viele Menschen waren stolz auf die erreichte „Weltgeltung“ – ein „Platz an der Sonne“. Aber der rasche Wandel in Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und öffentlichem Leben verursachte auch massive Statusängste, Verunsicherung und bisweilen krasse Ablehnung des modernen Lebens. Dabei führend waren die beiden Kirchen, die ihre Einflüsse bedroht sahen; es entstand auch ein neuer („borussischer“) Nationalismus, weil jetzt die Nation angeblich den Zusammenhalt garantierte.

„Der Nationalismus wirkte wie ein Antidot gegen viele, wenn nicht alle Beschwernisse und Beängstigungen: das Leiden an sozialer Spaltung und politischer Kontroverse, die Resignation vor der Kompliziertheit der modernen Welt, die Suche nach Erlösungsperspektiven und quasi-religiösem Halt. Zugleich vermittelte sich aber auch die Erfahrung des Rausches einer Massenveranstaltung oder die neu erwachte Lust an der wachsenden Macht eines großen Nationalstaats.“ (Herbert, 2021, 58)

Doch Deutschland sollte bald nicht mehr auf den (kleindeutschen) Nationalstaat beschränkt sein – es wurde vom „deutschen Volk“ gesprochen, das über verschiedene Staaten hinweg zerstreut sei und nach staatlicher Einheit verlange. Die Definition „Blut und Rasse“ stand nun gegen den Staatsbürger; einige wollte man ausschließen: die Polen oder die Juden (weil nirgendwo die Differenz zwischen politischer Staatsbürgerschaft und nationaler Zugehörigkeit größer war (jedenfalls bei den Ostjuden; im Krieg hatten die Behörden 30 000 von ihnen zwangsverpflichtet). Aber wer war Deutscher – es gab eine starke Auswanderung in die USA oder nach Russland. Biologistische Konzepte bewirkten die Erfindung der „Andersartigkeit der Juden“. Solche Vorstellungen verbreiteten sich in Schichten, in denen der Antisemitismus vorher kaum eine Rolle gespielt hatte, im Bildungsbürgertum und unter Intellektuellen und Künstlern.

Der Weltkrieg verstärkte die Axiome der radikalen Rechten, die aber schon länger bestanden: Die Ablehnung der Industriegesellschaft und der modernen Kultur, des Liberalismus und Parlamentarismus, der „Dekadenz und Amerikanisierung“, und natürlich des Marxismus und Bolschewismus. Man betrauerte die Landflucht und den Verlust von Heimat. Er verstärkte die antisemitische Grundierung.

Hinzu kam der erfolgreiche Aufstieg der deutschen Juden von einer armen und rückständigen Minderheit zur wahrscheinlich sozial erfolgreichsten Gruppe in Europa. Das Bildungsbürgertum goutierte keineswegs, dass 1901 ca. 7,3 Prozent der christlichen Kinder in Preußen einen höheren Schulabschluss erreichten als die Volksschule – aber 56,3 % der jüdischen Kinder. (Herbert 2021, 62) Und zu Beginn des Krieges spielten die jüdischen Unternehmer Walter Rathenau und Albert Ballin eine führende Rolle in der deutschen Kriegswirtschaft. Es wurde behauptet, die jüdischen Männer würden sich um den Frontdienst drücken, doch die sogenannte „Judenzählung“ zeigte, dass sich diese Männer ihr nationales Engagement nicht nehmen ließen. Sie waren bei den Verwundeten und Gefallenen überproportional vertreten.

Die Verbindung von Kritik an der Moderne und „Reformbewegungen“ trat in vielen Ländern auf; ein Beispiel wäre die – bis heute wirkmächtige – Bewegung von Rudolf Steiner.


Weimarer Republik und Drittes Reich


Der Antisemitismus erlebt in Folge von zwei Ereignissen einen deutlichen Aufschwung: von Versailles und der Hyperinflation 1923. Da der Krieg – im Unterschied zum Zweiten Weltkrieg – hauptsächlich außerhalb des Landes stattgefunden hatte, bewirkten die Reparationsforderungen der Westmächte, insbesondere die Abtretung von großen Gebieten im Westen und Osten – weithin einen Schock. Bis wenige Monate vor Kriegsende hatte man sogar noch an einen Sieg geglaubt. Für die Niederlage wurden neben den Westmächten vor allem die Bolschewiki verantwortlich gemacht; bei beiden wurden Juden (Trotzki führte die Friedensverhandlungen) besonders herausgestellt.

Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die „Partei der Kraut- und Schlotjunger“ (Engels), die die Monarchie wieder einführen wollte und der sich auch der Pressezar Alfred Hugenberg (Parteivorsitzender ab 1928) anschloss, entwickelte einen kruden Antisemitismus. Er bestimmte die Politik der DNVP bis zur Auflösung in die NSDAP im Juni 1933. Der Publizist Arnold spottete, bei diesen Leuten würde der Jude zum „amüsant-schauerlichen Märchenvieh“.

