Brasilien

Zur Lage in Brasilien

Unter dem Titel „Den Widerstand in Brasilien und internationale Solidarität gegen die Regierung des neofaschistischen Bolsonaro organisieren“ hat die IV. Internationale die folgende Resolution verfasst.

IV. Internationale

Alle Solidarität mit den Arbeiter*innen, Schwarzen, Frauen, Jugendlichen, Einheimischen, Bauern, Landlosen und Obdachlosen, der LGBTI-Gemeinschaft, Lehrer*innen, Professor*innen, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen, denen die Angriffe der „ultra“-neoliberalen, konservativen und autoritären Politik des neuen Amtsinhabers im Präsidentenpalast gelten werden. Mit dieser politischen Ultra-Rechtswende im größten lateinamerikanischen Land sind die sozialen und demokratischen Errungenschaften der letzten zwei Jahrzehnte in Lateinamerika mehr denn je gefährdet. Die Situation erfordert eine breite Mobilisierung aller politischen und sozialen Kräfte in der Welt, die sich für Demokratie, den Kampf für die Umwelt, gegen Unterdrückung und Ungleichheit aller Art einsetzen.

Das Endergebnis der Präsidentschaftswahlen in Brasilien von Oktober 2018 katapultierte den Abgeordneten und ehemaligen Armeehauptmann Jair Messias Bolsonaro an die Macht. Bis vor knapp einem Jahr galt er als Außenseiter im Wettstreit um das Amt und blieb in den Umfragen unter 10 %, obwohl er 28 Jahre im Parlament war. Tatsächlich war der nun gewählte Präsident Brasiliens mit seiner Haltung der unverhohlenen Verteidigung der Militärdiktatur (1964–1985) und der Folter, seiner vehementen Verteidigung der „Todesschuss“-Gangster und der Masseninhaftierungen als Lösung für städtische Gewalt, seiner plumpen fanatischen Ablehnung von Feministinnen und Frauen im Allgemeinen, seinem massiven Vorurteil gegen Schwule, Lesben, Transsexuelle und alle Marginalisierten sowie seiner Geringschätzung für grundlegendes Sozial-, Umwelt- und Arbeitsrecht sowie Verhaltensnormen eine fast schon folkloristische Figur.

Aber diese ultrarechte Persönlichkeit, die von der Viehzuchtindustrie, einem Teil des Finanzsystems, dem Großteil der evangelikalen Neopfingstler, der Mehrheit der reichen städtischen Mittelschicht und großen Teilen der einfachen Bevölkerung unterstützt wurde, wird am 1. Januar 2019 als 38. Präsident der Föderativen Republik Brasilien sein Amt antreten. Mit 55 % der Stimmen kam Bolsonaro nach dem polarisiertesten und gewalttätigsten Wahlkampf in der Geschichte jenes politischen Systems, das 1985 mit dem Ende der letzten Militärdiktatur begann, der sogenannten Neuen Republik, an die Macht. Es war auch die am massivsten durch manipulierte Nachrichten in den sozialen Medien geprägte Wahl in Brasilien, in die sich höchstwahrscheinlich Persönlichkeiten und ausländische Unternehmen einmischten.

 

Es waren keine Wahlen wie sonst. Das Umfeld vor den Wahlen stand bereits im Zeichen eines politischen Attentats und der Verfolgung einer Person, die in den Umfragen ganz vorne war. Es war ein weiteres erschreckendes Kapitel im Thriller des institutionellen Putsches von 2016, der die PT-Regierung stürzte. Die Morde vom 14. März an Marielle Franco, einer feministischen, schwarzen Stadträtin von Rio und LGBT-Aktivistin der PSOL, und dem Fahrer Anderson Gomes sind noch immer nicht aufgeklärt. Es ist eine makabre Botschaft der reaktionärsten Kräfte an alle Schwarzen, alle Favela-Aktivist*innen, alle Feministinnen, alle LGBTs, in einer beispiellosen institutionellen Form. Die Verfolgung, betrieben von den Obersten Richtern, den traditionellen Parteien und dem Kongress sowie von bolsonaristischen Basisgruppen (die im Süden des Landes sogar einen Konvoi des ehemaligen Präsidenten beschossen), galt Lula, dem PT-Führer. Mit der am 7. April nach einem höchst fragwürdigen Prozess erfolgten Verhaftung Lulas wurde der Putsch konsolidiert.

