Nachruf

Chris Harman (1942–2009)

François Coustal und Dominique Angelini

In der Nacht vom 6. auf den 7. November ist Chris Harman, führendes Mitglied der britischen Socialist Workers Party (SWP), in Kairo, wo er an einer Konferenz teilnahm, nach einem Herzinfarkt gestorben. Chris Harman war 1961 im Alter von 19 Jahren der Socialist Review Group beigetreten, aus der die International Socialists und dann die SWP entstand. Sein politisches Engagement begann mit dem Kampf gegen den Vietnamkrieg. Nach dem Studium an der London School of Economics entschied er sich dafür, sich vollzeitig für den Aufbau einer revolutionären Alternative zu engagieren. Seine theoretischen Beiträge zum Marxismus sind beträchtlich. 1974 veröffentlichte er das Buch Bureaucracy and Revolution in Eastern Europe, eine unabdingbare Ergänzung zu Tony Cliffs Theorie über den staatskapitalistischen Charakter der UdSSR und der Länder im Osten. [1] Über dieses Thema hat er in den 1960er Jahren mit Ernest Mandel polemisiert. [2] Chris Harman hat vielfach zur Ökonomie und noch vor kurzem über die gegenwärtige Krise geschrieben. [3] Es war sein Ziel, die marxistische Theorie für alle verständlich zu machen.

So erklärt sein Buch Economics of the Madhouse [1995], wie diese Theorie auch auf die Gegenwart anzuwenden ist. [4] Im Oktober hat er noch mit Michel Husson über den tendenziellen Fall der Profitrate debattiert. [5] Er schrieb über den Ursprung der Frauenunterdrückung, wobei er die Schwächen, aber auch die Stärken von Engels’ Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats herausstellte. [6] In The Fire Last Time: 1968 and After ging er auf die Revolten von 1968 und der folgenden Jahre ein. [7] Das Buch The Lost Revolution handelt von den revolutionären Ansätzen in Deutschland in den Jahren 1918 bis 1923. [8] 1999 veröffentlichte er People’s History of the World, eines der bedeutendsten Werke zur marxistischen Theorie der Geschichte. Chris Harman hat sich aktiv an dem Aufbau seiner Partei, der SWP, beteiligt, deren Wochenzeitung Socialist Worker er von 1975 bis 1977 und 1982 bis 2004 leitete, danach kümmerte er sich um die Vierteljahreszeitschrift International Socialism. Als Internationalist nahm er immer wieder an Debatten der antikapitalistischen und revolutionären Linken teil. So hat er an Versammlungen der europäischen antikapitalistischen Linken und mehrfach an der Sommeruniversität der LCR teilgenommen. Er war von der Bildung der NPA begeistert und hat im August 2009 auf ihrer Sommeruniversität in Port-Leucate gesprochen.

Sein Tod vor seinem 67. Geburtstag ist nicht nur ein Schock, sondern auch ein schwerer Verlust für alle, die sich für den Sturz des kapitalistischen Systems engagieren. Mit Chris Harman haben die RevolutionärInnen und AntikapitalistInnen einen verloren, der bedeutende Beiträge zu einem lebendigen Marxismus geleistet hat.

Dieser Artikel erschien am 12. November 2009 in der Wochenzeitung der NPA Tout est à nous!

Übersetzung und Anmerkungen: Friedrich Dorn.



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr Nr. 458/459 (Januar/Februar 2010) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] 2. Ausgabe unter dem Titel Class Struggles in Eastern Europe, 1945–83, London: Pluto Press, 1983.

[2] Auf Ernest Mandels Broschüre „The Inconsistencies of State Capitalism“ (1969) antwortete Chris Harman mit dem Artikel „The Inconsistencies of Ernest Mandel“ (1970), Ernest Mandel wiederum mit dem Artikel: „The Mystifications of State Capitalism“ (1970); diese Texte wurden mehrfach nachgedruckt. Auf Deutsch liegt nur der erste Beitrag von Ernest Mandel vor: „Die Widersprüchlichkeit der ,Theorie des Staatskapitalismus‘“, in: Permanente Revolution, Berlin, Nr. 3, August 1972.
Die nach dem Ende der UdSSR verfassten vier Artikel, mit denen Chris Harman und Ernest Mandel die Polemik wieder aufnahmen (zuerst veröffentlicht in International Socialism bzw. Quatrième Internationale) wurden in einem kleinen Buch zusammengefasst: The Fallacies of State Capitalism.Ernest Mandel and Chris Harman debate the USSR, London: Socialist Outlook, 1991. Es ist noch lieferbar.

[3] Zombie Capitalism. Global Crisis and the Relevance of Marx, London: Bookmarks, 2009.

[4] Deutsche Ausgabe: Der Irrsinn der Marktwirtschaft, Frankfurt/M. 1999.

[5] Siehe sein Papier für die Ökonomieseminar der IV. Internationale: „Not all Marxism is dogmatism: A reply to Michel Husson“, http://www.isj.org.uk/?id=600.
Michel Hussons Beitrag: http://hussonet.free.fr/dogmarx9.pdf.

[6] „Engels and the Origins of Human Society“, in: International Socialism, Nr. 65, Dezember 1994, S. 83–142.
http://pubs.socialistreviewindex.org.uk/isj65/harman.htm.

[7] 1. Ausg. 1988; 2. Ausg. 1998. Deutsche Ausgabe: 1968. Eine Welt in Aufruhr, Frankfurt/M. 2008.

[8] 1. Ausg. 1982; 2. Ausg. 1997. Deutsche Ausgabe: Die verlorene Revolution. Deutschland 1918–1923, Frankfurt/M. 1988.
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