Geschichte

Zum deutschen Widerstand

Nur wenige Ereignisse der inneren deutschen Geschichte des Zweiten Weltkriegs waren von größerer Dramatik als der Versuch des Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944 Adolf Hitler zu ermorden. Der folgende Beitrag ist nicht zuletzt eine Kritik an der staatlich lizenzierten Erinnerungskultur.

Horst Hilse

Die chaotischen Zustände bei Beginn der Operation Walküre, die immer aussichtslosere Lage der letzten Stunden im Armeehauptquartier in der Berliner Bendlerstraße, die tiefe Tragödie der hastigen Hinrichtung Stauffenbergs, das Rätsel seiner letzten Worte: „Es lebe das geheiligte Deutschland!“ – all das gerät in der deutschen Medienöffentlichkeit zunehmend zu einem Action-Streifen nach Machart von Hollywood-Filmen, die gewöhnlich Geschichte im Rahmen von Gegensätzen zwischen Gut und Böse abhandeln.

Doch Stauffenberg eignet sich nicht für die Rolle des Actionhelden, der aus einem einfachen humanistischen Antrieb handelt, wie er dem Bestreben Hollywoods genügt. Stauffenbergs Moralverständnis war ein vielschichtiges Konglomerat aus katholischer Lehre, einem aristokratischen und militärischen Ehrenkodex, dem Ethos des antiken Griechenlands und deutscher romantischer Dichtung.

Vom Gedankengut des Dichters Stefan George inspiriert, ersehnte Stauffenberg ein idealisiertes mittelalterliches Reich, durch das Europa – unter deutscher Führung – ein neues Maß einer kulturellen Zivilisation erlangen würde. Eine Sinnsuche dieser Art war nicht untypisch für die utopistischen Strömungen, die am Rande der Weimarer Republik gediehen, von großem Optimismus und Ehrgeiz bestimmt, aber auch abstrakt und unrealistisch.

Diese Motivation unterschied Stauffenberg von anderen, oft langjährigen älteren Mitgliedern des Widerstands innerhalb des Militärs. Deren Pläne, Hitler zu stürzen, reichten bei manchen bis 1938 zurück und beruhten auf der Überzeugung, dass der Krieg, den die Nationalsozialisten forderten, nicht zu gewinnen war.

Selbst gegen Ende der Dreißigerjahre war Stauffenberg merklich stärker der NS-Ideologie zugetan als viele ältere Offiziere. Verwandte beschrieben ihn als das einzige „braune“ Mitglied der Familie. Obwohl er später unter dem Eindruck des Vernichtungskrieges im Osten jegliche Begeisterung für den Nationalsozialismus verlieren sollte, hatte er für die parlamentarische Demokratie zeitlebens nur Verachtung übrig. Wie fast alle Strömungen des Widerstands war Stauffenberg der Meinung, der Parlamentarismus habe in der Weimarer Republik seine völlige Bankrotterklärung abgeliefert. Allein schon aus diesem Grund ist Stauffenberg als Vorbild für eine heutige Parlamentsarmee ungeeignet. Bei aller Begeisterung trat er nie in die Partei ein – für ihn war die wahre Partei der Kreis um Stefan George –, aber er glaubte, die Nationalsozialisten führten eine Bewegung der nationalen Erneuerung an. Eine Bewegung, die mit den schäbigen parlamentarischen Kompromissen und Winkelzügen der Weimarer Zeit aufräumen würde.

Obwohl ihm offene Gewalt gegen Juden widerstrebte, protestierte er nur ein einziges Mal, nämlich als das antisemitische Hetzblatt Der Stürmer schrieb, Stefan Georges Dichtung sei von ihrem Wesen her jüdisch und dadaistisch.

Stauffenbergs Zweifel gegenüber einem kontinentalen Krieg wurden vom überwältigenden Erfolg der Wehrmacht 1939 und 1940 zerstreut. Er sah darin einen entscheidenden Schritt hin zur Schaffung jenes europäischen, von Deutschland dominierten Großreichs.