Anfang September wurde Bolsonaro auf Wahlkampftournee in der Stadt Juiz de Fora (Minas Gerais) von einem Einzelgänger mit einem Messer angegriffen. Er musste dreimal operiert werden, schwebte in Lebensgefahr, was ihm die Aura eines überlebenden Helden gab und dennoch den notwendigen Vorwand bot, Debatten zu vermeiden, die – wie sich bereits gezeigt hatte – für ihn schwierig sind. Die Polarisierung hat seit dieser Episode ein in Brasilien unbekanntes Niveau erreicht.

Die ersten Umfragen für den zweiten Wahlgang deuteten auf einen überwältigenden Sieg des kandidierenden Hauptmanns hin. Letzten Endes fiel er weniger spektakulär aus, weil sein Sieg im ersten Durchgang die Mehrheit der linken und demokratischen Kräfte sowohl zur Einheit als auch zur Mobilisierung zwang. An den Einheitsaktionen beteiligten sich Millionen von Aktivist*innen, viele Menschen, die zum ersten Mal „für einen anderen Wahlausgang“ auf die Straße gingen. Einen Auftrieb erhielt die Mobilisierung für Haddad in den letzten zwei Oktoberwochen, als die Zeitung Folha de S. Paulo enthüllte, dass Bolsonaro mit illegalen Geschäftsfinanzierungen gefälschte WhatsApp-Nachrichten gekauft hatte – eine Praxis, die derjenigen ähnelt, die Donald Trump bereits 2016 bei Facebook genutzt hat. Viele Bolsonaro-Wähler entschieden sich, nicht abzustimmen oder ihre Stimme zurückzuziehen. Aber die faschistische Kampagne flaute nicht ab: Der Kandidat reagierte in einer Rede auf der Avenida Paulista und versprach, „die Roten“ und die größte Zeitung des Landes von der Karte zu löschen. Das politische Klima war geprägt von körperlicher Aggression gegen Pro-Haddad-Aktivist*innen, Vergewaltigung und sogar der Ermordung eines Capoeira-Meisters in Salvador (Bundesstaat Bahia im Nordosten Brasiliens).

Dennoch gewann Bolsonaro schließlich mit einem erheblichen Vorsprung von 10 Millionen Stimmen auf Haddad (55 % bis 45 %), siegte in den meisten Bundesstaaten mit Ausnahme des Nordostens und Pará (Amazonas). Im Abgeordnetenhaus konnte die PT jedoch eine Mehrheit halten (56 Abgeordnete gegen 52 für die PSL von Bolsonaro) und mit ihren Verbündeten blieb sie im gesamten Nordosten in den Regierungen. Gleichzeitig eroberte die extreme Rechte mit Rio, São Paulo und Minas Gerais die Regierungsgewalt über den reichen, strategisch bedeutenden Südosten. Der harte Kern von Bolsonaros reaktionärer Koalition kam auf 90 Abgeordnete, sein weiteres Bündnis auf über 200 der insgesamt 534 Sitze.


Wie wurde Bolsonaro möglich?


Um den Aufstieg von Jair Bolsonaro zu verstehen, muss man einige Jahre zurückblenden und die wichtigsten Merkmale und Ereignisse in Erinnerung rufen, die die 13 Jahre der durch den institutionellen Putsch von 2016 gestürzten PT-Regierungen geprägt haben.

In der Bundesregierung profitierte die PT zwischen 2003 und 2013 vom globalen Boom bei den Rohstoffexporten. Auch wenn diese exportorientierte Politik die Deindustrialisierung des Landes weiter vorantrieb, erlaubte sie den Regierungen unter Lula (2003–2010) und der ersten Regierung unter Dilma (2011–2014), dem Finanzkapital und der Agrarwirtschaft außerordentliche Gewinne zu sichern und große kapitalistische Gruppen in den Bereichen Bauwesen, Bergbau, Telekommunikation und Fleischproduktion mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren.

Dennoch förderten die PT-Regierungen in begrenztem Maß auch eine Politik der Umverteilung – mit spürbaren Auswirkungen auf die am stärksten gefährdeten städtischen und ländlichen Bevölkerungsgruppen. Sie hoben den Mindestlohn über den Inflationsausgleich hinaus an, führten das Programm Bolsa Família ein (monatliche Zahlung an Familien unterhalb der Armutsgrenze, sofern die Kinder die Schule besuchen), setzten zahlreiche Maßnahmen der positiven Diskriminierung um (Quoten für arme, schwarze und indigene Student*innen an Universitäten und Fachschulen), errichteten neue öffentliche Universitäten und Schulen und vergaben Stipendien für private Universitäten. Diese Maßnahmen, gepaart mit einer ausgedehnten Förderung des Binnenkonsums durch vereinfachte Geldbeschaffung bei staatlichen Banken, ermöglichten es einem breiten Spektrum von Lohnabhängigen, ein Haus zu kaufen und zum ersten Mal in ihrem Leben in den Massenkonsummarkt einzusteigen.

