Venezuela

Venezuela am Abgrund

Mike Gonzalez

Mit einer US-Intervention in Venezuela soll den „progressiven Regierungen“ in Lateinamerika endgültig der Garaus gemacht werden; weder Maduro noch Guaidó repräsentieren die Interessen der einfachen Menschen in Venezuela. [1]

Die Truppen, die an den Grenzen zwischen Venezuela und Brasilien sowie Kolumbien zusammengezogen werden, sind nicht weniger bedrohlich für Venezuela, weil sie angeblich „humanitäre Konvois“ beschützen sollen. Und das Konzert „Venezuela Aid Live“, das der britische Geschäftsmann Richard Branson am 22. Februar in Cúcuta auf der kolumbianischen Seite der Grenze organisieren ließ, verdeckt schlicht die wirklichen Absichten hinter dieser sogenannten Hilfe. Donald Trump und seinen neokonservativen Gehilfen John Bolton und Mike Pompeo ist an dem Wohlergehen des venezolanischen Volkes nichts gelegen – ebenso wenig wie ihren Vorgängern in Bezug auf Libyen, Ruanda und zahllosen weiteren Beispielen für trügerische Hilfsmissionen, bei denen es um nichts als Streben nach Macht und Vorherrschaft ging. Wie glaubhaft kann solch eine Operation zur „Rettung“ Venezuelas sein, wenn sie mit dem Bestreben zusammenfällt, sechs Milliarden Dollar für eine Mauer auszugeben, mit der verarmte Migrant*innen davon abgeschreckt werden sollen, nach Norden zu ziehen, um Arbeit zu suchen?

Die Krise in Venezuela ist real, auch wenn Nicolás Maduro heuchlerisch darauf besteht, alle in Venezuela hätten für ihre Bedürfnisse genügend Nahrungsmittel und Arzneien. Zweck der Militäroperation ist es jedoch nicht, die Krise anzugehen, es geht nur um ein paar Fotos von voll bepackten Lastwagen. Zweck ist es, die Krise auszunutzen, um wieder Zugriff auf die riesigen mineralischen Vorkommen des Landes zu bekommen. Venezuela, daran ist zu erinnern, verfügt über die größten nicht erschlossenen Ölvorräte auf der Welt, nicht zu reden von immensen Vorkommen an Mineralien, Erdgas, Wasser, Diamanten und weiteren nicht genutzten Ressourcen. 2005, sieben Jahre nach seiner Wahl zum Präsidenten, ist das venezolanische Erdöl von Hugo Chávez wieder in staatliches Eigentum überführt worden. Die staatliche Erdölgesellschaft PDVSA verkaufte und verkauft nach wie vor über das Tochterunternehmen Citgo etwa eine halbe Million Barrel in den USA. Trumps Sanktionen sorgen jetzt dafür, dass dieses Einkommen versiegt.

Der potenzielle Reichtum, der unter der Erdoberfläche Venezuelas liegt, ist es, worauf Trump und seine ganz besonderen Freunde aus den multinationalen Energiekonzernen ein Auge geworfen haben. Die Schwäche des venezolanischen Staates nährt bei ihnen die Zuversicht, dass sie die Kontrolle über diese Gewinn versprechenden Anlagefelder zurückgewinnen könnten – und Juan Guaidó verspricht, dass er liefern wird. Das zentrale Element der bolivarischen Revolution von Hugo Chávez bestand ja darin, dass der Staat die Einnahmen aus dem Öl für sich beansprucht und sie zum Nutzen der Mehrheit der Bevölkerung ausgibt. Das erzürnte zu Beginn der Regierungszeit von Chávez die Bürokratie des venezolanischen Staates, die bis dahin diese Gewinne unter sich aufgeteilt hatte, wobei der Löwenanteil allerdings in die Heimatländer der multinationalen Konzerne floss, die das Öl förderten, weiterverarbeiteten und vermarkteten. Washingtons Feindseligkeit gegenüber Chávez setzte ein, als Chávez diesem für die Konzerne so komfortablen Arrangement nach 40 Jahren ein Ende setzte.

Es gibt weitere Gründe für Trumps Eingreifen. Einer ist politischer Art – nämlich dem Geist endgültig den Garaus zu machen, der während der „Pink Tide“ [2] zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika fortschrittliche Regierungen an die Macht gebracht hatte, und die Welle zu verstärken, mit der während der letzten Jahre in Chile, Argentinien, Kolumbien und insbesondere in Brasilien mit dem Neofaschisten Bolsonaro reaktionäre Kräfte ans Ruder gekommen sind.

Das andere Thema, das allerdings in der aktuellen Berichterstattung kaum erwähnt wird, ist imperialistische Rivalität. In dem nostalgischen Traum, den Trump mit seiner Rhetorik von „Make America Great Again“ beschwört, war Lateinamerika einstmals der „Hinterhof“ der USA, der Reichtum Lateinamerikas nährte das Wirtschaftswachstum der USA auf Kosten der Bevölkerungen dieser Länder. Heute sind die USA nicht mehr der einzige Geier, der über den Ressourcen Lateinamerikas seine Kreise zieht. In den letzten 20 Jahren hat sich China zu einem bedeutenden Investor und Kreditgeber für Lateinamerika entwickelt, insbesondere für die Regierungen der „Pink-Tide-Staaten“. Die chinesischen Investitionen in Venezuela belaufen sich auf 60 Milliarden US-Dollar. Die Kredite, hauptsächlich für den Bau öffentlicher Wohnungen, werden mit Erdöl zurückgezahlt. Chinesische multinationale Unternehmen investieren unter extrem günstigen Bedingungen auch in die Rohstoffindustrie, in den Ölsektor und in den Bergbau. Auch Russland sieht Venezuela als Stützpunkt für seine Expansionspläne in der Region. Nicht nur investiert es dort stark; im Rahmen eines kürzlich abgeschlossenen Militärhilfe-Abkommens erhält Venezuela auch Waffen von Russland. Der Imperialismus ist der Feind des venezolanischen Volkes – aber er spricht mehrere Sprachen... Allen beteiligten Mächten geht es um die Ausbeutung der Ressourcen in Venezuela und in Lateinamerika generell; keine Macht hat humanitäre Ziele irgendwelcher Art.


Schein und Sein


In der Konfrontation zwischen Guaidó und Maduro, den beiden Konkurrenten um das Präsidentenamt, vertritt keiner von beiden die Interessen der Masse der Venezolaner*innen. Juan Guaidó war bis zum 23. Januar dieses Jahres ein nahezu unbekannter venezolanischer Politiker. Er ist der Präsident der Nationalversammlung – ein Posten, der im gegenseitigen Einvernehmen zwischen den verschiedenen rechten Parteien wechselt, die zusammen eine Mehrheit in der Versammlung haben. Das ist kein direkt gewählter Posten, was in den Berichten über ihn nie erwähnt wird. Er ist auch Mitglied von „Voluntad Popular“ (Volkswille), der am weitesten rechts stehenden unter den Parteien des Oppositionsbündnisses, die sich „Mesa de la Unidad Democrática“ (MUD, Tisch der Demokratischen Einheit) nennt – zu Unrecht, denn die Mitglieder können sich über nichts anderes als ihre Opposition gegen Maduro einigen.

Seltsamerweise behauptet „Voluntad Popular“ von sich, der Sozialistischen Internationale anzugehören, was einige Leute in der Labour Party dazu veranlasst hat, sie als „Schwesterorganisation“ zu bezeichnen. In Wirklichkeit handelt es sich nicht um eine sozialdemokratische Organisation, sondern um eine reaktionäre Gruppierung, die die gewalttätigen Straßensperren unterstützte, die zwischen 2014 und 2018 immer wieder auf den Straßen Venezuelas errichtet wurden und ein hohes Maß an Zerstörung und viele Tote forderte. Es ist die Partei mit den engsten Verbindungen nach Washington. Leopoldo López, ihr Gründer und führender Kopf, ist seit vier Jahren in Haft, aber seine Frau hat sowohl Obama als auch Trump häufig im Weißen Haus besucht und häufig Besuchstouren bei rechten europäischen Parteien gemacht. Eine Folge von Guaidós plötzlicher Prominenz wird dem Anspruch von „Voluntad Popular“ Gewicht verleihen, die Opposition anzuführen, in der diese Partei bis jetzt nur eine Minderheit dargestellt hat.

Die gegenwärtige Nationalversammlung wurde im Dezember 2015 mit 63 % Beteiligung gewählt. Das Ergebnis kam für das Maduro-Regime völlig unerwartet. Es war umso bemerkenswerter, als es kein Ausdruck einer Rechtswende war, sondern auf die Nichtteilnahme von zwei Millionen Anhänger*innen des Chavismo zurückging. Es war ein Protest gegen die heraufziehende Krise und, wie inzwischen klar ist, gegen die verheerende Lage. Die ganze Zeit über waren grundlegende Güter knapp, es gab eine Krise im Gesundheitsbereich, einen Rückgang der Produktion und riesige Preissteigerungen.

Maduro hatte die Präsidentschaftswahlen im April 2013 nach Chávez’ Tod gewonnen, jedoch mit einer Mehrheit von weniger als 1 Prozent gegenüber seinem rechten Gegner Henrique Capriles. Während die Mehrheit der Bevölkerung unverkennbar loyal zu Chávez stand, suchte Maduro die Popularität von Chávez auszunutzen (während des gesamten Wahlkampfs ließ er immer wieder Chávez-Reden abspielen, und er behauptete, der tote Präsident säße auf seinen Schultern), es gelang ihm aber nicht, wieder die 60 %-Mehrheit von Chávez im Parlament zu gewinnen. Dies war nicht nur mit der sich verschärfenden Wirtschaftskrise zu erklären, gegen die er überhaupt nichts unternahm, sondern auch mit dem Charakter des Regimes, das zunehmend zentralisierter, autoritärer und korrupter wurde und in dem das Militär eine immer größere Rolle spielte. Die staatliche politische Organisation, die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV), agierte als ein Instrument der Macht; auf der einen Seite teilte sie im Tausch gegen Loyalität Belohnungen, Posten und Vergünstigungen aus, auf der anderen kontrollierte und hegte sie örtliche Unzufriedenheit ein.

Der Maduro-Staat hat seine Wurzeln jedoch in der Chávez-Zeit. Nachdem Chávez 2006 seine zweite Präsidentschaftswahl mit einer größeren Mehrheit gewonnen hatte, kündigte er in seinem wöchentlichen Fernsehprogramm die Gründung einer neuen Partei – der PSUV – an. Er versprach, es werde eine sozialistische Massenpartei sein, die in ihren Strukturen demokratisch und ihrer Mitgliedschaft gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Fast 6 Millionen traten innerhalb weniger Wochen bei. Was sich herausbildete, war jedoch keine Partei, die den in der bolivarischen Verfassung von Venezuela von 1999 festgelegten Grundsätzen gerecht wurde. Darin ist festgehalten, dass die neue Bolivarische Republik eine partizipatorische Republik sein wird, in der das Volk das Subjekt des Prozesses ist („democracia participativa y protagonista“). Innerhalb weniger Wochen wurde klar, dass es sich bei der PSUV um eine Partei handelt, die dem Modell der kommunistischen Partei Kubas nachempfunden war, die alles andere als demokratisch oder partizipativ ist. Sie ist eine in hohem Maße zentralisierte Partei mit hierarchischer Struktur, in der die Rolle der Basis schlicht darin besteht, den Entscheidungen der Führung zu applaudieren und sie auszuführen.