Auch die Hyperinflation war für die meisten unerklärlich und sie griffen zu Verschwörungstheorien. Die „Veteranen der ehrlichen Arbeit, durch die Deutschland groß geworden ist, darben, hungern frieren“, schrieb ein Münchner an die Behörden, während die „blutjungen Bürschchen, dickgemästeten Viehhändler, Holzschieber, Lebensmittelwucherer, die noch dazu ihre dunklen Geschäfte jeder Steuerkontrolle zu entziehen wissen, Luxusfahrten im eleganten Auto machen und die Nächte mit ihrem faulenzenden, nur auf immer verrücktere Toiletten bedachten Weiberanhang in Cabarets und weindunstigen Nachtlokalen durchschwelgen.“ (zit. nach Geyer, 1998, 245f.)

Das Klischee vom „jüdischen Kapitalisten“ wurde bisweilen leider auch von Organisationen der Arbeiterbewegung eingesetzt. So verfasste das Mitglied des ZKs der KPD, Ruth Fischer, 1923 einen Aufruf:

„Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. Sie sind gegen das Judenkapital, sie wollen die Börsenjobber niederkämpfen? Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie.“ (laut Vorwärts vom 22. August 1923.)

      
Mehr dazu
Shir Hever: Israels Post-Netanjahu-Politik des kolonialen Verfalls, die internationale Nr. 5/2021 (September/Oktober 2021)
Dominique Vidal: Antizionismus = Antisemitismus?, die internationale Nr. 3/2019 (Mai/Juni 2019)
Per-Olof Mattsson: Die Deutschen und der Judenhass, Inprekorr Nr. 324 (Oktober 1998)
Sascha Möbiusn: Die Auseinandersetzung der SPD mit dem deutschen Antisemitismus im Kaiserreich, Inprekorr Nr. 305 (März 1997)
 

Mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 begann der neuerliche Aufstieg der NSDAP. Ihr ging es zunächst darum, die Juden zu demütigen, sie aus wichtigen Positionen zu verdrängen, sie zur Ausreise zu veranlassen und sich ihres Vermögens zu bemächtigen. Bereits 1937 waren 125 000 Juden, also ein Viertel der im Reich lebenden, emigriert. Die Nürnberger Rassengesetze von 1935 beseitigten die Grundprinzipien der Rechtsgleichheit. Die Nazis agierten gegen Juden voller Korruption und Bereicherungssucht, eine der größten Enteignungsaktionen der deutschen Geschichte.

Diese Beraubung wurde als „Wiedergutmachung“ verkauft, weil sich die Juden wirtschaftlich an den Deutschen bereichert hätten. Die Deutschen verhielten sich großteils indifferent: Als sich ein katholischer Priester über die Judenverfolgungen beschwerte, schrieb der Münchner Kardinal Faulhaber: „Gewiss sei dieses Vorgehen unchristlich. (…) Für die kirchlichen Oberbehörden bestehen weit wichtigere Gegenwartsfragen (…), zumal man annehmen darf (…), dass die Juden sich selbst helfen können.“ (Faulhaber an Alois Wurm, 8. April 1933)

Der Anschluss Österreichs im März 1938 führte zu einem „antisemitischen Schub“. Etwa 180 000 Juden und Jüdinnen gerieten zusätzlich in die Fänge der Nazis. Die österreichischen Nazis waren bemüht, den deutschen Radikalisierungsprozess in kürzester Zeit nachzuvollziehen. Sie setzten „Kommissare“ ein, um jüdische Geschäfte zu „übernehmen“. Im Mai 1938 wurden 2000 Juden nach Dachau deportiert. Dies führte zu Panik; binnen fünf Monaten emigrierten 46 000 Juden und Jüdinnen aus Österreich. Der israelische Historiker Avraham Barkai schätzt, dass bereits Anfang 1938 etwa ein Drittel der Geschäfte, die 1933 Juden gehört hatten, kalt enteignet worden waren.

Der nächste Radikalisierungsschritt war die Abschiebung von Juden polnischer Nationalität; binnen zwei Tagen waren dies 17 000. Doch die polnischen Behörden verwehrten ihnen den Grenzübertritt mit Gewalt, was zeigte, dass die Zwangsausweisung ein Fehlschlag war. In dieser Zeit ereignete sich das Attentat gegen den deutschen Diplomaten Rath in Paris durch den jungen Juden Grünspan. Die Nazis rächten sich mit ihrem „Gewaltantisemitismus“, der Reichspogromnacht vom 9. November 1938. Die Mehrheit der Bevölkerung verurteilte diese Gewalttaten als eines „Kulturstaats unwürdig“. Daraufhin befahl Hitler die „wirtschaftliche Lösung der Judenfrage“. Bis Mitte 1941 verließen gut die Hälfte der deutschen Juden das Land. Der Rest verarmte immer mehr.

Der Höhepunkt dieser Entwicklung war Hitlers Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 mit der berühmt-berüchtigten Drohung: „Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“ (VEJ, Bd. 2, Dok. 248, S. 680). Aber erst nach Kriegsbeginn, vor allem nach dem Angriff auf die Sowjetunion, wurde der Holocaust möglich. Doch auch die Sowjetunion zahlte einen ungeheuren Blutzoll: Die Hälfte der Toten des 2. Weltkriegs, 27 Millionen Tote waren Sowjetmenschen!


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2021 (September/Oktober 2021). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Als kritisches Standardwerk zu diesem Thema darf Gilbert Achcar, 2012: Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen, Hamburg (Nautilus) gelten.