Nachruf

Karol Modzelewski: Zwischen den Fronten

Karol Modzelewski wurde in den 1960er Jahren als führender Dissident gegen die in Polen herrschende staatssozialistische Diktatur bekannt – aber er blieb bis zuletzt ein Sozialist.

David Ost

Karol Modzelewski, ein Riese der polnischen Linken, starb am 28. April im Alter von einundachtzig Jahren. Er ist im Westen am bekanntesten als Mitautor (zusammen mit Jacek Kuroń) des Manifests „Ein offener Brief an die Partei“ von 1964, das die bürokratische Diktatur Polens anprangerte und eine Revolution forderte, um einen echten Sozialismus auf Grundlage der Arbeiterdemokratie herbeizuführen. In Polen ist er jedoch ebenso bekannt für seine fünfundfünfzig Jahre als Grundsatzkritiker und sozialistischer Denker sowie als lautstärkster und konsequentester Gegner des Kapitalismus seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus im Jahr 1989.

Für diejenigen, die nur mit den aktuellen politischen Spielräumen vertraut sind, könnte Modzelewskis Leben ein Widerspruch sein. Wie konnte er der beständigste Gegner der kommunistischen Herrschaft und gleichzeitig der beständigste Kritiker des folgenden kapitalistischen Ansturms sein? Wie konnte er so hart daran arbeiten, den Staatssozialismus zu stürzen, seine Entschlossenheit trotz dreimaliger Haft bewahren und dann seinen ehemaligen Solidarność-Genossen mitteilen, dass er „nicht achteinhalb Jahre im Gefängnis gesessen hat, um den Kapitalismus aufzubauen“?

Modzelewski sah hier überhaupt keinen Widerspruch. Er war ein Kämpfer für einen Sozialismus, der die Arbeiter*innen befähigte und sowohl die bürokratische Diktatur als auch die liberale kapitalistische Demokratie als grundlegend feindlich gegenüber den Interessen der Arbeiterklasse ansah. Das ist der Geist, den er heute an die polnische Linke weitergibt.


Interessante Zeiten


Von Beginn seines Lebens an war Modzelewski in Ereignisse großer Veränderungen verstrickt. Er wurde 1937 als Sohn kommunistischer Eltern in Moskau geboren und war auf dem Höhepunkt der stalinistischen Säuberungen weniger als drei Wochen alt, als sein Vater von den sowjetischen Sicherheitskräften verhaftet wurde. Als er gerade acht Jahre war, heiratete seine Mutter – die Tochter eines Menschewiken, der ebenfalls in den sowjetischen Gefängnissen gelandet war – den polnischen Kommunisten Zygmunt Modzelewski, der selbst zwei Jahre in sowjetischen Gefängnissen saß, nachdem er im Rahmen von Stalins Angriff auf die Kommunistische Partei Polens (PKP) verhaftet und gefoltert worden war.

Stalin hatte 1938 unter dem Vorwand, die PKP sei eine „Spionagehöhle“, die Auflösung der Partei angeordnet. Fast jeder polnische Kommunist, den Stalin in die Hände bekommen konnte, wurde entweder inhaftiert oder erschossen.

Ironischerweise überlebten nur diejenigen, die sich bereits in den Gefängnissen des rechtsextremen polnischen Regimes befanden, oder die mutig genug waren, gegen Franco in den Internationalen Brigaden in Spanien zu kämpfen.

Aber als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, stellte Stalin fest, dass er doch Bedarf für polnische Kommunisten hatte. Zygmunt, der für die neue polnische Regierung bestimmt war, zog mit Karol und seiner Mutter nach Warschau. Karol lernte Polnisch, während sein Vater von 1947 bis 1951 als polnischer Außenminister tätig war.

Typisch für kommunistische Eltern in dieser Zeit, hatten ihm weder seine Mutter noch sein Vater etwas über die stalinistischen Verfolgungen erzählt. Als sie sich dann doch 1954 am Sterbebett seines Vaters öffneten, erlebte Polen gerade die erste Welle des poststalinistischen marxistischen Humanismus.

Diese neue politische Richtung vertrat die Ansicht – die oft auf kürzlich übersetzten Schriften des jungen Marx basierte -, dass der Sozialismus eine umfassende Demokratie am Arbeitsplatz erfordert und nicht mit autoritären, bürokratischen Regeln vereinbar ist. All dies machte Karol zu einem radikalen linken Revisionisten [1], der entschlossen war, den wirklichen Sozialismus aus dem Griff einer sich selbst bedienenden staatssozialistischen Bürokratie zu befreien.