 

Ein in der FAZ nicht gern gesehener Leserbrief

Am 31. Juli erschien nach mehrmaligen Nachfragen schließlich doch noch folgender Leserbrief von Helmut Dahmer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Thomas Karlauf über den 20. Juli 1944 (Frankfurter Allgemeine vom 20.7.2019, S. 9)

Ja, es war ein gescheiterter Putsch adliger („preußischer“) Obristen, die moralisch mit ihrem Eid auf Hitler rangen. (Der Feldmarschall Erich von Manstein blieb ihm treu.) Sucht man nach einer Analogie, käme der ebenfalls gescheiterte Aufstandsversuch der russischen „Dekabristen“ von 1825 in Frage, deren Truppen so wenig wussten, worum es ging, wie die der „Vons“ (Hitler) des 20. Juli. Deren Problem umreißt Karlauf (S. 9) präzis: „Wie schaffen wir es, jetzt, wo ein deutscher Sieg nicht mehr realistisch ist, einigermaßen unbeschadet aus der Sache herauszukommen.“ Seine Frage, „Warum hat sich nach 1945 niemand gefunden, der [etwa an den Hitlerattentäter Georg Elser] erinnern wollte?“, ist einfach zu beantworten: Weil die übergroße Mehrheit der Nachkriegsdeutschen sich in tiefster Seele auch nach dem Desaster mit „Volk, Reich und Führer“ identifizierte. (Davon profitieren noch die Nazis von heute.) „Der Widerstand war lange genug ein Elitenprojekt gewesen“, schreibt Karlauf weiter. Ein „Elitenprojekt“?! Ja, will sich denn 2019 „niemand“ mehr des Widerstands der nach Zehntausenden zählenden Arbeiter, Angestellten, der „einfachen Leute“ und der Intellektuellen erinnern, die in den Jahren 1933–1938 (lange vor den kirchlichen und militärischen „Eliten“) im deutschen Untergrund Leben und Freiheit aufs Spiel setzten?

Prof. Dr. Helmut Dahmer, Wien

Seine Vorstellung eines neuen Europas, das unter gütiger deutscher Herrschaft gedieh, wurde völlig zerstört, als er die Massenerschießungen von Juden und die Ermordung von Millionen sowjetischer Kriegsgefangener erlebte. Anfangs nahm er an, hier würden die Ideale des Nationalsozialismus verraten, erkannte aber ab 1942, dass diese Menschenvernichtung das Wesen des NS-Krieges darstellte. Ihm wurde klar: Die Führung der Nationalsozialisten verriet Deutschland, sie verhinderte nicht nur die Umsetzung der spirituellen Werte des „Geheimen Deutschlands“ des George-Kreises, sondern sie negierte diese.

Wäre der Diktator getötet worden, so hätten sicherlich Teile der Armee, der SS und der NSDAP mit Waffengewalt geantwortet. In der Folge wäre Bürgerkrieg wohl das wahrscheinlichste Szenario gewesen. Sicherlich hätte das den Alliierten massive militärische Vorteile gebracht. Der Krieg wäre schon mehrere Monate früher beendet worden. Millionen Menschenleben hätten gerettet werden können. Das allein ist schon Rechtfertigung genug für Stauffenbergs Tat. Das Scheitern war jedoch ein Scheitern auf ganzer Linie.


Der verschwiegene Antifaschismus der Linken


In den Mainstream-Medien geht heute völlig unter, dass es einen breiten, massenhaften Widerstand der Linken gegen den Faschismus gegeben hatte. Hunderttausende setzten in Deutschland ihr Leben im Kampf gegen die Diktatur aufs Spiel. Europaweit kämpften Millionen gegen den Faschismus. Ihr Erbe ist einer Einigung des Kontinents wesentlich angemessener, als das aktuelle Brüsseler Theaterstück. Der konservative Mainstream ist bestrebt, die Linke wieder ins Dunkel der Geschichte zu verschieben. Damit bleibt sie für den Durchschnittsdeutschen ein „Buch mit sieben Siegeln“. Gegen diese Verdrängung schrieb letztens Werner Rügemer recht gut an. [1]

Auch die Linken scheiterten. Doch ihr Scheitern war von völlig anderer Art: Sie konnten keinen wirksamen antifaschistischen Kampf entwickeln. In den bereits von faschistischem Terror begleiteten Wahlen 1932 erhielten die beiden großen Parteien SPD und KPD dreizehn Millionen Stimmen. Dem standen 11,7 Millionen für die NSDAP gegenüber.


Kommunisten


Die KPD erhielt bei den Wahlen 1933 ca. sechs Millionen Stimmen und hatte also ab dem Einbruch der Krise 1930 fast 1,3 Millionen Stimmen hinzugewonnen. Eine rechtzeitig eingeschlagene intelligente Politik der antifaschistischen Einheit hätte den Einfluss der KPD beträchtlich erweitern können und somit den Druck auf die SPD zur Zusammenarbeit verstärkt.

Aber die Zerstörung der Debattenkultur, der Schwund theoretischer Analysefähigkeiten, die Bürokratisierung der Organisation, die bedingungslose Unterordnung unter die Manöver der Stalin’schen Leitung mitsamt ihren Dogmen machte die KPD unfähig, eine angemessene Politik zur Zerstörung des Faschismus zu entwickeln.

Auf dem linken Parteiflügel entstanden verschiedene Gruppen und Fraktionen, die sich gegen die Dogmatisierung und Bürokratisierung wehrten. Der Widerstand gegen die immer stärker werdenden Nationalsozialisten stand im Zentrum ihrer Aktivitäten. Die Faschismusanalysen der Linkskommunisten waren dabei den Verlautbarungen der KPD oft weit überlegen. In ihren Hochburgen gelang es ihnen oftmals, schlagkräftige lokale Bündnisse gegen die Nazis aufzubauen. Allerdings brachen diese Strömungen mit dem Dogma vom „Sozialfaschismus“, das die SPD zu einem „faschistischen“ Flügel erklärte. Die dann folgenden Ausschlüsse aus der KPD trafen diese Gruppen schwer. Als dann am 31. März 1934 mit einem Prawda-Artikel die Wende eingeleitet wurde („Nichts spricht gegen Vereinbarungen mit anderen Gruppen und Strömungen im antifaschistischen Kampf“), war es für die deutsche KPD zu spät, die erforderliche Korrekturen einzuleiten. In Frankreich, Italien, Spanien dagegen schwenkten die Kommunisten innerhalb weniger Tage wenigstens in dieser Frage um und konnten damit gewisse Erfolge erzielen.


Sozialdemokraten


Insbesondere die deutsche SPD beharrte auf strikter parlamentarischer Vorgehensweise bei der Bekämpfung der Nazis. Der Stimmzettel sollte den Faschismus besiegen. Die besonders in den Jusos verankerte „Seydlitz“-Gruppe forderte dagegen ein „Kampfbündnis mit den Kommunisten“ und wurde aus der SPD ausgeschlossen. International isolierte sich die SPD immer mehr, je erfolgreicher der Faschismus agierte. Bereits im Februar 1933, wenige Tage nach dem Machtwechsel in Deutschland, hatte die sozialdemokratische II. Internationale eine Erklärung abgegeben, dass sie zu Verhandlungen mit der KI bereit sei, um antifaschistische Kämpfe zu organisieren. Die spanische sozialistische Partei sprach sich 1934 für die Bildung bewaffneter antifaschistischer Milizen „gemeinsam mit den Kommunisten“ aus. Zugleich erhoben sich in Wien bereits 1934 die bewaffneten sozialdemokratischen Schutzbündler.

      
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B.B.: 1. Mai 1933: "Einheitsfront" von Gewerkschaftsbürokratie und Nazis, Inprekorr Nr. 378/379 (Mai/Juni 2003)
Jakob Taut: Fünfzig Jahre danach (Zweiter Weltkrieg), Inprekorr Nr. 283 (Mai 1995)
Georg Jungclas: Zum 30. Jahrestag des 1. Mai 1933, Inprekorr Nr. 258 (April 1993)
Permanente Revolution: Antifaschistische Alternative; Linke Opposition in Deutschland zum 30.1.1933, Inprekorr Nr. 255 (Januar 1993)
 

Der Staatsopportunismus und der Legalismus der Sozialdemokraten sowie das Sektierertum der KPD verhinderten in Deutschland einen wirksamen antifaschistischen Kampf trotz guter Voraussetzungen. In beiden Parteien erkannten starke Minderheiten diese historische Aufgabenstellung, scheiterten jedoch an den jeweiligen in Routine erstarrten, entpolitisierten und bürokratisierten Parteiapparaten.

Da Politik kein Irrtumsrecht kennt, scheiterte damit auch die deutsche Arbeiterbewegung, die damals den Schlüssel in der Hand hatte, um das folgende barbarische Massenschlachten des Faschismus zu verhindern.


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Werner Rügemer: „Verschwörung in der Verschwörung“, https://www.nachdenkseiten.de/?p=53733