Chávez’ letztes Dokument war sein Wirtschaftsplan für den Zeitraum 2013 bis 2019 („Plan de la Patria“). Im Vorwort dazu räumte Chávez ein, dass es ihm nicht gelungen war, den notorisch korrupten venezolanischen Staat grundlegend umzuwandeln oder den von ihm ausgerufenen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ entscheidend voranzubringen. Seine Regierungen hatten weder die traditionellen Machtpositionen der Bourgeoisie untergraben noch ihren zentralen Machtmechanismus zerbrochen – den Staat. Es sei jetzt an der Zeit, „die Bourgeoisie zu pulverisieren“ (so seine Worte) und einen „golpe de timón“ (ein „Kurswechsel“ der venezolanischen Politik) durchzuführen. Was tatsächlich passierte, war weit entfernt von dem angestrebten Ziel, dass staatliche und öffentliche Institutionen von unten kontrolliert werden und das System des Klientelismus und des Patronats durch rechenschaftspflichtige Institutionen ersetzt wird; die Bildung der PSUV hatte genau den gegenteiligen Effekt. Die Massenorganisationen wurden zentral kontrolliert und in den Staatsapparat aufgesogen. Der riesige Staatshaushalt und die Öleinnahmen, die bis 2012 hoch blieben, nährten eine neue Bürokratie, die mit sozialistischen Ansprüchen hausieren ging und revolutionäre Sprüche klopfte, während sie sich in Wirklichkeit bereicherte, Staatsgelder unterschlug und einen Staatsapparat schuf, der vor allem der Absicherung der eigenen Interessen diente. Viele chavistische Anführer, die mehrheitlich aus der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht stammten, wurden sehr schnell sehr reich. Mit dem Tod von Chávez und der Wahl von Maduro gewannen sie die Kontrolle über den chavistischen Staat. Die vielen wirklich engagierten Sozialist*innen, die ihre Zeit und Energie dafür einsetzten, den „chavistischen Prozess“ voranzutreiben, wurden zunehmend an den Rand gedrängt und zum Schweigen gebracht.

Als die Rechte im Dezember 2015 die Wahlen zur Nationalversammlung gewann, reagierte Maduro umgehend, indem er den Ausnahmezustand erklärte und von nun an mit Präsidialerlassen („leyes habilitantes“) regierte. Die Nationalversammlung wurde von ihm seither umgangen. Die einzigen Forderungen der Opposition waren der Rücktritt von Maduro und die Freilassung von Leopoldo López – ansonsten bestand ihre Politik, ganz auf der Linie Maduros, einzig in der Steigerung der Ölgewinnung.


Der Staat unter Maduro


In seinen öffentlichen Auftritten erscheint Maduro immer von Militärs umgeben. Eine akkurate Widerspiegelung des Charakters des Staats, an dessen Spitze er steht. Der Diskurs, den er pflegt, ist voller Erwähnungen von Revolution und Sozialismus und Anprangerung des Imperialismus. Nach wie vor nimmt er das Erbe von Chávez in Anspruch, der versprach, dem Neoliberalismus entgegenzutreten, die Ketten der Abhängigkeit zu sprengen und die Ökonomie zu diversifizieren – unter Nutzung von Einnahmen aus dem Ölverkauf für die Entwicklung inländischer Industrie und für die Schaffung der Grundlagen für einen Sozialstaat. Mit seinem Sieg wurde ein 40 Jahre lang bestehendes Regime infrage gestellt, das auf Korruption beruhte und das gewöhnlich mit Gewalt auf jegliche Infragestellung seiner Macht reagiert hatte.

2005 kündigte Chávez die Einführung des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Venezuela an. Im Gefolge eines Putschversuchs vom April 2002, der dank der massenhaften Mobilisierung von Armen und der Arbeiterklasse zur Unterstützung von Chávez gescheitert war, wurde die bolivarische Revolution radikaler, Einnahmen aus dem Erdöl wurden über Sozialprogramme verteilt, einige Unternehmen wurden verstaatlicht (den Eigentümern wurden Entschädigungen gezahlt), es entstanden auch unterstützende Machtorgane an der Basis. Mit der Gründung der PSUV im Jahr 2006 war der Anspruch verbunden, diesen Prozess fortzusetzen und zu vertiefen; Realität war aber, dass die PSUV das Gegenteil von partizipativer Demokratie darstellte. In ihr dominierte eine Kommandostruktur – die, wie sich herausstellen sollte, ideal zu Maduros Strategie passte. Die neue Staatsbürokratie konstituierte sich als herrschende Klasse, ihr politisches Instrument war die PSUV mit einer Top-Down-Struktur, die Gefälligkeiten, Anteile an der Macht und viel Geld als Gegenleistung für Treue und politische Gefolgschaft verteilte. Das Ergebnis der Wahl von 2015 war eine Warnung seitens der sozialen Massenbasis des Chavismo; die Antwort bestand in der Verstärkung der Mechanismen der Kontrolle und der Repression sowie in der Konzentration von sowohl politischer als auch ökonomischer Macht bei der herrschenden Elite.

Diese neue Schicht – die „Boliburguesía“, wie sie genannt wird – arbeitete mit der venezolanischen Kapitalistenklasse zusammen, auch wenn sie diese in ihren öffentlichen Erklärungen angreift. Das Patt mit der Nationalversammlung ab 2015 änderte nichts an der Währungsspekulation, an der beide Seiten massiv beteiligt waren; es verhinderte nicht die Ausplünderung der PDVSA im Zuge des spektakulären Niedergangs des öffentlichen Sektors. Es stimmt, dass die militanten Straßenbarrikaden weitergingen, zugleich aber gab es auch Treffen von Maduro und führenden Mitgliedern der Kapitalistenklasse, darunter dem reichsten von allen, Lorenzo Mendoza von der Unternehmensgruppe Empresas Polar. Als der Ölpreis absackte und damit die Exporteinnahmen des Landes einbrachen, hatte die Inflation, die sich rasch zu einer Hyperinflation auswuchs, einschneidende Folgen für die Mehrheit der Bevölkerung. Für Dollars konnte man alles kaufen, für Bolivars immer weniger. Waren verschwanden für lange Zeit aus den Regalen der Läden. Lebensmittel, Baumaterial, Autoteile, die fehlenden Medikamente tauchten auf dem Schwarzmarkt auf. Die Spekulationsgewinne waren enorm und nicht nachzuprüfen. Ein Beispiel: Die wichtigste Apothekenkette in Venezuela, Farmatodo, befand sich im Besitz eines führenden Chavista. Die Regale in den venezolanischen Zweigstellen von Farmatodo waren leer. Wie ich jedoch bei einem Besuch in Bogotá feststellen konnte, verfügten die Filialen in Kolumbien über jegliche Art von rezeptfreien Medikamenten. Das ist nur eines von vielen Beispielen.

Weder die Nationalversammlung noch Maduro haben irgendetwas gegen die sich verschärfende Krise getan, der die Menschen in Venezuela ausgesetzt sind. Keine Preiskontrollen, die diesen Namen verdienen, keine Versuche, das Ausbluten von öffentlichen Finanzmitteln durch entsprechende Maßnahmen beim Wechselkurssystem einzudämmen, keine Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung, die etwas anderes als pure Rhetorik wären. Als die Realwirtschaft praktisch aufhörte zu existieren, schmierte Korruption das Getriebe der Schwarzmarktwirtschaft. Kredite an den Staat, ob aus China oder anderen externen Quellen, verschwanden spurlos; in Verträgen über öffentliche Ausgaben sind riesige „Provisionen“ (wir können ruhig von Schmiergeldern sprechen) enthalten, die bis zu 40 Prozent des Gesamtbetrags ausmachen können. Ein Fonds für den Wohnungsbau (Fonden) wurde von China finanziert, veröffentlichte allerdings nie Berichte über seine Ausgaben. Es gab ungefähr 50 andere Fonds, die auf dieselbe geheime Weise operierten. Die brasilianische Baufirma Odebrecht, die in der Region Bestechungsgelder in Höhe von 1,3 Milliarden ausgegeben hat, bevor das ans Licht kam, war einer der wichtigsten Auftragnehmer für Infrastrukturarbeiten in Venezuela und auf Kuba.


Arco Minero – ein Offenbarungseid


Welchen Weg Maduro einschlägt, wurde erschreckend deutlich, als Maduro 2016 das Projekt „Arco Minero“ bekannt gab. Der Arco Minero umfasst das Orinoco-Becken und dessen Umgebung sowie einen Teil des Amazonas-Beckens. Es ist ungefähr so groß wie Kuba und deckt 12 Prozent der Fläche Venezuelas ab. Es ist erstaunlich reich an Öl und Mineralien, darunter Gold, Kupfer, Antimon, Diamanten und Uran. Es ist die Hauptquelle für Süßwasser in Venezuela. Er beherbergt auch eine Reihe indigener Gemeinschaften, deren Rechte von der Bolivarischen Verfassung anerkannt und geschützt werden. Hier befinden sich die riesigen Ölreserven Venezuelas, die hier lagernden Mineralressourcen wurden bisher kaum abgebaut. Der Bergbau, der bis jetzt dort stattfand, fand in kleinem Maßstab und mit handwerklichen Methoden statt; die Arbeitsbedingungen waren verheerend, ein Leben nicht viel wert. Nachdem der kanadische multinationale Konzern „Gold Reserve“ [3] aus der Region verwiesen worden war, hatte Chávez einen Plan für die Entwicklung der Region ins Auge gefasst, ihn dann aber verworfen.

2016 gab Maduro in einer Rede bekannt, dass 150 multinationale Unternehmen (aus verschiedenen Ländern) von der Regierung eingeladen worden waren, die dort lagernden Bodenschätze zu auszubeuten, verbunden mit dem Versprechen von langfristigen Steuererleichterungen für die Konzerne und dem Bau von Infrastruktur auf Kosten des Staates. Der kanadische Konzern wurde eingeladen zurückzukommen, ihrer umstrittenen Forderung nach Entschädigung wurde von der Maduro Regierung nachgegeben.

Gleichzeitig wurde bekannt gegeben, dass die verfassungsrechtlichen Garantien in der Region ausgesetzt und die Region unter militärische Kontrolle gestellt werde. Chávez hatte den Plan gerade wegen seiner verfassungsrechtlichen Auswirkungen und wegen der zu befürchtenden Umweltschäden abgelehnt, die sich aus der Wiederaufnahme des Bergbaus und insbesondere des Goldabbaus ergeben würden; wegen der Verwendung von Quecksilber beim Goldabbau waren bereits weite Teile des Amazonasbeckens vergiftet worden. Maduro will nun ein Zurück zu diesen Praktiken. Gleichzeitig kündigte er die Gründung von „Cominpeg“ an, einer Firma, die von Militärs aus dem Verteidigungsministerium geleitet werden soll – unabhängig von staatlicher Kontrolle. Dieses Unternehmen soll die Verfügung über die Erzvorkommen Venezuelas und über Teile von PDVSA erhalten. Es gab Proteste von vielen Seiten – von führenden Chavistas und Gewerkschafter*innen auf der einen Seite, indigenen Gemeinschaften und Umweltgruppen auf der anderen. Maduros Reaktion darauf war die Verkündung des Ausnahmezustands in der Region und die Verschärfung der militärischen Kontrolle. Die Vertreibung von örtlichen Gemeinschaften begann innerhalb weniger Wochen.

Die Bedeutung dieser Entscheidung ist weitreichend. Meiner Ansicht nach signalisierte sie die Abkehr vom bolivarischen Prozess. So fehlerhaft und unklar sie auch gewesen sein mag, war Chávez’ Strategie immerhin der staatlichen Kontrolle der Ressourcen und der Sozialisierung der Gewinne verpflichtet. Mit dem Projekt Arco Minero wird diese Strategie aufgegeben und stattdessen auf die Privatisierung der extraktiven Industrien des Landes gesetzt. Es ist eine Abwendung von der chávistischen Strategie und eine Rückkehr zur Abhängigkeit vom Weltmarkt. Die politischen Konsequenzen haben alle verbleibenden Zweifel beseitigt. Maduros Kabinett kommt jetzt zur Hälfte vom Militär, ebenso wie die Mehrzahl der 2017 gewählten Gouverneure. Die neue herrschende Klasse unter Führung von Maduro kontrolliert nun direkt viele Schlüsselressourcen, und ihr wachsender Reichtum, der auf Schwindel und Korruption beruht, ist Ausdruck von miteinander verschmolzener politischer und wirtschaftlicher Macht. Ihre Instrumente sind die Vergabe von Ämtern und Bestechung, die PSUV und … Repression.

Als Ursache für die sich verschärfende Wirtschaftskrise wird der „Wirtschaftskrieg“ hingestellt. Zu Maßnahmen, mit denen die Krise verborgen gehalten werden soll, gehören Anti-Korruptionskommissionen (die nichts unternehmen) und die „Comités Locales de Abastecimiento y Producción“ (CLAP, Örtliche Komitees für Versorgung und Produktion), ein Programm für arme Stadtteile, an die Pakete mit Grundnahrungsmitteln geliefert werden. Die CLAP werden über die PSUV verwaltet – Nichtmitglieder erhalten nichts, und selbst Empfangsberechtigte werden oft angehalten, dafür etwas zu zahlen, oder sie stellen fest, dass die ausgehändigten Hilfspakete geplündert worden sind, sofern sie überhaupt ankommen. Die Lebensmittelpakete wurden schlicht und einfach Teil des Kreislaufs der Korruption. Mit dem „Carnet de la Patria“ wurde praktisch eine Art Ausweis der Loyalität zum Regime geschaffen. [4] Ohne dieses Dokument können die Bürger*innen keine Sozialleistungen erhalten. So konnte man sich darauf verlassen, dass die rund eine Million Staatsangestellten plus die PSUV-Mitglieder Maduro bei Kundgebungen und im Fernsehen übertragenen Kundgebungen zujubeln. Für die Repression dagegen sind die „Organisationen der Volksbefreiung“ (OLP), wie sie zynischerweise genannt werden, zuständig, die in den armen Stadtteilen „Operationen gegen den Drogenhandel“ durchführen. In Folge dessen stieg die Zahl der Todesopfer bei jungen Männern dramatisch an, der Drogenhandel ging aber weiter. Die OLPs sind inzwischen durch die FAES (Fuerza de Acciónes Especiales) [5] ersetzt, die Truppe, die zurzeit auch die Kontrollen an den Grenzen durchführt.

Ich habe Filmaufnahmen von der Brücke zwischen San Cristóbal (Venezuela) und Cúcuta (Kolumbien) gesehen, wo die USA die Lastwagen hat auffahren lassen, auf denen ihre „Hilfsgüter“ transportiert werden. Die Brücke wird von bewaffneten venezolanischen Soldaten abgeriegelt. Ich musste dabei an die Informationen denken, die ich vor ein, zwei Jahren bekommen hatte, an die venezolanischen Armeelaster, die Tag um Tag reihenweise über die gleiche Brücke fuhren, um Schmuggelware nach Kolumbien zu verschaffen …


Wessen Krise ist das?


Maduro hat in Fernsehinterviews für die BBC und den spanischen Kanal La Sexta bestritten, dass es in Venezuela eine Krise gibt. Die Krise ist aber real, der Hunger nimmt zu und der Mangel an Medikamenten hat Konsequenzen, die wir uns nur schwer vorstellen können. Wir wissen aber, dass die Kindersterblichkeit steigt und dass die Malaria, eine Krankheit, die in Venezuela als ausgerottet galt, zurückgekehrt ist. Die Regierung hat 2013 aufgehört, Daten zu veröffentlichen. [6]

Welches Ausmaß hat die Krise wirklich? Die Inflation wird in diesem Jahr die Marke von eine Million Prozent überschreiten. Für die Alltagsrealität bedeutet das, dass ein Monatslohn gerade dazu reicht, eine Packung mit Eiern oder ein Päckchen mit Einwegwindeln zu kaufen (falls etwas davon vorhanden ist). Laut der Weltgesundheitsorganisation hungerten im Jahr 2017 61 Prozent der Bevölkerung und erlitten die Venezolaner*innen einen Gewichtsverlust von durchschnittlich 11 Kilo. Das bezieht sich auf 2017. Gleichzeitig gingen die Industrieproduktion und das Bruttoinlandsprodukt von 2013 bis 2018 um 45 Prozent zurück. Viele der Produkte, die nicht mehr hergestellt werden, wurden (wenn überhaupt) durch Importe ersetzt; für Importeure, die ihre Dollars zu einem niedrigen offiziellen Wechselkurs von der Zentralbank kauften, bedeutete das eine weitere Bonanza: Sie kauften bei der Zentralbank zu einem niedrigen offiziellen Umtauschkurs Dollars und verlangen dann für die Waren Preise in Bolívar zu einem Schwarzmarktkurs, der oft hundert oder gar tausendmal höher liegt. Im gleichen Zeitraum fiel die Erdölproduktion auf unter 2 Millionen Barrel pro Tag, vor allem in Folge von Korruption, Missmanagement und mangelnder Instandhaltung der Anlagen. Riesige Beträge wurden abgegriffen.

Die um Guaidó versammelte Bourgeoisie mag ja behaupten, sie habe eine Alternative anzubieten. Ihre einzige Forderung ist allerdings, dass der Staat wieder unter ihre Kontrolle kommt. Unter Chávez und unter Maduro haben sie systematisch Investitionen von der Produktion auf die Währungsspekulation umgelenkt, sie wurden zu Importeuren. Zwischen 2003 und 2013 stiegen die Importe des öffentlichen Sektors um 1033 Prozent. Die Importe insgesamt stiegen im gleichen Zeitraum von 14 Milliarden Dollar auf 80 Milliarden Dollar – 70 Prozent dieser Importe waren angeblich für die Industrie, doch ist die Industrieproduktion, wie wir gesehen haben, in diesen Jahren katastrophal gesunken. Der Industrieminister Tareck El Aissami gab 2018 bekannt, ein Drittel des Staatshaushalts werde dem Privatsektor in Form von Krediten zur Verfügung gestellt. Das Bild könnte nicht klarer sein. John Pilger hat vor kurzem in einem Artikel festgestellt, dass „die Restaurants in Caracas voll“ sind. Das ist richtig und aufschlussreich. Was glaubt er, wer in Venezuela in Restaurants essen geht? Und glaubt er, sie würden die Rechnung mit Bolivares bezahlen?

Der führende revolutionäre Aktivist Roland Denis beschreibt den venezolanischen Staat als „völlig korrupt, er lebt von einem zunehmend plumpen und pseudo-religiösen Diskurs“. Wenn dieser Staat bisher überlebt hat, hat dies mehrere Gründe. Erstens die Schaffung einer autoritären Staatsstruktur, die von einer neuen herrschenden Klasse verwaltet wird, die die wirtschaftliche, politische und militärische Macht auf sich vereint. Diese herrschende Klasse ist auf die Wiedereingliederung von Venezuela in den Weltmarkt in der Rolle des Öllieferanten aus. Zweitens ist das, was von der Loyalität zu Chávez verblieben ist, nach wie vor sehr stark, verstärkt wird es durch ein System der Patronage. Für eine anwachsende Mehrheit bedeutet es ein Leben am Rande des Abgrunds. Der dritte Faktor ist die Unfähigkeit und die politische Schwäche der Opposition, die zu keiner Zeit politische Vorschläge zur Bewältigung der Wirtschaftskrise vorgelegt hat. Wenn die Opposition jetzt in Erscheinung getreten ist, so nur als Stellvertreterin der US-Interessen in der Region, die sich mit denen der lateinamerikanischen Rechten und des europäischen Kapitals decken.

Die Demonstrationen, zu denen Guaidó aufgerufen hat, haben massive Unterstützung aus der Bevölkerung bekommen. Es sollte jedoch klar sein, dass dies nicht Ausdruck von politischer Unterstützung für die Rechte ist. Die Protestmärsche zogen auch viele Menschen aus der Arbeiterklasse und den armen Stadtteilen an, denen ganz klar ist, für welche Interessen Guaidó steht. Sie sind keine Anti-Chavistas, aber sie stehen Maduro und der bürokratisch-militärischen Klasse, die Venezuela heute regiert, äußerst kritisch gegenüber.

Als Maduro im August 2018 als Präsident wiedergewählt wurde, geschah das mit Rückendeckung durch die Konstituierende Versammlung, die er Anfang des Jahres einberufen hatte. Im Gegensatz zur „Asamblea Nacional Constituyente“ von 1999, von der die neue Verfassung von Venezuela verabschiedet wurde und deren Mitglieder nach einer breiten öffentlichen Debatte gewählt wurden, setzte sich die Nationale Konstituierende Versammlung von 2017 aus Delegierten zusammen, die nicht gewählt, sondern von Maduro und der PSUV handverlesen wurden. Das war ein Fall von organisierter Propaganda, und in keiner Weise ein Beispiel für Demokratie des Volks. Bei den Präsidentschaftswahlen vom August 2018 gewann Maduro 32 Prozent der Stimmen – oder 48 Prozent derjenigen, die zur Wahl gingen. In der letzten Wahl vor seinem Tod hatte Chavez 62 Prozent der Wähler*innen gewonnen; in etwas mehr als fünf Jahren haben sich Millionen von Chavistas von Maduro abgewendet. In den letzten zwei Jahren sind 3 Millionen Menschen (die von Diosdado Cabello, einem führenden chavistischen Politiker, als „Leute, die mit der Mode gehen“, abgetan wurden) aus dem Land geflohen – und sie sind keineswegs nur aus der Mittelschicht. Die Präsenz der Spezialeinheiten an den Grenzen ist vielsagend. Noch bedeutsamer ist jedoch die Tatsache, dass Maduro zu keiner Zeit Strategien gegen den Hunger oder die zunehmende Gewalt und Gesetzlosigkeit oder die Gesundheitskrise entwickelt hat, ganz zu schweigen vom Kampf gegen die Korruption, von der er und seine Familie ebenfalls profitieren. Nach seiner Wiederwahl im vergangenen August kündigte er an, es werde einen Plan für eine Lösung der Krise geben. Bisher ist von einem solchen Plan nichts zu sehen, auch nicht von einer Politik, die in diese Richtung weist. Stattdessen wurde die interne Repression intensiver.


Was tun?


Weder Guaidó noch Maduro haben der Masse der Venezolaner*innen etwas zu bieten. Es sind rivalisierende Fraktionen, die um die Gewinne aus dem Ölgeschäft und die enormen Vorteile kämpfen, die aus der Korruption zu ziehen sind. Guaidó hat keine wirkliche soziale Basis; die Demonstrationen sind nicht Ausdruck der Unterstützung, die er genießt, sondern Ausdruck der Verzweiflung angesichts der verzweifelten Lage und der Wut über den Verrat an der Revolution. Es ist eine verwirrende Situation. Die Verwirrung wird noch durch eine Linke außerhalb Venezuelas verstärkt, die Maduro unterstützt, während jener die Revolution an den Höchstbietenden verkauft. Aus Maduros Sicht geht es um das Überleben seiner Macht und der der Profiteure um ihn herum. Aus der Sicht der venezolanischen Arbeiterklasse, der einzigen Position, von der sich Sozialist*innen bei der Beurteilung der aktuellen Lage leiten lassen können, gibt es keine Wahl zwischen Guaidó und Maduro. Es scheint ein Patt zu geben, da die Streitkräfte Maduro (bislang) unterstützen. Sie verteidigen ihren Zugriff auf die politische und ökonomische Macht. Mit dem für sie charakteristischen Zynismus bietet die Rechte dem Militär Amnestie an – das heißt Straflosigkeit für ihre Wirtschaftsverbrechen im Gegenzug für das Überlassen der Staatsmacht. Das Dilemma für Sozialist*innen lautet: Welche Alternative gibt es oder wie soll sie aussehen?

Die bolivarische Revolution wurde durch Massenunterstützung der Armen und der Arbeiterklasse in Venezuela an die Macht getragen. Deren Mobilisierung und Basisaktivist*innen retteten Chávez 2002 vor dem Putsch und waren die Grundlage für den Widerstand gegen die folgenden Angriffe seitens der Opposition. Fähigkeit zu unabhängigem Handeln war die einzige Garantie für die von Chávez versprochene partizipative Demokratie. Die Gründung der PSUV im Jahr 2006 änderte die Lage, die Basisorganisationen wurden in den Staat eingegliedert, zugleich wurden sie politisch entwaffnet und demobilisiert. Diese Organisationen existieren heute kaum noch; die Erinnerung an die Erfahrung der Massenbeteiligung besteht jedoch bei den Menschen fort. Mittelfristig muss die Aufgabe darin bestehen, diese Organisationen wiederaufzubauen und Solidarität mit sämtlichen praktischen Formen des Widerstandes der Bevölkerung – wie vor kurzem mit den Streiks von Krankenschwestern, Lehrer*innen und Staatsbeschäftigten. Weiterhin für Solidarität mit einem korrupten und autoritären Staat einzutreten, der sich zynischerweise mit revolutionären Federn schmückt, heißt jede Möglichkeit der Wiederbelebung des Kampfs von unten zu untergraben.

      
Mehr dazu
Erklärung zur Zensur gegen die Website Aporrea, die internationale Nr. 3/2019 (Mai/Juni 2019) (nur online)
Eric Toussaint: Soforthilfe statt Schuldenzahlung, die internationale Nr. 3/2019 (Mai/Juni 2019)
Interview mit Franck Gaudichaud: „Man muss die Einmischung verurteilen“, die internationale Nr. 2/2019 (März/April 2019) (nur online)
Marea Socialista: Das Volk will Maduro nicht, und niemand hat Guaidó gewählt, die internationale Nr. 2/2019 (März/April 2019)
Christian Zeller: Krise in Venezuela: weder Guaidó noch Maduro. Das venezolanische Volk muss alleine entscheiden, die internationale Nr. 2/2019 (März/April 2019)
Erklärung der Vierten Internationale: Nein zum Putsch in Venezuela! Für eine demokratische Lösung der Krise!, die internationale Nr. 2/2019 (März/April 2019)
 

Unsere Solidarität sollte dem venezolanischen Volk gelten, wir sollten die Lüge der „humanitären Intervention“ zurückweisen und für den sofortigen Abzug aller Truppen von den Grenzen Venezuelas fordern. Wir sollten klar sagen, wo die Verantwortung für die Krise liegt, sowohl die äußere als auch die innere. Die Solidarität muss für das Recht des venezolanischen Volks eintreten, seine eigene Zukunft selbst zu bestimmen, und muss dazu beitragen, seine Fähigkeit wieder zu stärken, dieses Recht wahrzunehmen gegen alle Imperialismen, gegen die Rechte in der gesamten Region und darüber hinaus und gegen eine korrupte herrschende Klasse, die von der Verzweiflung des Volks profitiert hat. Sollte es eine militärische Intervention geben (ganz gleich welcher Art), werden die Massen zur Verteidigung dieses Rechts aktiv werden und die Rolle der Solidarität wird klar sein.

Das „Comité en Defensa de la Constitución“ (Komitee zur Verteidigung der Verfassung), dem ehemalige führende Chavistas, trotzkistische, indigene und ökologische Bewegungen angehören, hat ein Referendum über Neuwahlen gefordert, wie es in der Verfassung vorgesehen ist. Damit würde die Haltung der Bevölkerungsmehrheit zu Neuwahlen getestet. Das ist eine begrenzte und eine unzureichende Antwort, allerdings ist aber leider am Horizont kein revolutionärer Aufschwung sichtbar. Ein Referendum würde den Venezolaner*innen zumindest die Möglichkeit bieten, zu zeigen, dass weder Maduro noch Guaidó für sie sprechen, und es wird die Heuchelei beider Lager entlarven. Was für ein Sozialismus soll das sein, der nichts gegen den Hunger der Menschen tut und ausgebildete Schläger schickt, die auf sie schießen? Abgesehen von leeren Revolutionsaufrufen ist eine andere unmittelbare Alternative momentan kaum vorstellbar. Die internationale Linke kann jedoch nicht zulassen, dass sie weiter ein Alibi für eine korrupte herrschende Klasse liefert; sie kann nicht zulassen, dass die Idee des Sozialismus diskreditiert wird, dessen Grundlage der Kampf für eine gerechte Zukunft frei von Ausbeutung, Korruption und Angst ist.

Aus dem Englischen übersetzt von Paul Michel

(wd) Mike Gonzalez ist ein britischer Historiker und Literaturwissenschaftler, er war Professor für Latin American Studies an der Universität Glasgow. Er war lange Mitglied der britischen Socialist Workers Party (SWP), aus der er im Zuge von deren Krise 2013/14 ausgetreten ist, und von „Solidarity – Scotland’s Socialist Movement“. Unter seinen zahlreichen Büchern und Essays sind: Hugo Chávez: Socialist for the 21st Century, London: Pluto Press, 2014; The Ebb of the Pink Tide. The Decline of the left in Latin America, London: Pluto Press, 2019. Für Mai 2019 ist angekündigt: In the Red Corner. The Marxism of José Carlos Mariátegui, Chicago: Haymarket Books.

Zu Venezuela liegt auch dieser Essay vom August 2017 vor.

Für weitere Beiträge von Mike Gonzalez aus dem Zeitraum Februar 2014 bis August 2017 auf der Website der US-amerikanischen sozialistischen Zeitschrift Jacobin siehe hier. Eine Reihe von älteren Beiträgen aus der SWP-Zeitschrift International Socialism sind hier gesammelt.



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2019 (Mai/Juni 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Dieser Artikel ist zuerst auf der Website der englischen revolutionär-marxistischen Organisation rs21 erschienen und dann auf der Website „Socialist Worker“ (USA) übernommen worden.

[2] „Pink tide“ (in etwa: rosa Welle), „marea rosa“ (span.) oder „onda rosa“ (portug.) sind Ausdrücke, die vor allem in den USA und Lateinamerika in den Massenmedien und von politischen Kommentator*innen vielfach verwendet worden sind, um die Zunahme von „Linksregierungen“ in jener Zeit zu beschreiben. (Anm. d. Red.).

[3] Einige mag es überrascht haben, dass Kanada sich der Limagruppe angeschlossen und Trump unterstützt hat, der Kanada gegenüber so wenig Zuneigung an den Tag gelegt hat. Die Erklärung liegt darin, dass Kanada im Bergbausektor in Lateinamerika ein „major player“ ist. Siehe: Todd Gordon und Jeffery R. Webber, „Imperialism and resistance: Canadian mining companies in Latin America“, in: Third World Quarterly, Bd. 29, Nr. 1, 2008, S. 63–87; [sowie das Buch von denselben Autoren: Blood of Extraction. Canadian Imperialism in Latin America, Halifax u. Winnipeg: Fernwood Publishing, 2016].

[4] Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Homeland_card (Anm. d. Bearb.).

[5] Zur FAES, die zur Policia Nacional Bolivariana (PNB) gehören, siehe Keymer Ávila, „La FAES. Reflexiones sobre la (in)seguridad en Venezuela“, https://www.aporrea.org/ddhh/a275147.html; auf Französisch auf http://www.inprecor.fr; „Meet FAES: The Bolivarian Police Death Squads Leading Repression Against Protesters“ (27.1.2019), https://www.caracaschronicles.com/2019/01/27/meet-faes-the-bolivarian-police-death-squads-leading-repression-against-protesters (Anm. d. Red.).

[6] Da keinerlei offizielle Daten verfügbar sind, habe ich mich auf die sorgfältig recherchierten ökonomischen Analysen von Manuel Sutherland gestützt. Er ist ein junger venezolanischer Marxist und ist vor kurzem von seinem Arbeitsplatz an der staatlichen Universidad Bolivariana de Venezuela gefeuert worden.