Modzelewski wurde 1956 im „polnischen Oktober“ politisch erwachsen, als weit verbreitete Forderungen nach einem humanistischen Marxismus als Alternative zu Polens stalinistischem Modell nach 1945 laut wurden. Nach der blutigen Niederschlagung des Streiks der Posener Metallarbeiter im Juni 1956, einem letzten Zucken des polnischen Stalinismus, waren im ganzen Land Betriebsräte entstanden. Die Räte wurden schnell zum Schauplatz demokratischer sozialistischer Opposition und waren bereit, ihre Autonomie gegen Angriffe der Partei und sogar gegen eine mögliche sowjetische Invasion zu verteidigen, wie dies in der Tat bald in Ungarn geschehen würde.

 

Karol Modzelewski, 1989 (Quelle: Polnischer Senat)

Obwohl Modzelewski gerade mit aufstrebenden intellektuellen Ambitionen in die Warschauer Universität eintrat, galten sein Aktivitäten 1956 bemerkenswerterweise nicht den protestierenden Studenten, sondern dem Warschauer Autoarbeiterrat, dessen Vorsitzender Lechosław Goździk de facto der Führer der polnischen Rätebewegung war.

Der polnische Stalinismus wurde im Oktober gestürzt und Modzelewski unterstützte zunächst den neuen Parteichef Władysław Gomułka. Doch als Gomułka die Arbeiterräte abwickelte und die bürokratische Diktatur wieder aufbaute, untersuchten Modzelewski und sein Genosse Jacek Kuroń – der Geschichtsstudent, den er 1962 an der Warschauer Universität traf – alle marxistischen oppositionellen Werke, die sie finden konnten, und produzierten den wegweisenden „Offenen Brief".

Zu sagen, dieser Text sei eine Inspiration für antistalinistische Linke weltweit gewesen, wäre eine Untertreibung. In den fünfunddreißig Jahren seit Trotzkis Deportation aus der Sowjetunion war kein systematisches radikales linkes Manifest gegen den Sozialismus nach sowjetischem Vorbild von innen heraus veröffentlicht worden.

Es hatte eine Menge Kritik und Beschwerden gegeben, und 1955 erregte Milovan Djilas mit Die neue Klasse großes Aufsehen und beschuldigte das System, es würde wahre sozialistische Prinzipien verraten. Aber anstatt nur den Verrat des Sozialismus zu beklagen, haben Modzelewski und Kuroń eine marxistische, im Wesentlichen trotzkistische Diagnose gestellt und eine neue Arbeiterrevolution gefordert, um die statische Bürokratie hinwegzufegen und einen echten Sozialismus einzuführen, der auf Arbeitermacht und Partizipation beruht.

Modzelewski, damals ein Doktorand der Universität Warschau, der mittelalterliche Geschichte studierte, erhielt für die „Veröffentlichung“ des Offenen Briefes (insgesamt siebzehn getippte Exemplare und Durchschläge) seine erste Haftstrafe, die zweieinhalb Jahre dauerte, bevor er entlassen wurde, als gerade eine neue Generation von Studenten, angeführt von Adam Michnik, den Boden für eine neue Welle von Protesten vorbereitete.

Obwohl er nur lose in die Studentenbewegung von 1968 verwickelt war, wurde Modzelewski als eine solche Bedrohung für das Regime angesehen, dass er schnell wieder verhaftet wurde, diesmal für fast drei Jahre. Nach seiner Freilassung im Jahr 1971, einer ruhigen, aber erbärmlichen Zeit, die die jüngste Unterdrückung der Studentenbewegung im Jahr 1968 und der massiven Proteste der Werftarbeiter*innen im Jahr 1970 mit sich brachte, zog Modzelewski nach Breslau, um sein Studium fortzusetzen. Dies war der einzige Ort, der ihm von den Behörden gestatten worden war.

Als die Arbeiter*innen in Danzig 1980 in den Streik traten, um die Gewerkschaft Solidarność zu gründen, half Modzelewski beim Aufbau der Gewerkschaft in Breslau und wurde bald ihr offizieller nationaler Sprecher. Dies führte zu seiner dritten Gefängnisstrafe, als die kommunistischen Behörden das Kriegsrecht verhängten und Solidarność illegalisierten. Modzelewski wurde an dem Tag verhaftet, an dem das Kriegsrecht im Dezember 1981 verhängt wurde, und saß bis zu seiner Freilassung im Jahr 1984 weitere drei Jahre im Gefängnis.


Für den demokratischen Sozialismus


Modzelewski hatte sich seit dem „Offenen Brief“ stark verändert. Er gab seinen Ruf nach Revolution bald nach 1968 auf und sah ihn sowohl als unpraktisch als auch als unerwünscht an, da Revolutionen immer eine demokratische Beteiligung von unten im Interesse des Erhalts der „wahren“ Demokratie abzulehnen schienen, die von den Revolutionären selbst verkörpert wird. Er unterstütze die Ablehnung des Avantgardismus durch die polnische Neue Linke in den 1970er Jahren zugunsten eines unabhängigen sozialen und politischen Aktivismus.

Aber seine Annäherung an die Neue Linke in der Frage einer breiten Bürgerbeteiligung war weiterhin in der alten linken Konzeption des Primats der Arbeiterklasse verwurzelt, und dies war nirgends deutlicher als in seiner Arbeit in Solidarność. Zu oft wurde sie, basierend auf dem, was nach der Machtübernahme ihrer Führer 1989 geschah, fälschlicherweise als antisozialistische Bewegung identifiziert, aber die Solidarność, in der und für die Modzelewski 1980/81 arbeitete, basierte auf schlagkräftigen Gewerkschaften an den Arbeitsplätzen, die die Grundlage für eine wiederbelebte demokratische Gesellschaft sein sollten.

Er setzte sich in Solidarność für eine friedliche Umgestaltung des Systems ein, in dem starke Arbeitnehmerorganisationen und eine umfassende Bürgerbeteiligung zu einem demokratischen Sozialismus führen würden, der entweder auf weiterbestehendem Staatseigentum oder umfassenden wirtschaftlichen Interventionen sozialdemokratischen Typs beruht. (Es gab viele Hitzköpfe in der Bewegung, erinnerte sich Modzelewski später, "aber niemand forderte die Privatisierung der Wirtschaft oder die Reprivatisierung von Eigentum, das 1945 vom Staat beschlagnahmt worden war. Niemand.")

Seine dauerhafte Verbundenheit mit der alten Linken zeigte sich in seinen berühmtesten Worten als Solidarność-Aktivist, als er eine Woche vor der Einführung des Kriegsrechts drohte, wenn die Partei gegen Solidarność vorgehen würde, "dann wäre dies ihr letztes Gefecht", unter Verwendung der Worte aus der letzten Strophe der polnischen Version der Internationalen.

Karol Modzelewski, 2016 (Quelle: Wikimedia)

 

Modzelewski beteiligte sich nicht an den Runden Tischen, die den Staatssozialismus 1989 beendeten, obwohl er doch bereit war, bei den folgenden Wahlen für einen Platz im Senat zu kandidieren. Doch als seine ehemaligen Solidarność-Genossen, zu denen auch Jacek Kuroń gehörte, zügig den Aufbau einer neoliberalen kapitalistischen Wirtschaft forcierten und versuchten, die Arbeiter*innen zu marginalisieren, da sie den proletarischen Zorn nun als die größte Gefahr für die „Demokratie“ betrachteten, brach Modzelewski entschieden mit ihnen. Zusammen mit anderen ehemaligen Dissidenten half er, eine neue sozialdemokratische Partei zu gründen. Als dieses Projekt scheiterte, zog er sich aus der formalen Politik zurück und kehrte zu seiner Arbeit als Geschichtsprofessor zurück, ergänzt durch häufige Aufsätze, die eine scharfe Kritik des Wirtschaftssystems darstellten, das seine alten Genossen geschaffen hatten.


Das Ende der Solidarität?


Trotz der Versprechen der neuen Führer gingen Löhne und Arbeit in den neunziger Jahren dramatisch zurück, und die gesamte gesellschaftliche Solidarität verschwand, da jeder ermutigt wurde, nur an sich selbst zu denken. Zu Beginn des neuen Jahrtausends, als der neoliberale Kapitalismus zunehmend als der wahre Gegner des Kampfes erschien und eine neue Generation ohne Erfahrungen mit dem Staatssozialismus die Bühne betrat, entdeckten die Menschen Modzelewski wieder und schätzten seinen konsequenten Sozialismus und sein Gefühl für Solidarität. Und als die rechtsextreme Partei für Recht und Gerechtigkeit [PiS] 2015 die Wahlen gewann, dämmerte sogar den Liberalen, dass es möglicherweise nicht der beste Weg zum Aufbau einer stabilen demokratischen Gesellschaft war, dass man den Kapitalismus über die polnische Gesellschaft hinwegpflügen ließ.

Zufällig hatte Modzelewski auch den Aufstieg der Rechten vorausgesehen.

In einem gemeinsam mit Jacek Kuroń (der inzwischen seinen Dienst als Arbeitsminister 1990 bereute und zu seinen früheren Überzeugungen zurückgekehrt war) verfassten Artikel aus dem Jahr 2002 sprachen die ehemaligen Radikalen des „Offenen Briefes“ von der Notwendigkeit einer neuen Linkspartei, um zu verhindern, dass die Unzufriedenheit mit den wirtschaftlichen Problemen erfolgreich durch die Rechte mobilisiert wird: „Nicht Konservative oder Liberale werden die Alternative zu einer schwachen oder nicht existierenden Linken sein, sondern Populisten außerhalb des heutigen politischen Spektrums. Machen wir uns keine Illusionen: Sie werden es sein, die die Loyalität der von der Linken Verlassenen einfangen.“

Modzelewski ist eine faszinierende und wichtige Figur für die Linke weltweit, dessen politische Schriften es verdienen, in dieser Zeit der faschistischen Wiederbelebung übersetzt und diskutiert zu werden, da wir einer globalen politischen Krise mit potenziell revolutionären Auswirkungen entgegen gehen.

Modzelewski hinterlässt ein linkes Erbe, das gerade deshalb reich ist, weil es nicht so geradlinig war. Während er zeitlebens ein konsequenter Sozialist war, gab er doch unterschiedliche Antworten darauf, wie der Sozialismus tatsächlich aufgebaut werden könnte.

Er hat früh mit der regierenden Kommunistischen Partei Polens gebrochen, aber mit der Begründung, dass sie der Arbeiterdemokratie und nicht der liberalen Demokratie feindlich gegenübersteht. Obwohl er 1971 im Gefängnis saß, als Edward Gierek nach Gomułkas blutiger Unterdrückung des Werftarbeiterstreiks an die Macht kam, war Modzelewski von Giereks persönlichen Besuchen an den Orten der Proteste und seinem direkten Appell an die Arbeiter*innen, gemeinsam einen neuen Typ des Sozialismus aufzubauen, begeistert.

      
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Während jüngere Oppositionelle wie Adam Michnik dies für nichts anderes als eine Täuschung hielten, hoffte Modzelewski zeitweise, dass aus dem bestehenden System noch eine Art echte Arbeiterdemokratie hervorgehen könnte. Sogar in den 1980er Jahren, als andere Oppositionelle die Partei entweder gänzlich ablehnten oder es für angebracht hielten, nur mit liberalen Reformern zusammenzuarbeiten, um die kapitalistische Demokratie aufzubauen, hoffte Modzelewski manchmal, dass sich innerhalb der Parteikreise noch eine Politik für die Arbeiter herausbilden könnte.

In den letzten Jahren hatte er mit den gleichen Dilemmata zu kämpfen, mit denen ein Großteil der heutigen globalen Linken konfrontiert ist. Er glaubte an die Bedeutung liberaldemokratischer Institutionen und lehnte Polens derzeitige rechte Partei für Recht und Gerechtigkeit wegen ihrer Angriffe vollständig ab. Er glaubte jedoch nicht, dass die heutige radikale Rechte durch die Rückkehr zu einem Liberalismus besiegt werden kann, der das Problem der Marginalisierung der Interessen der Arbeiterklasse nicht anspricht.

Dennoch stellen sich neue Fragen. Was bedeutete Arbeiterdemokratie in einer Zeit flexibler Arbeit und leichter Kapitalflucht? Sollen die Arbeiter*innen ihre Arbeitsplätze kontrollieren oder nur höhere Löhne und Zulagen garantiert bekommen? Sollten Gewerkschaften, die weitaus weniger Arbeitnehmer repräsentieren als jemals zuvor in den letzten zwei Generationen, ein Vetorecht haben, oder sollte der Sozialismus heute eine Vielzahl von Bürgergruppen mit Macht ausstatten?

Mit anderen Worten hat Modzelewski sich bis zum Ende mit den großen Fragen auseinander gesetzt, mit denen alle Sozialisten in der Zeit nach 1989, in Polen und anderswo, konfrontiert waren.

David Ost ist Professor für Politikwissenschaft an den Colleges Hobart und William Smith und Autor von The Defeat of Solidarity: Anger and Politics in Postcommunist Europe.
Übersetzung aus dem Englischen: Björn Mertens



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2019 (Juli/August 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Als „Revisionist“ wird in der Geschichtswissenschaft ohne Wertung jeder bezeichnet, der ein bisher anerkanntes Geschichtsbild verändern (revidieren) will. Als „Revisionisten“ wurden in Polen in den 1960er Jahren diejenigen bezeichnet, die die KP von innen heraus verändern wollten; heute bezeichnen wir diese Strömung meist als „Erneuerer“. (Anm. d. Üb.)