Hongkong

Die Proteste in Hongkong verschärfen sich

„Jacobin“-Mitarbeiter Kevin Lin sprach mit dem langjährigen Sozialisten und Autor Au Loong Yu über die zunehmenden Demonstrationen, die inhaltliche Ausrichtung der Protestbewegung, die Rolle der Gewerkschaften und die Auswirkungen verschiedener geopolitischer Beziehungen (Peking–Hongkong, USA–China) auf die sich zuspitzende Revolte. Das Interview ist am 1. August erschienen.

Interview mit Au Loong Yu

Massenproteste in Hongkong haben die Regierung gezwungen, eine Gesetzesvorlage zurückzustellen, die kritische Stimmen zum Schweigen bringen soll. Trotzdem sind die Demonstrant*innen weiterhin auf der Straße – und sie fordern den Rücktritt von Hongkongs Regierungschefin.

Die anhaltenden Demonstrationen in Hongkong rufen uns eindrucksvoll in Erinnerung, dass sich scheinbar unabwendbare Gesetze durch Massenproteste verhindern lassen.

Die millionenstarken Kundgebungen im Juni haben die Regierung von Hongkong gezwungen, ein Gesetz, das Auslieferungen an China ermöglichen soll, vorerst auf Eis zu legen. Kritiker*innen gehen davon aus, dass Peking mit diesem Gesetz Andersdenkende in der ehemaligen britischen Kolonie zum Verstummen bringen könnte. Die Protestierenden wollten sich mit dem bloßen Zurückstellen der Vorlage nicht zufrieden geben, sondern forderten ihre vollständige Aufhebung sowie den Rücktritt der von Peking gestützten Regierungschefin Carrie Lam.

Anders als Hongkongs Regenschirm-Bewegung von 2014, die verschiedene Wortführer hatte, lehnen die jungen Demonstrant*innen jede Führung ab und scheinen nicht daran interessiert, ihren Protest in Richtung Wahlen zu kanalisieren. Stattdessen haben sie ihre direkten Aktionen ausgeweitet. Sie lieferten sich Schlachten mit der Polizei, besetzten vorübergehend den Legislativrat (Parlament der chinesischen Sonderverwaltungsregion) und demonstrierten in Hongkongs internationalem Flughafen.

Chinas Regierung hat die Protestierenden davor gewarnt, die Grundformel „Ein Land, zwei Systeme“ infrage zu stellen (dieses von Deng Xiaoping in den frühen 1980er-Jahren erstmals formulierte Prinzip betrachtet Hongkong als Teil von China, gewährt der Sonderverwaltungszone jedoch ein gewisses Maß an Autonomie). Peking deutete sogar eine mögliche Militärintervention an, verzichtete bislang aber darauf, direkter einzugreifen. Trotzdem schwebt die Gefahr eines harten Durchgreifens über den Kämpfen, deren physische Gewalt bedrohlich ansteigt. Seit den Demonstrationen der letzten zwei Monate sind zum ersten Mal vierundvierzig Protestierende wegen Ausschreitungen angeklagt.

Weder Hongkong und Peking noch die Demons­trant*innen zeigen Anzeichen von Schwäche. Und angesichts der weit verbreiteten Unzufriedenheit in der Bevölkerung Hongkongs – die noch immer keine Möglichkeit hat, ihre Regierung ohne Beteiligung Pekings zu wählen – ist anzunehmen, dass selbst der Rücktritt von Carrie Lam die Pattsituation nicht lösen könnte.

 Kevin Lin: Nach den Massenkundgebungen im Juni führten Gruppen von Demonstrierenden vermehrt militante Aktionen gegen die Hongkonger Behörden durch. Was ist von dieser Eskalation zu halten?

Au Loong Yu: Im Lager der „Gelben Bänder“, die demokratische Reformen anstreben, gibt es zwei Gruppen: einerseits die radikale Jugend (die die führende Rolle übernimmt) und andererseits die erwachsenen Anhänger*innen und die Pan-Demokrat*innen (die liberale Opposition seit den 1980er-Jahren, die sich für ein allgemeines Wahlrecht unter Beibehaltung des „freien Marktes“ von Hongkong einsetzt). Die junge Generation fordert entschlossener als die ältere, dass die Regierung das umstrittene Auslieferungsgesetz zurückzieht. Unter den Jungen machen sich Sorge und Verzweiflung breit – und die Angst, dass sie in Zukunft immer verlieren werden, wenn sie jetzt nicht gewinnen.

Nach dem 6. Juli fanden drei große Kundgebungen in verschiedenen Bezirken statt. Dabei waren auch einige Gewaltakte zwischen den beiden Seiten zu beobachten. Es ist allerdings immer die Polizei, die am provokantesten und gewalttätigsten auftritt. Trotz der Ausschreitungen werden die Jugendlichen vom größten Teil der Gelben Bänder weiterhin unterstützt. Wie groß ist das Lager der Gelben Bänder? An den Kundgebungen vom 9. Juni, 16. Juni und 1. Juli betrug die Teilnehmerzahl eine Million, zwei Millionen resp. eine halbe Million. Im Gegensatz dazu konnte das Pro-Peking-Lager der Blauen Bänder höchstens 150 000 mobilisieren.

Auch unter den älteren Bürger*innen nimmt die Unzufriedenheit zu. Sie sind frustriert, dass Peking sein Versprechen, ein universelles Wahlrecht einzuführen, nicht eingehalten hat. Und nun werden wohl auch ihre Kinder auf die gleiche Weise enttäuscht und erleben vielleicht noch schlimmere gesellschaftliche Unsicherheiten (z. B. soziale „Durchlässigkeit“ nach unten).

 Wie würden Sie die Beziehung zwischen den Regierungen in Peking und Hongkong charakterisieren?

Die Situation ist völlig absurd: Jeder weiß, dass es Pekings Entscheidung war, das Auslieferungsgesetz durchzupeitschen, aber sowohl Peking wie auch Carrie Lam tun weiterhin so, als ob es sich ausschließlich um die Entscheidung der Regierungschefin gehandelt und Peking nur unterstützend gewirkt hätte.

Peking und Carrie Lam sind selbst schuld, dass nur wenige an sie glauben. Seit Xi Jinping 2012 an die Macht gekommen ist, agiert das Verbindungsbüro in Hongkong nicht mehr so zurückhaltend wie zuvor. Es ist in allen Bereichen der Lokalpolitik sichtbar geworden und mischt sich auch in die Wahlen ein. Carrie Lam hat die Intervention Pekings seit ihrem Amtsantritt vor zwei Jahren freudig und öffentlich unterstützt. Außerdem betrifft das Auslieferungsgesetz auch Taiwan, es geht also über die normale Zuständigkeit der Regierung Hongkongs hinaus. Wie kann man da behaupten, das Gesetz werde allein von Carrie Lam vorgelegt?

Viele gehen davon aus, dass Peking den Gesetzesentwurf als Trumpfkarte in Xis Verhandlungen mit Trump über den Handelskrieg nutzen will. Deshalb die Eile. Die chinesische Zentralregierung versuchte, die Situation zu entschärfen, indem sie Carrie Lam anwies, das Auslieferungsgesetz am 15. Juni auf Eis zu legen. Peking will aber nicht, dass Lam noch weiter zurückkrebst und das Gesetz aufhebt.

Im Moment befindet sich Hongkong in einer Sackgasse. Carrie Lam hat bereits angekündigt, dass „das Gesetz tot ist“, aber weil ihre Regierung keine Glaubwürdigkeit genießt und jeder weiß, dass nicht sie, sondern das Verbindungsbüro das Sagen hat, wird ihr niemand glauben, solange sie das Gesetz nicht offiziell zurückzieht.

Laut Medienberichten kann Carrie Lam das Gesetz aber nicht aufheben, denn dies würde implizieren, dass auch die chinesische Regierung Fehler gemacht hat – etwas Unmögliches, denn für Peking ist die Gesichtswahrung stets von zentraler Bedeutung. Bei der Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) führt der Zwang, einen Gesichtsverlust um jeden Preis zu vermeiden, zu extremer Starrheit. Doch weil Peking überhaupt nicht transparent ist, stellt dies für die KPCh kein großes Problem dar. Hongkong hingegen hält immer noch an bestimmten Elementen der liberalen Staatsführung fest – Rechenschaftspflicht, Meinungsfreiheit, Verfahrensgerechtigkeit, Unabhängigkeit der Justiz. Dies gibt der Bevölkerung mehr Möglichkeiten, herauszufinden, was hinter den verschlossenen Türen des Verbindungsbüros und der Regierungschefin passiert.

Vor diesem Hintergrund wirken die starre Haltung und die Lügen der Regierungen von Hongkong und Peking umso lächerlicher und verwerflicher. Die jungen Demonstrant*innen zögerten denn auch nicht, ihrer tiefen Verachtung für die KPCh Ausdruck zu verleihen: Am Abend des 21. Juli besprühten sie das nationale Emblem im Verbindungsbüro mit Farbe. Unter dem Zwang der Gesichtswahrung bleibt sowohl dem Verbindungsbüro als auch Carrie Lam offenbar keine andere Wahl, als an der alten Politik festzuhalten und bei der radikalen Jugend hart durchzugreifen.

Viele vermuten, dass Peking den Demonstrant*innen Fallen stellt. Tatsächlich ist es ziemlich merkwürdig, dass das Hongkonger Parlament am 1. Juli besetzt werden konnte. Die Polizei zog sich während der Belagerung zurück, sodass die jungen Protestierenden eindringen konnten. Auch im Anschluss an die große Kundgebung vom 21. Juli erfolgte plötzlich aus dem Nichts der Aufruf, zum Verbindungsbüro weiterzumarschieren. Bevor der Zug dort ankam, waren die Polizeikräfte vor dem Gebäude schon abgezogen worden. Die Demonstrant*innen konnten ungehindert Farben und Graffiti an die Wände sprühen. In derselben Nacht griffen Banden wahllos Passagiere in der Yuen Long West Rail an und ein weiterer Jugendlicher beging Selbstmord. All dies hat das Lager der Gelben Bänder zusätzlich angestachelt und könnte die Bewegung weiter radikalisieren.

Die KPCh provozierte in der Vergangenheit schon mehrmals überraschende Ausschreitungen in der Bevölkerung, um später das blutige Durchgreifen zu legitimieren. Wir sollten also genau hinschauen, ob dies zurzeit wieder der Fall ist. Die beunruhigende Seite der Geschichte: Wenn das Pekinger Regime standhaft bleibt, wird ein Volksaufstand in Hongkong wahrscheinlich nicht gut enden.

 Eine der ermutigendsten Aktionen während der Proteste war der Streikaufruf der Gewerkschaften. Leider gelang es ihnen aber nicht, die Arbeiter*innen zu überzeugen. Wie erklären Sie sich diesen Misserfolg?

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad liegt in Hongkong bei 25 Prozent (2017), was keineswegs niedrig ist. Aber diese Zahl wird durch lächerlich niedrige Gewerkschaftsbeiträge erreicht – so niedrig, dass sich die Finanzen der wichtigsten Gewerkschaften nicht auf Mitgliederbeiträge stützen, sondern auf laufende, von der Regierung finanzierte Umschulungsprogramme, auf den Betrieb gewinnorientierter Unternehmen oder auf Mittel aus dem Ausland, insbesondere aus den Vereinigten Staaten. Nur wenige Mitglieder sind wirklich aktiv. Obwohl es viele „Industriegewerkschaften“ gibt, sind die meisten von ihnen entweder sehr klein oder betreffen nur Einzelarbeitsplätze.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass der Streikaufruf (Montag, 17. Juni) keinen Erfolg hatte. Am Tag des Aufrufs rief der Hongkonger Gewerkschaftsverband (HKCTU) auch zu einer Kundgebung in der Nähe der Regierungszentrale auf, aber nur ein paar Hundert Menschen nahmen daran teil.

Die HKCTU-Führung ist zwei Jahrzehnte lang kritiklos der Linie der Pan-Demokraten gefolgt, die für eine Demokratie innerhalb der Grenzen des Grundgesetzes eintreten. Auch als der HKCTU-Führer Lee Cheuk-yan 2011 eine kleine Labour Party gründete, hielt diese an der Politik der liberalen Rechten fest.

In Sachen Arbeitsrechte sind sowohl die Labour Party als auch der HKCTU in den letzten zehn Jahren offener geworden und ein wenig näher zur linken Mitte gerückt.
Doch eine Verbindung mit der aufstrebenden jungen Generation war aufgrund der langjährigen politischen Ausrichtung schwierig. Die Jungen stehen den Pan-Demokraten eher ablehnend gegenüber. Die Unfähigkeit, während der Regenschirm-Bewegung von 2014 einen erfolgreichen Streik zu lancieren, trug zweifellos zum Scheitern bei. Schließlich verloren Lee und ein anderer Abgeordneter der Labour Party in den Parlamentswahlen 2016 ihre Sitze, und Lee konnte dies auch bei den Nachwahlen 2018 nicht korrigieren. Diese Niederlagen haben dazu geführt, dass sowohl der HKCTU wie auch die Labour Party in der jetzigen Bewegung bisher nur eine marginale Rolle spielen konnten.

 Die Protestbewegung hat in Hongkong erneute Diskussionen über das Verhältnis der Sonderverwaltungszone zum chinesischen Festland ausgelöst. Dabei spielen die sogenannten Lokalist*innen, die dem Festland mit Verachtung begegnen, eine wichtige Rolle. Welche Politik verfolgen sie und wie einflussreich sind sie innerhalb der Bewegung?

Westliche Mainstream-Medien tendieren dazu, die Hongkonger Lokalist*innen positiv zu beurteilen, denn sie betrachten sie als demokratische Kämpfer*innen gegen Peking. In Wahrheit ist die Sache aber weit komplizierter. Als die sozialen Bewegungen den chinesischen Begriff „Lokalismus“ neu übernahmen, verwendeten ihn vor allem die Linken. Doch dann wurde der rechte Flügel immer größer und größer, und diese Lokalist*innen sind eher wie Nativist*innen, nämlich sehr fremdenfeindlich.

 

Demonstration 18.08.2019, Quelle: FlickR

Einige Jahre vor der Regenschirm-Bewegung fand diese Strömung unter jungen Menschen immer mehr Anhänger*innen. Ihre Sprecher waren Raymond Wong und der Wissenschaftler Chin Wan-kan. Zusammen mit Raymond Wongs Schützling Wong Yeung-tat bildeten sie ein fremdenfeindliches Trio. Ihre Aktionen in den von der Bewegung besetzten Stadtteilen bestanden darin, die Stimmen anderer Demokrat*innen zum Schweigen zu bringen, unter Anwendung oder Androhung von Gewalt. Sie äußerten sich rassistisch über das chinesische Volk („Heuschrecken“, die man entfernen sollte) und griffen chinesische Einwanderer in Hongkong mit der Behauptung an, sie seien nur auf staatliche Sozialleistungen aus.

Während der Regenschirm-Bewegung attackierte das fremdenfeindliche Trio auch den Studentenverband HKFS (Hong Kong Federation of Students). Nach einem Aufruf von Chin Wan-kan gingen die Lokalist*innen am 12. Oktober 2014 in den Stadtteil Mong Kok, um die Straßenforen des HKFS zu stören. Dass dies in der Folge zur Zerstörung seiner Redetribünen, zu Angriffen auf seine Sicherheitsleute und schließlich zur Demontage des HKFS führte, ist nicht verwunderlich.

Das fremdenfeindliche Trio gab sich radikaler als andere Strömungen. Sein Slogan lautete „Der HKFS vertritt uns nicht“, zudem lehnte es jegliche Führungszeichen oder -symbole ab, insbesondere Tribünen, Fahnen und Versuche, Versammlungen einzuberufen. Wann immer der HKFS ein Diskussionsforum mit einer Redetribüne veranstaltete, waren sie vor Ort, um „Chaidatai“ bzw. den „Abbruch der Tribüne“ zu fordern und in die Praxis umzusetzen.

Bei den Wahlen 2016 musste sich das Trio aber geschlagen geben, wahrscheinlich aufgrund seiner Plumpheit. Stattdessen wurde eine jüngere Generation von fremdenfeindlichen Lokalist*innen gewählt, zum Beispiel aus der Partei Youngspiration. Obwohl diese etwas niveauvoller waren, übernahmen sie die Grundidee des Trios. Ihre Forderung „Abbruch der Tribüne!“ hat auch die junge Generation in der Bewegung gegen das Auslieferungsgesetz beeinflusst. Viele junge Radikale bevorzugen eine „führerlose“ Bewegung, ohne „zentrale Tribüne, die Anweisungen erteilt“.

Der rechte Flügel der Lokalisten-Strömung wird von bestimmten sozialen Schichten unterstützt. Im April 2016, zwei Jahre nach den Besetzungen, zeigte eine Studie, dass die Lokalist*innen 8,4 Prozent Unterstützung genossen, bei Jugendlichen im Alter zwischen 18 und 29 waren es sogar noch mehr.

Menschen, die den Begriff „Lokalismus“ bevorzugen, meinen allerdings nicht immer das Gleiche. So zeigt die Bewegung gegen das Auslieferungsgesetz viel weniger fremdenfeindliche Tendenzen als die Regenschirm-Bewegung. Der Grund dafür ist wohl, dass das alte Trio heute unmodern wirkt. Außerdem haben Lokalist*innen wie jene von Youngspiration erlebt, wie ihre zwei Abgeordneten nach dem von der Regierung erzwungenen Ausschluss aus dem Legislativrat in Untätigkeit verharrten und die jungen Radikalen weitgehend im Stich ließen. Ein Teil der Jungen hegt zwar Vorurteile gegenüber den Festlandchines*innen, aber dies hat sich nicht in einem politischen Programm oder Projekt niedergeschlagen. Anstatt von außen Kritik zu üben, sollte sich die Linke in der Bewegung engagieren und versuchen, die Jungen für sich zu gewinnen.

 Was halten Sie von der Solidarität der Festland­chines*innen mit der Hongkonger Protestbewegung respektive vom Fehlen einer solchen Unterstützung?

Die Repression in Festlandchina unterbindet und isoliert die Solidarität mit dem Widerstand in Hongkong. Neben diesem direkten Vorgehen ist das chinesische Regime aber auch sehr geschickt darin, die öffentliche Meinung zu manipulieren. Selektive Berichterstattung oder komplette Falschmeldungen über Hongkong sind die plumpsten Tricks in diesem Spiel.

Peking hat aber auch auf raffiniertere Weise versucht, das Band zwischen der Bevölkerung Hongkongs und den Festlandchines*innen zu zerschneiden. Manche glauben, dass das fremdenfeindliche Trio und seine wichtigsten Anhänger*innen Provokateure der Kommunistischen Partei sind. Im Jahr 2016 sprachen zwei frisch gewählte Abgeordnete von Youngspiration bei ihrer Vereidigung das Wort China als Chee-na aus, eine abwertende Bezeichnung für die Chines*innen. Danach bewirkte Peking ihren Ausschluss, nebst vier weiteren Unabhängigkeitsbefürwortern. Die unkluge und rassistische Aktion der beiden Lokalist*innen löste in der Folge eine Diskussion über ihre wirkliche Identität aus.

Es ist schwierig zu sagen, inwieweit die Bewegung tatsächlich von Provokateuren infiltriert ist. Objektiv gesehen haben die Lokalist*innen Peking tatsächlich geholfen, Hongkong noch fester in den Griff zu nehmen: Mit ihrer rassistischen Politik und ihren Angriffen auf Besucher*innen vom chinesischen Festland, auf Immigrant*innen und auf demokratische Kräfte haben sie China unnötig provoziert. Zudem haben sie Peking geholfen, die Entfremdung zwischen den Festlandchines*innen und Hongkonger*innen voranzutreiben.

 Wie stark hat die Rivalität zwischen China und den USA die Protestbewegung beeinflusst und welche strukturellen Wurzeln hat diese Rivalität?

Einer der Gründe, warum Peking Carrie Lam dazu brachte, den Gesetzesentwurf am 15. Juni zurückzustellen, war, dass Präsident Xi Jinping am zwei Wochen später stattfindenden G20-Gipfel in Osaka nicht schlecht dastehen wollte. Was die Vereinigten Staaten betrifft, so hatten diese sicher Grund genug, schwierige Fragen zum Auslieferungsgesetz zu stellen. Es soll ja für alle Menschen in Hongkong gelten, auch für ausländische Investor*innen oder für ausländische Besucher*innen auf der Durchreise.

Pekings Entscheidung, den Gesetzesentwurf auf Eis zu legen, erleichtert zwar die Verhandlungen von Xi mit Trump, die Hongkonger Demonstrant*innen haben sich dadurch aber nicht besänftigen lassen. Generell herrscht in den liberalen Medien Hongkongs große Sympathie für die US-Regierung, insbesondere in der Apple Daily. Diese Zeitung ist zwar sehr wichtig, um die Ansichten der Opposition zu verbreiten, gleichzeitig sympathisiert sie aber auch ganz klar mit der US-Regierung und manchmal sogar mit Trump. Die Logik „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ könnte Hongkongs Demokratiebewegung in eine unerwünschte Richtung lenken.

Chinas Kapitalismus ist eine Art „bürokratischer Kapitalismus“, in dem die herrschende Klasse die Zwangsbefugnisse des Staates und die Macht des Kapitals vereint. Diese Art von Kapitalismus ist sehr ausbeuterisch, monopolistisch und insbesondere auch expansionistisch. Daher die Rivalität zwischen den USA und China. Wir müssen dabei aber beachten, dass sich China in vielen Bereichen noch lange nicht auf gleicher Augenhöhe mit den USA befindet.

Angesichts des enormen US-Handelsdefizits gegenüber China klagt Trump permanent über die Ausbeutung der USA durch China. Dieser Vorwurf ist recht einseitig. Tatsächlich stammt die Hälfte der chinesischen Exporte von ausländischen Unternehmen, die in China investieren, darunter auch US-Unternehmen. Insofern dürfen wir nicht davon ausgehen, dass von diesem US-Handelsdefizit ausschließlich chinesische Unternehmen profitieren. Trumps Handelskrieg wird daher beiden Seiten schaden. Handel Jones hat vor einiger Zeit ein Buch mit dem Titel Chinamerica geschrieben, das die engen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern beschreibt. Trumps Handelskrieg gegen China gleicht m. E. eher einer doppelköpfigen Schlange, die sich selbst bekämpft: Keiner der beiden Köpfe kann sich vor dem Angriff des anderen verstecken. So verkaufte General Motors in China mehr Autos als in den USA. Laut einem JP Morgan-Bericht von 2015 sind die Umsätze der im S&P 500 vertretenen Technologieunternehmen und namentlich der Komponentenhersteller stark von China abhängig.

Trump will das Handelsdefizit gegenüber China drastisch senken, aber das ist schwer zu erreichen, wenn die Sparquote in den USA weiterhin so niedrig bleibt. Selbst wenn es Trump gelingt, das Defizit zu verringern, bedeutet das nur, dass andere Länder in die entstehende Lücke springen werden und das Handelsdefizit weiter bestehen wird. Die Arbeitsplätze dadurch zu sichern, wird erstrecht schwer fallen. Denn wenn der Handel schrumpft, werden als erstes die Arbeitsplätze betroffen sein.

In den Verhandlungen mit China erheben die USA viererlei Forderungen: kein erzwungener Technologietransfer, Streichung staatlicher Subventionen für Staatsunternehmen, besserer Marktzugang für ausländische Investoren und mehr Schutz für geistiges Eigentum. Peking lehnte letztlich diese Forderungen ab. Die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua teilte am 25. Mai mit, dass diese Forderungen der USA Chinas wirtschaftliche Souveränität bedrohten. Die Handelsgespräche wurden ausgesetzt.

Ihren letzten Handelskrieg begannen die USA in den 1980er-Jahren mit Japan, der (damals noch) zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt. Die Auseinandersetzung endete im Wesentlichen mit dem Zustandekommen des von den USA vermittelten Plaza-Abkommens. Es erzwang eine deutliche Aufwertung des japanischen Yen, gefolgt von einem Strafzoll von 100 Prozent auf Importe aus Japan. Der japanischen Wirtschaft wurde so ein harter Schlag versetzt, trotzdem blieb die Allianz zwischen den USA und Japan intakt.

Doch diesmal ist es anders, zum Teil weil Peking aus dem japanischen Fall gelernt hat. Seit den 1980er-Jahren haben chinesische Ökonom*innen, Strateg*innen und Nationalist*innen immer wieder über den japanischen Fall diskutiert. Das Argument der Nationalist*innen zog dabei immer am stärksten: China kann sich als Entwicklungsland keine von den USA zugefügte Niederlage im Stil Japans leisten und China muss sich gegen die USA wehren, wenn Washington seine Zähne zeigt. Genau das hat Xi bisher getan.

Im Verständnis der Pekinger Hardliner folgt aus der Geschichte noch eine weitere Lektion: Will ein zweitrangiges Land nicht überfallen oder schikaniert werden, so kann es nur versuchen, selbst die führende Hegemonialmacht zu werden. Im Gegensatz zu Japan wird es die KPCh unter Xi nicht ewig akzeptieren, in der zweiten Reihe zu stehen. Anders als Japan will Xi die „westliche“ Version der Globalisierung durch seine „chinesische“ Version ersetzen, und zwar hier und jetzt.

Während die früheren US-Regierungen China als „strategischen Partner“ bezeichnet haben, gilt China nun laut US National Defence Strategy Report vom vergangenen Jahr als „strategischer Wettbewerber“. Sicherlich hat auch G.W. Bush einmal den gleichen Begriff in Bezug auf China verwendet. Aber das war bloße Taktik in dem sog. „Spannungs- und Stabilisierungskreislauf“ in den Beziehungen zwischen den USA und China in den letzten vier Jahrzehnten.

In der Regel wettern US-Präsidenten während des Wahlkampfs gegen China, und sobald sie im Amt sind, treiben sie mit dem Land wieder Geschäfte. Doch dieses Muster scheint nun vorbei zu sein. Wahrscheinlich wird uns Trump in naher Zukunft mit taktischen Wendungen überraschen, besonders wenn die Wahlen von 2020 näherrücken. Der allgemeine Trend einer sich verschärfenden Rivalität zwischen den USA und China dürfte jedoch anhalten, denn diesmal sind sich die Demokraten und die Republikaner in der China-Politik einig.

Es handelt sich hier nicht um einen gewöhnlichen Handelskrieg, sondern um die erste Schlacht in einem länger dauernden USA-China-Wettbewerb, eine Schlacht, die sich verheerend auf die Welt auswirken könnte.

 Was sollten fortschrittliche Kräfte in Festlandchina, Hongkong, den USA und anderswo tun, um demokratische Bewegungen in Hongkong zu unterstützen und den Spannungen zwischen den USA und China entgegenzuwirken?
      
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Die beiden rivalisierenden Lager verlangen von den Menschen, sich zu entscheiden: „entweder für Washington oder für Peking“. Alle fortschrittlichen Kräfte, sei es in oder außerhalb von Honkong, sollten sich dieser Forderung verweigern. Für die arbeitende Bevölkerung in Hongkong, China oder den USA kann dies keine echte Wahl sein. Für die Arbeiter*innen gibt es in diesem Wettbewerb nichts zu gewinnen.

Trump verfolgt das Projekt, die amerikanische Armee und ihre Unternehmen wieder groß zu machen und dafür die Arbeitnehmer*innen und die Umwelt zu opfern, in den USA, in China und im Rest der Welt. Xis Projekt der Modernisierung Chinas, das im Namen des Volkes durchgeführt wird, entspricht nicht den Interessen der Arbeitnehmer*innen. Xi verteidigt seine Interessen im Südchinesischen Meer und setzt gleichzeitig die Zukunft Chinas aufs Spiel – seine natürlichen Ressourcen, sein ökologisches Gleichgewicht und die Gesundheit seiner Bevölkerung. Er kämpft für die Vermögen und die Stellung der Mandarine und zerstört gleichzeitig die Lebensgrundlagen der Menschen. Hongkong war für den Aufstieg Chinas von zentraler Bedeutung, und nun begleicht Peking seine Schuld, indem es sein Versprechen bricht, Hongkong das allgemeine Wahlrecht zu gewähren.

Wir dürfen nicht in die nationalistische Falle tappen, die Aggression der USA oder die Aggression Chinas zu unterstützen. Das ist der erste Schritt, um der Rivalität zwischen den USA und China entgegenzutreten und zu verhindern, dass sie zu einem Krieg führt.

Aus: Jacobin, 01.08.2019, , ergänzt um einige Passagen aus einem anderen Artikel des Autors

Au Loong Yu ist Autor und Aktivist in verschiedenen NGOs. Der Titel seines neuesten Buchs lautet „China’s Rise: Strength and Fragility“.

Kevin Lin setzt sich für Arbeitsrechte ein und forscht zu China.

Übersetzung: Alena W.



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz