Arbeiter*innenbewegung

Wer hat die Waffen und wer sollte sie haben?

Leserbrief zu „Zur Einordnung des Textes von Leo Trotzki ‚Zur Frage der Arbeiterselbstverteidigung‘”, die internationale Nr. 2/2020 (März/April 2020), S. 60f

Friedrich Dorn, Kilian Malik und Michael Sankari

Schon die Präsentation der Übersetzung des Trotzki-Textes durch die Redaktion in der internationale 2/2020 irritiert ein wenig. Es gäbe „keinen besonderen Anlass“, diesen Beitrag „gerade jetzt“ zu bringen. „Über kurz oder lang“ werde sich „das Thema des ,Gewaltmonopols des Staates‘ angesichts des wachsenden rechten (faschistischen) Terrors nicht vermeiden lassen“. Bleibt der Beigeschmack, wir hätten diesen Text ohne nachvollziehbaren Grund übersetzt und zur Veröffentlichung vorgeschlagen …

Die „Einordnung“ von Thies Gleiss bestreitet dem Trotzki-Text von 1939 schlichtweg jegliche aktuelle Bedeutung. Er vertritt auch die These, zumindest gegenwärtig – sei das Gewaltmonopol des (bürgerlichen) Staates von uns zu verteidigen. Das ist eine überraschende Behauptung, denn sie widerspricht unserer gesamten programmatischen Tradition!

Wir leben in einer Klassengesellschaft. Die Bourgeoisie herrscht vermittelt über ihren Staat: mit Armee, Polizei, Geheimdiensten, Verwaltungsapparat, politischen Institutionen. Seit wann verteidigen wir das Gewaltmonopol der bewaffneten Kräfte der Bourgeoisie?

Natürlich rufen auch wir die Polizei, wenn bei uns eingebrochen wird. Wir setzen aber nicht auf Polizei und Geheimdienste, um die Neonazis und extremen Rechten zu bekämpfen. Von allem anderen abgesehen: Die Polizei und diese Dienste sind von Rechtsextremisten durchsetzt. Vor allem vertreten wir auch einen Klassenstandpunkt: Auch im Bereich der Sicherheit setzen wir in erster Linie auf die Selbstorganisation der Beschäftigten, Ausgegrenzten und Unterdrückten.

Und die Bundeswehr? Thies Gleiss garniert seine Aufzählung von Forderungen, die dem Mainstream der deutschen „radikalen“ Linken entsprechen, mit der scheinradikalen Losung von der „Abschaffung der Bundeswehr“. Bitte – konkret heißt das gar nichts! Die Bundeswehr ist eine Berufsarmee geworden; demgegenüber waren wir aus strategischen Gründen immer für eine Armee von Wehrpflichtigen. Darüber hinaus waren wir immer gegen kasernierte Heere. Die ISO Rhein-Neckar fordert daher ein Milizsystem nach Schweizer Vorbild – nicht, weil sie sich mit der bürgerlichen Schweizer Miliz identifiziert, sondern weil sie bei einem nur geringfügig entwickelten Klassenbewusstsein auf Massenebene an etwas Konkretem anknüpfen will, was es bereits gibt. Das kann kontrovers diskutiert oder konkretisiert werden, hat aber den Vorzug, die Frage zu behandeln, wer die Waffen hat und wer sie haben sollte. In unserer Tradition steht die Losung „le peuple en armes“ – das „Volk in Waffen“; wobei nur der in Deutschland schwerbelastete Begriff des „Volks“ stört.

Das ist übrigens nicht dasselbe wie in den USA, wo alle Waffen kaufen können, um die eigene Ehefrau zu erschießen oder einen Eindringling im Privatgrundstück oder Schwarze oder Amok zu laufen. In einem Milizsystem wird jeglicher Missbrauch der persönlichen Waffe für private Zwecke streng geahndet. So war es auch bei den Roten Garden 1917 in Petrograd – ausweislich ihrer Statuten.

Wir schlagen vor, sorgfältig zu diskutieren, worin die Parallelen der Lage in den USA (und in Frankreich) 1939 und in Deutschland heute bestehen. Thies sagt zu Recht, dass die Bereitschaft, zu Selbstverteidigungsorganisationen überzugehen, von der politischen Konjunktur abhängt. Diese Bereitschaft wächst in dem Maße, wie sich rechtsextremistische gewaltbereite und gewalttätige Banden breitmachen, die vom Staat teils geduldet, teils heimlich gefördert werden. Abgesehen davon dass alle Kapitaleigentümer*innen persönliche Waffen haben oder haben können, dass sie Bodyguards haben und Sicherheitsfirmen beauftragen, haben wir in wachsendem Maße bewaffnete rechtsextremistische Banden. Sie begehen Mordanschläge, schüchtern ein, beherrschen bereits gewisse Bereiche. Flüchtlinge, Eingewanderte und Linke sind ihre bevorzugten Zielscheiben.

      
Mehr dazu
Thies Gleiss: Zur Einordnung des Textes von Leo Trotzki „Zur Frage der Arbeiterselbstverteidigung“, die internationale Nr. 2/2020 (März/April 2020)
Leo Trotzki: Zur Frage der Arbeiterselbstverteidigung, die internationale Nr. 2/2020 (März/April 2020)
 

Deshalb liegt es auf der Hand, dass wir über angemessene Mittel und Losungen der Selbstverteidigung nachdenken müssen. Dazu gehören die Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten sowie die Befassung mit der Sicherheit der eigenen Organisation. Dazu gehören auch die Sammlung und die Weitergabe der reichen Erfahrungen der revolutionären Strömungen in der internationalen Arbeiterbewegung, auf die Trotzki hingewiesen hat und die es seit seiner Ermordung gegeben hat ‒ von den Analysen und Hinweisen des „Generals“ Friedrich Engels zu militärischen Fragen über die bewaffneten Abteilungen des jüdischen Arbeiterbunds in den Jahren der Pogrome und der Revolution von 1905 im Russischen Reich bis zu den „politisch-militärischen Organisationen“ in Verbindung mit gut verankerten legalen „Volksorganisationen“ beispielsweise in Lateinamerika oder auf den Philippinen.

Thies Gleiss behandelt auch die weltweite Lage eigenwillig. Setzt er darauf, die illegalen Banden in Mexiko und in den USA von Trump und Co. entwaffnen zu lassen? Was ist mit revolutionären Organisationen, die sich praktisch mit Selbstverteidigung und Entwaffnung der Banden des Kapitals befassen?


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2020 (Mai/Juni 2020). | Startseite | Impressum | Datenschutz