Dennoch begann das Ansehen der PT bereits ab 2005 mit dem Skandal um den Stimmenkauf im Parlament durch die Regierung Lula („mensalão“) zu sinken. Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass die Partei, die längst jeden Klassendiskurs aufgegeben hatte, keine Maßnahmen und keine Politik ergreifen würde, um die Beteiligung der Bevölkerung und aktiver Bürger*innen am öffentlichen Leben zu fördern. Um die Regierungsfähigkeit der Koalitionsregierung zu gewährleisten, machte die PT stattdessen große Zugeständnisse, um im Kongress Gruppen evangelikaler Kirchen wie die „Universalkirche des Reiches Gottes“ und Sektoren der Assembly of God (die 2018 für den Sieg von Bolsonaro entscheidend sein würden) als Basis zu halten.

Diese Zugeständnisse an Landbewohner*innen, Pfingstgemeinden und an die „Kugel-Gruppe“ (Polizisten und Vertreter von Waffenherstellern) führten dazu, dass die PT nichts unternahm, um feministische Richtlinien wie z. B. zur Entkriminalisierung und Legalisierung von Abtreibungen voranzutreiben; dass sie die Abgrenzungen von indigenen Ländern lähmte und große Infrastrukturprojekte sowie Großereignisse beschloss, die zur Vertreibung von Indígenas und Bewohner*innen von Flussregionen von ihrem Land führten. Die PT unternahm nichts, um in der Diskussion über eine tiefgreifende Reform des Justiz-, Polizei- und Gefängnissystems oder eine Beendigung des Drogenkriegs, der Masseninhaftierung und des Völkermords an Schwarzen (insbesondere der Jugend der Favelas) vorwärtszukommen.

2013 ging dann unter Dilma der politisch-ideologische Niedergang der PT mit Ausbrüchen sozialer Unzufriedenheit einher. Inmitten der gigantischen Demonstrationen für Bildung, Gesundheit und besseren städtischen Nahverkehr gingen rechte Gruppen auf die Straße, um mit der Linken zu kämpfen und die Bewegung umzulenken auf Proteste gegen die Korruption, gegen alle politischen Parteien und insbesondere gegen die PT. Entgegen der PT-Darstellung war der Juni 2013 beileibe kein reaktionärer Aufstand. Zweifellos zeigte er einem Teil der Elite aber, dass sich die PT nicht mehr als so nützlich erwies wie bisher, um die Massen „passiv“ zu halten. Dieses Mal setzten die Rechte und die Ultrarechte auf die entscheidende Unterstützung der Mainstream-Medien im politischen und ideologischen Kampf für die Massenmobilisierungen, die wir 2015 und 2016 erlebt haben.


Die Rolle des Lava-Jato-Skandals und der wirtschaftlichen Stagnation


Die politische und soziale Unzufriedenheit mit der Regierung verschärfte sich im Zuge der langen wirtschaftlichen Stagnation, die ab 2014 zu einem Einkommensrückgang für die Sektoren führte, die Lulas Anhängerschaft bildeten, und einen Ausbruch von Gewalt in den Städten und auf dem Land hervorrief. Es war ein entscheidender Beitrag zu Dilmas tiefer Diskreditierung, dass sie in ihrem zweiten Präsidentschaftswahlkampf (August bis Oktober 2014) mit einem linken Programm antrat und dann in weniger als zwei Monaten ein Wirtschaftsprogramm umzusetzen begann, das all ihren Versprechen zuwiderlief – mit einem Minister aus den Reihen ihrer Gegner, dem neoliberalen Joaquim Levy, der dann auch in Bolsonaros Regierung als Minister eingetreten ist.

Die Absetzbewegung von der PT beschleunigte sich durch den – gemessen an den involvierten Summen und dem Grad der Verwicklung des gesamten politischen Systems – größten Korruptionsskandal und seine Folgen für das Bewusstsein der Arbeiter*innen: den durch die Operation Lava Jato aufgedeckten Petrobras-Skandal. Dabei geht es um ein Geflecht aus Bestechungen in Millionenhöhe, in die praktisch alle Parteien der Republik verwickelt sind. Irgendwann zwischen Ende 2014 und Anfang 2015 (eher, als Dilma Levy entließ), als die Rechte Hunderttausende von „Gelb-Grünen“ – in den Landesfarben also – gegen „Korruption“ mobilisieren konnte, brachen wesentliche Sektoren des brasilianischen Kapitals mit der Unterstützung, die sie dem Klassenkooperationsprojekt der PT bislang geboten hatten, und schlossen sich der Verschwörung in Form des Putsches an.

Nach Dilmas Anklage zwischen April und September 2016 verlor die PT zunehmend Wähler*innen, Aktivist*innen und Mitglieder (als Antwort fiel ihr nichts anderes ein, als ihre Verfolgung zu beklagen), während die Rechten und Ultrarechten in der Gesellschaft Zulauf erhielten. Desolate Fraktionen der Bourgeoisie und ein großer, traditionell eher reaktionärer (rassistischer, frauenfeindlicher, homophober, sich vor den sozial fortschrittlichen Sitten der jüngeren Generationen fürchtender) Sektor der Bourgeoisie schlossen sich der extremen Rechten an.

Die Verfolgung der PT war real: Die Justiz und die Bundespolizei gingen selektiv vor. Die Amtsenthebung von Dilma war politisch und rechtlich nicht zu rechtfertigen. Lula wurde ohne eindeutige Beweise angeklagt und später ohne ein faires Verfahren verurteilt. Die putschenden Kräfte setzten in den Strafverfahren missbräuchlich Prozessabsprachen ein. Medien veröffentlichten die Anhörungen von Lula und Dilma ohne offizielle Genehmigung. Richter verhafteten ohne offensichtliche Notwendigkeit mehrere PT-Führer. Allerdings übte die Partei nie Selbstkritik an den „schlechten Taten“ (um den Ausdruck von Dilma zu verwenden) so vieler ihrer führenden Mitglieder. Die offizielle Ausrichtung der Führung bestand darin, einen Sieg von Haddad im Wahlkampf 2018 zu verhindern. Die PT-Leitung sah das Problem in einer Reihe von „Fehlern“ Einzelner – die zum großen Teil heute im Gefängnis sitzen. Kein Wort über die Regierungsführung der PT, die sich den Regeln des politischen Systems so sehr angepasst hatte, dass die Partei von ihren Partnern aus der Oligarchie die schlechtesten Gewohnheiten übernahm.

So griff in weiten Teilen der brasilianischen Gesellschaft eine starke Ablehnung der PT um sich. In den mehr oder weniger verarmten Sektoren, die von den Lula-Jahren profitiert hatten, konnte sich diese negative Haltung nicht festigen. Unter den besser informierten und aktiveren Jugendlichen und linken Sektoren der Arbeiterklassen kam diese Infragestellung der PT vermutlich Ciro Gomes, Marina Silva und der PSOL zugute. Aber in weiten Teilen der reichen städtischen Mittelschicht, insbesondere in den besseren Schichten (und vor allem im Südosten und Süden) mündete diese Kritik dank Medien, Lava Jato und der rechten Parteien in einem blinden Hass auf die PT. Einem blinden Hass auf die Linke, auf Sozialpolitik, auf die Idee von Menschenrechten, die für alle gelten, auf die Idee der Solidarität mit den Enteigneten, die Vorstellung von der Zugehörigkeit zur Welt, zur Wissenschaft und zur Wahrheit. Ein Hass, der sich auf die Farbe Rot, auf Kuba, Venezuela, auf Feminismus, Homosexuelle, Trans und Umweltschutz und alles erstreckte, was jenseits des rein egozentrischen Individualismus liegt, der sich auf die Theologie des Wohlstands, den Glauben an den „Gott des freien Marktes“, an Chancen für alle und die Verachtung der anderen stützt.

Diese Kombination aus reaktionärer Ablehnung der PT und berechtigter Enttäuschung von Millionen von Arbeiter*innen über die Partei, die so viele Illusionen zerstört hatte, führte schließlich zur Wahl von Präsident Bolsonaro.


Bolsonaro war keine wirkliche Überraschung


Obwohl Michel Temer am Ende seiner Amtszeit ausgesprochen unbeliebt und nicht in der Lage war, die Wirtschaft aus der Stagnation herauszuführen, hat er die Grundlagen für das Kapital gelegt und der Wahl von Bolsonaro in die Hände gespielt. Das radikale Programm zur Einfrierung öffentlicher Investitionen und zur Aufhebung der Arbeitsrechte, das Temer, der unter Dilma Vizepräsident war, durchgeführt hat, verschärfte die Wirtschaftskrise. Die explosive Mischung aus dieser Krise und einer starken konservativen, patriarchalen und autoritären Sklavenbasis, die in dem Land, das weltweit als letztes die Sklaverei abgeschafft hat, stets latent vorhanden ist, gab einen fruchtbaren Nährboden für das Wachsen der extremen Rechten. Jedenfalls setzten die wichtigsten Sektoren der brasilianischen Bourgeoisie nicht auf Bolsonaro, sondern auf Geraldo Alckmin (PSDB von São Paulo). Die Sektoren, die von Anfang an auf Bolsonaro gesetzt hatten, waren die Waffenindustrie, der Einzelhandel und die Mehrheit der Agrarindustrie.

Nicht vergessen werden darf auch, dass es einen regelrechten politisch-ideologischen Kreuzzug gegen die Korruption gab, betrieben von einer „heiligen Allianz“ aus Richtern und Staatsanwälten des Lava Jato, Mainstream-Medien und – wie inzwischen bekannt ist – einem großen Teil der Streitkräfte. Diese vierjährige Kampagne hatte einen entscheidenden Einfluss auf den Überdruss mit dem politischen System, den alten Parteien und den führenden Köpfen und auf die illusionäre Hoffnung der Öffentlichkeit in einen vermeintlich antisystemischen „Retter“ in der Person von Bolsonaro. Die traditionellen Regierungsparteien PSDB und MDB wurden als Vertreter des altmodischen Systems angesehen und mussten bei den Wahlen mit 34 bzw. 29 Abgeordneten eine Niederlage einstecken. Alckmin wäre nie gewählt worden.


Internationalisierte Medienmanipulation


Die erfolgreiche Manipulation von WhatsApp-Gruppen in Bolsonaros Wahlkampf ist Ausdruck einer gefährlichen Internationalisierung der brasilianischen Wahlen und kündigt einen weltweiten Trend an. Vermutlich fand eine internationale Kampagnenberatung durch Marketingfirmen statt, die mit Steve Bannon, dem Strategen von Trump, verbunden sind. Bannon beschäftigt sich mit der Organisation einer „Internationale“ des ultrarechten „Populismus“. Das hat die ausländische Einmischung in den brasilianischen Wahlprozess geprägt, wobei anzumerken ist, dass die Produktionszentren der digitalen Daten, die in diesem Überwachungskapitalismus auf die Wahlen Einfluss nehmen, im Normalfall in den USA angesiedelt sind – ein weiteres Zeichen für den Rückgang nationaler Souveränitäten.

Der rechtsextreme Kandidat surfte auf den hohen Wellen der Unzufriedenheit mit der korrupten, unbeliebten Regierung von Temer, mit der Rezession und der Erwerbslosigkeit, der traditionellen Politik und der PT, sodass es Bolsonaro gelang, sich ein „Anti-System“-Image zu geben. Sein Aufstieg passt daher perfekt zum Szenario der Unberechenbarkeit und der allgemeinen Unregierbarkeit, wie dies in „Capitalist Globalization, Imperialisms, Geopolitical Chaos and Its Implications“ beschrieben ist, einem Dokument, das auf dem letzten Kongress der Vierten Internationale verabschiedet wurde. Selbst ziemlich globalisierte brasilianische Kapitalsektoren wie die Banken, die Versicherungen und die Agrarindustrie haben die „Vermittlung“ im Umgang mit dem demokratischen Regime und den unteren Klassen völlig aufgegeben und sich für eine Alternative entschieden, die ihnen umfassendere Möglichkeiten bietet, ihre Überausbeutung und Plünderung fortzusetzen.

Zurzeit ist eine umfassende kapitalistische Umstrukturierung im Gang, bei der alle öffentlichen Mittel sowie alle Gemeingüter, Land, Energie und Wasser vom System genutzt werden sollen. Kein solches Projekt kann durchgesetzt werden, ohne dass die offene gesellschaftliche Diskussion beendet wird. Es ist derselbe Kontext, in dem rassistische, fremdenfeindliche und nationalistische Gruppen in den Vereinigten Staaten, Frankreich, Deutschland und Indien zunehmen oder in Ungarn und auf den Philippinen an die Macht kommen. Die Schwierigkeiten, wieder Gewinnraten zu erzielen, wie dies bis 2007, also vor dem Finanz-Tsunami von 2007/08, der Fall war, veranlassen die weltweite Bourgeoisie zu Folgendem:

  1. Verfolgung eines globalen Projekts zur fortschreitenden Entrechtung der Arbeiterklasse und der Menschen des „globalen Südens“, inklusive der (erneuten) Einforderung absoluter Rechte an dem, was eigentlich Gemeingut sein sollte: Land, Wasser (Grundwasser, Flüsse, Ozeane), Bodenschätze, Energiequellen.

  2. Das erklärt auch die verstärkten Angriffe auf die nationale Souveränität und bürgerlich-demokratische Regierungsformen, gelten diese doch zunehmend als Hindernis bei der Umsetzung der neoliberalen, vom System und seinen internationalen Organisationen geforderten Projekte wie Strukturanpassungs- und Sparprogramme, Privatisierungen, Verschuldung und Zugriff auf Land und Güter.

  3. Zumindest teilweise Verfolgung einer rechtsextremen Politik mit nationalistisch-protektionistischen Zügen in den Industrieländern und einer ultraliberalen Wirtschaft im globalen Süden. Typisch für diese Politik sind auch ein äußerst konservativer Diskurs in der Zollpolitik mit Strafzöllen, die Ablehnung von Menschenrechten und ein blutiger Krieg gegen illegalen Handel und Banditentum.


Turbulente Zeiten im Kampf um den Regimewechsel


Für die Ausgebeuteten und Unterdrückten in Brasilien zeichnen sich nicht nur düstere und schwierige, sondern auch sehr turbulente Zeiten ab.

Obwohl die Wahl einer neofaschistischen Regierung in Brasilien eine harte Niederlage für die sozialen und demokratischen Bewegungen in Lateinamerika und der Welt bedeutet, handelt es sich nicht um eine historische Niederlage. Der Sprung von den aktuellen reaktionären Verhältnissen zu einer offen konterrevolutionären Situation ist nicht erfolgt und wird unter Umständen auch nicht erfolgen: Das hängt vom Resultat der noch zu führenden Auseinandersetzungen und Kämpfe ab. Die Radikalisierung der politischen Situation in Brasilien wird von der Entwicklung der Weltwirtschaftskrise und ihren Auswirkungen auf die brasilianische Wirtschaft bestimmt sowie von der Fähigkeit Bolsonaros und seiner Regierung, die internen Widersprüche im Block seiner Unterstützer aufzulösen und den Widerstand der brasilianischen Arbeiter*innen und Unterdrückten zu brechen.

Der harte Kern der Regierung verfolgt ein Projekt, das zur Abschottung des Regimes führt, zu einem politischen System, das für den Druck aus der Bevölkerung weniger durchlässig ist. Eine weitere Frage ist, ob das Kräfteverhältnis, das für einen solchen Wandel des politischen Systems erforderlich ist, zurzeit existiert und in welchem Tempo Bolsonaro und sein Führungsstab ihr Projekt durchsetzen können. Die Regierung ist im Wesentlichen autoritär, rassistisch, frauenfeindlich, LGBT-feindlich, militaristisch und antilinks. Außerdem ist sie nicht an demokratischen Institutionen interessiert und scheint einer Logik zu folgen, sich innere und äußere Feinde zu schaffen. Mit einem Wort: Sie ist neofaschistisch. All dies steht im Dienst eines ultraliberalen Programms mit Privatisierungen und dem Abbau von Rechten, eines Programms, das dem protektionistischen Nationalismus des klassischen Faschismus widerspricht.

Neben dem militärischen und ultraliberalen Kern umfasst der Block, der die neuen Regierung unterstützt, ultraliberale religiöse Fundamentalisten (insbesondere die „Universale Kirche des Reiches Gottes“), Teile der Justiz (wie Sergio Moro), die Agrarindustrie, Ökonomen und ultraliberale Bankiers der Chicago School sowie Politiker, die sich von den traditionellen Parteien abwenden – ein wichtiger Teil des Blocks, der für den Putsch von 2016 verantwortlich war. Die Agenden und Projekte dieser Sammlung von Kräften sind zum Teil widersprüchlich. Deshalb wird die Zukunft der Regierung davon abhängen, wie gut es ihrem Kern gelingt, diesen Block in ihr politisches Projekt einzubinden.

Je nachdem, wie sich diese internen und externen Faktoren entwickeln, wird der harte Kern der Regierung das Projekt eines weniger demokratischen politischen Systems besser oder schlechter umsetzen können. 2019 stehen dazu bereits einige Probeläufe an.


Woher die Angriffe kommen: die „Testläufe“ des Neofaschismus


Die internationalen Rahmenbedingungen für ein erneutes Wachstum der brasilianischen Wirtschaft scheinen nicht vielversprechend zu sein. Für das Jahr 2019 wird eine weltweite Rezession erwartet. Und Bolsonaro kündigt nicht nur eine verworrene Ausrichtung auf US-amerikanische und israelische Interessen an (mit dem dummen Vorschlag, die brasilianische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen), sondern er will sich auch Piñeras Chile anbiedern, zum Nachteil Argentiniens und des ganzen Mercosur.

Diese Ausrichtung destabilisiert die Beziehungen mit den für den Aufschwung entscheidenden Wirtschaftspartnern. China ist der bedeutendste Handelspartner Brasiliens, wobei die Handelsbilanz für Brasilien stark positiv ist. Wichtige Direktinvestitionen in Brasilien wie zum Beispiel im Elektrizitätssektor stammen von chinesischen Unternehmen. Arabische Länder sind der Hauptabnehmer von Hühner- und Rindfleisch aus der Agrarindustrie. Wenn man sich in diesem ungünstigen globalen Kontext in der Ausrichtung der internationalen Politik täuscht, kann das die Chancen auf einen minimalen Ausgleich der öffentlichen Finanzen und auf einen funktionierenden Industriesektor zunichtemachen.

Das Projekt „Schule ohne Parteien“ will kontrollieren, was im Klassenzimmer gesagt wird – mit besonderem Augenmerk auf Geschlechterfragen, Sexualunterricht und Kritik an der Regierung. Der gewählte Präsident ruft Eltern und Schüler*innen über soziale Netzwerke auf, Lehrer*innen zu denunzieren, die im Unterricht Geschlechterfragen thematisieren und historische Fragen unter politischen Gesichtspunkten behandeln. Der älteste Sohn des gewählten Präsidenten, Eduardo Bolsonaro, Bundesabgeordneter von São Paulo, hat bereits einen Gesetzentwurf angekündigt, der auch die „Verteidigung des Kommunismus“ unter Strafe stellen will.

Im Bildungsbereich steht zudem ein brutaler Angriff auf die staatliche freie Bildung bevor, insbesondere auf den höheren Stufen. Außerdem will er sich direkt in die Wahl der Rektor*innen einmischen. Gleichzeitig preist er die Vorteile des Fernunterrichts, auch für die Grundstufen (die fünf ersten Jahre!). Weiter schlägt er vor, in Brasilien das Gutscheinmodell einzuführen, das der Bevölkerung wie in Chile Zugang zu Privatschulen verschafft, evtl. auch einen Weg, öffentliche Gelder privaten Schulen zukommen zu lassen.

Der zweite Test wird die Kriminalisierung der Landlosen- und Obdachlosenbewegung (MST und MTST) sein. Die Grundlage dafür liefern „Anpassungen“ des Antiterrorismusgesetzes, die von den neuen reaktionären Gruppen schon nach kurzer Zeit vorgeschlagen wurden (tragischer- und ironischerweise hatte Dilma dieses Gesetz als Reaktion auf die Ereignisse von 2013 erlassen).

Ein weiterer wichtiger Test, der täglich vom „Gott des freien Marktes“ und von den rasch zum Bolsonarismus konvertierten Medien gefordert wird, ist die Reform des Sozialversicherungssystems. Der gewählte Präsident hat bereits mit Temer ausgehandelt, dass es in diesem Jahr zu keiner Abstimmung über Änderungen im Sozialversicherungssystem kommt. Paulo Guedes, Chicago Boy und Superwirtschaftsminister, verspricht bis 2019 eine noch radikalere Reform, die auf den Regeln der Pinochet-Sozialversicherung basiert (alle Arbeitenden sparen individuell für ihren Ruhestand). Wie aus unabhängigen Nachrichten bekannt, hat diese Reform in Chile zu einer sozialen Katastrophe geführt. Die Debatten und Kämpfe zeugen davon.

Im brasilianischen Hinterland wird es zu einer Intensivierung des Kriegs gegen Drogen und Arme kommen, das heißt, die neue Regierung wird den Genozid an der schwarzen Bevölkerung verstärken. Ermöglicht wird dieser Angriff durch die allgemeine Erlaubnis, Waffen zu tragen, und dadurch, dass die brutalen militärischen und kommunalen Sicherheitskräfte grünes Licht bekommen, im Zweifelsfall Menschen zu töten und weiterhin Massenverhaftungen durchzuführen. Dieses Maßnahmenpaket könnte auch die Arbeit von Gewerkschaften, Verbänden und Parteien behindern (Bolsonaro und seine Anhänger haben einen Krieg gegen die Führungen von PT und PSOL angekündigt) sowie die Presse-, Meinungs- und Organisationsfreiheit einschränken.

Darüber hinaus stellt Bolsonaro auch eine große Bedrohung für die globale Umwelt dar. Trump folgend will er die fragile Pariser CO2-Emissionsvereinbarung brechen. Außerdem plant er, die Programme zur Abgrenzung von indigenen Gebieten zu beenden, ein deutliches Signal an die Rinderbesitzer (aber auch an die Produzenten von Sojabohnen und anderen Feldfrüchten an der Agrargrenze im Amazonasgebiet), dass sie grünes Licht für die Zerstörung des Regenwaldes erhalten. Zwar war der große Regenwald schon unter dem Ausbeutungsregime der PT bedroht, doch unter dem Taktstock dieses Freundes von Motorsägen und dem Agrobusiness würde es noch viel schlechter um die „Lunge der Welt“ und die Gewährleistung eines gewissen klimatischen Gleichgewichts in Südamerika stehen.


Internationalen Widerstand und Solidarität organisieren


In Brasilien besteht die grundlegende Aufgabe darin, den Widerstand gegen die Angriffe der neuen Regierung auf die demokratischen Freiheiten und die sozialen Rechte der Menschen zu organisieren. Dazu braucht es einen gemeinsamen Kampf, an dem sich alle beteiligen, die die Demokratie, die Rechte und die Errungenschaften verteidigen wollen, die der Neofaschist angreifen wird. Die Aktivist*innen und Sympathisant*innen der Vierten Internationale werden in diesen Kämpfen, die sich für die Demokratie und die sozialen und sonstigen Rechte der Menschen einsetzen, dabei sein.

Wir werden in den organisierten Bewegungen und Gruppen von Jugendlichen, Schwarzen, Frauen, LGBTs, Ureinwohner*innen und anderen Bevölkerungsteilen mitkämpfen und uns mehr denn je an Arbeitsplätzen, in armen Stadtvierteln, an Universitäten, in Schulen und in Kulturgruppen von prekär lebenden, radikalisierten Jugendlichen engagieren und Besetzungsaktionen von Armen und Landlosen unterstützen. Für besonders wichtig halten wir zudem die Bewegung junger Frauen, die seit Frühjahr 2016 aktiv ist und mit der Aktion #EleNão („er nicht“) allen viel beigebracht hat.

      
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In Lateinamerika, wo die Wahl von Bolsonaro große Auswirkungen haben wird, muss klar sein, dass jeder kleine Kampf, jeder noch so sektoral begrenzte Sieg, sei es gegen Macri, Duque, Piñera oder gegen Ortega und seine Pläne, auch ein Sieg im Widerstand gegen Bolsonaro ist. Keinen Schritt zurück! Der Widerstand in Brasilien hängt auch von der Beharrlichkeit ganz Lateinamerikas und dem Fortschritt der Kämpfe in der ganzen Welt ab.

Deshalb ist es wichtig, dass wir in Europa, den Vereinigten Staaten, in Asien, Afrika und Ozeanien alles tun, um eine breite Kampagne gegen die Angriffe zu führen, die die neue brasilianische Regierung gegen Demokratie, Gesetze und internationale Umweltabkommen (der Regenwald des Amazonas ist stark bedroht!) sowie die sozialen und politischen Rechte der Arbeiter*innen unternehmen wird.

Die Vierte Internationale ruft alle Kämpfenden und alle, die sich für die Umwelt und Demokratie einsetzen, dazu auf, ihre Kräfte zu vereinen, um sich mit folgenden Forderungen gegen Bolsonaros Regierung zu stellen:

Der Wahlsieg von Bolsonaro ist ein weiterer Ausdruck des Wiedererstarkens autoritärer Regime, die die demokratischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte rückgängig machen: Putin in Russland, Orban in Ungarn, das PiS-Regime in Polen, Erdoğan in der Türkei, Duterte auf den Philippinen, Trump in den Vereinigten Staaten, Netanjahu in Israel und rechtsextreme Regierungsparteien in Österreich und Italien … Es braucht eine internationale antiautoritäre und antioligarchische Bewegung, denn die Situation erfordert eine breite Mobilisierung aller politischen Kräfte, die sich für demokratische Rechte, Arbeitnehmer- und Frauenrechte, Umwelt- und Klimaschutz und für die Bewegungsfreiheit der Menschen, kurz gesagt gegen jegliche Unterdrückung einsetzen. Der Aufbau einer solchen globalen Bewegung ist dringend nötig.

Übersetzung: A. W., Birgit Althaler



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2019 (Januar/Februar 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz