Vierte Internationale

Siebzig Jahre nach Gründung der IV. Internationale

Håkan Blomqvist

„Arbeiter und Arbeiterinnen aller Länder, tretet hinter das Banner der Vierten Internationale. Es ist das Banner eures kommenden Sieges!”

Man könnte meinen, diese Proklamation wäre den TeilnehmerInnen eines mächtigen revolutionären Kongresses in Lausanne zugerufen worden. Und selbst wenn die versammelten Delegierten von allen Enden der Welt realistischerweise einräumen würden, dass die Bewegung erst im Anfangsstadium ist, so wären sie doch sicher, dass bald Millionen ihren Bannern folgen und Faschismus, Kapitalismus und Stalinismus hinwegfegen werden.

In Wirklichkeit waren es etwa zwanzig Personen, die am 3. September 1938 insgeheim in einem Häuschen in Périgny bei Paris zusammenkamen. Sie repräsentierten ein paar versprengte politische Gruppierungen in elf Ländern mit jeweils ein paar Handvoll Mitgliedern. Zu den erfahrensten zählten die Polen, mit Wurzeln in der Bewegung von Rosa Luxemburg. Doch sie warnten vor einer Unterschätzung des Einflusses der Sozialdemokraten und der Kommunisten und davor, die Proklamation der Vierten Internationale zu einer „leeren Geste” werden zu lassen. Die Entscheidung zur Bildung der „Weltpartei der sozialistischen Revolution” fiel mit 19 gegen 3 Stimmen.

Es wäre leicht, dieses Ereignis als eine tragische Farce hinzustellen. Das Häuschen stellte der legendäre französische Revolutionär Alfred Rosmer zur Verfügung, der aber selbst nicht an der Sitzung teilnahm, weil er das ganze Projekt für durch und durch unrealistisch hielt. Die heimlichen Sicherheitsmaßnahmen waren derart wirkungsvoll, dass Stalins Geheimdienst in Gestalt des russischen Delegierten „Étienne” direkt repräsentiert war. Und die US-amerikanische Übersetzerin Sylvia Agelof hatte sich nach ihrer Ankunft nicht nur in Paris verliebt, sondern auch in einen Mann, den sie zu dem Ort der geheimen Zusammenkunft mitschleppte. Er nannte sich Jacques Mornard und sollte zwei Jahre später, wie von Stalin angeordnet, mit einem Eispickel auf Leo Trotzkis Kopf einschlagen. Leo Trotzki, unverkennbar der führende Kopf der Bewegung, war in Mexiko sicher außer Reichweite.

Die Erbin der ersten drei Internationalen, die selbstproklamierte Vierte, war nicht nur winzig. Sie wurde auch unter völlig anderen Bedingungen gegründet.

Die Erste Internationale wurde 1864 in Marx’ und Bakunins Zeit gebildet, als der Kampf gegen die Sklaverei in Nordamerika, der polnische Aufstand gegen das zaristische Russland und Garibaldis Befreiungsbewegung in Italien ein radikales Klima geschaffen hatten, in dem sich die erste Generation von Arbeiterorganisationen in Europa und in Nordamerika betätigen konnten.

Die 1889 gegründete Zweite Internationale wurde von rasch anwachsenden Massenbewegungen getragen, mit der erfolgreichen deutschen Sozialdemokratie an vorderster Front. Die Dritte oder Kommunistische Internationale wurde 1919 inmitten der stürmischen revolutionären Periode nach der bolschewistischen Revolution in Russland gegründet.

1938 war jedoch der Faschismus im Auftrieb. Als sich die kleine Gruppe in Périgny versammelte, war die spanische Republik damit beschäftigt, sich nach ihrer letzten großen Niederlage am Ebro einen Überblick über ihre katastrophalen Verluste zu verschaffen. Fünf Monate vorher waren Hitlers Truppen nach Österreich einmarschiert. Sie machten endgültig Schluss mit den „Austromarxisten”, der radikalen Sozialdemokratie, die Haus um Haus gegen die katholische Diktatur gekämpft hatte. Zur gleichen Zeit war die französische Volksfront, angetreten mit radikalen Versprechen, auseinandergefallen. Der größere Teil der Arbeiterbewegungen in Europa war von Faschismus, Nazismus und Diktaturen zerschlagen worden. Es war nur wenige Tage bis „München”, wo der britische Premierminister Chamberlain die Tschechoslowakei preisgeben und Hitler freie Bahn zum Weltkrieg gewähren sollte.

Es war jedoch auch der Herbst des Stalinismus. Im März war in Moskau der dritte große Schauprozess gegen die bolschewistische alte Garde mit den Todesstrafen gegen die legendären bolschewistischen Parteiführer Bucharin, Rykow, Rakowski und Krestinski zu Ende gegangen. Nun waren sie fast alle dahin – die Architekten der Oktoberrevolution, Lenins Genossen, die zwanzig Jahre früher die Bourgeoisie aus Angst vor der Weltrevolution zum Zittern gebracht hatten.

Während der sogenannten Jeschowtschina – der Terrorkampagne unter Leitung des sowjetischen Sicherheitsbosses Nikolai Jeschow – wurden fast 700 000 imaginäre oder reale politische Stalin-Gegner von Erschießungskommandos exekutiert. Gewöhnlich wurden sie als „Saboteure”, „Spione” oder „Trotzkisten” erschossen, ohne dass irgendetwas davon wahr gewesen wäre. Doch war die Repression bis Ende der 1920er Jahre während der groß angelegten Razzien auf die wirklichen Anhänger und Anhängerinnen des verbannten Leo Trotzki konzentriert gewesen. Ihre Zahl belief sich auf mehrere Zehntausend, und sie waren nicht zuletzt unter denen zu finden, die einst in die Rote Armee mobilisiert worden waren und die Trotzki als den natürlichen Nachfolger von Lenin betrachteten.

Diejenigen, die sich in Périgny versammelten, wussten natürlich von den Todesurteilen und den Massendeportationen in die sich ausdehnenden sibirischen Lager im Osten. Die polnische Delegation erreichten Gerüchte über das, was aus der Führung der polnischen kommunistischen Partei geworden war, die im Frühjahr nach Moskau gerufen worden und ohne Zeremonie erschossen worden war. Allerdings hatten sie noch kein vollständiges Bild von den Auswirkungen des Terrors.

Noch war die Illusion lebendig, dass die russischen Anhänger der neuen Internationale – ihre „größte Sektion” – einen Kader von erfahrenen Bolschewiken für die Bewegung werde stellen können, wenn die letzte Stunde des Stalinismus geschlagen hat.

Die trostlosen Echos der Gewehrschüsse in Workuta während des Frühjahrs und Winter 1938 waren jenseits der Tundra nicht zu vernehmen. Dort, in dem großen Gulagsystem des Petschoragebiets, befanden sich an die 100 000 Gefangene, die als „Trotzkisten” eingestuft worden waren, während sich die Zahl der organisierten wirklichen „Bolschewiki-Leninisten” auf vielleicht ein paar Tausend belief. Viele hatten zu der Linken Opposition unter Führung von Trotzki gehört, die sich am Anfang der 1920er Jahre gegen Stalins zunehmenden Nationalismus und die Bürokratisierung des Sowjetstaats gewandt hatten. Ihr gut organisierter, 132 Tage andauernder Hungerstreik für bessere Bedingungen in den Lagern war bekannt geworden – und erfolgreich gewesen. Viele hofften sogar auf Amnestie am Jahrestag der Oktoberrevolution und auf neue Möglichkeiten, ihre Botschaft zu verbreiten.

Doch wurden die „Trotzkisten” im Winter 1937/38 in ein entlegenes neues Lager verbracht, und dort sind sie Woche um Woche, den ganzen März und April hindurch, in Gruppen alle erschossen worden. Vielleicht wusste „Étienne” von ihrem Schicksal, und dass die „russische Sektion” bis auf den letzten Mann und die die letzte Frau ausgerottet war. Die Versammelten, die eine neue Internationale proklamierten, hatten jedoch noch die Hoffnung auf eine Renaissance der jungen russischen bolschewistischen Ideale.

Und hier trifft das Wort „Farce” nicht mehr zu – es ist in Anbetracht der Umstände reichlich obszön. Denn selbst wenn sich die Versammelten in den Worten des Historikers Isaac Deutscher „nicht einmal von [der] offenkundigen Hoffnungslosigkeit” der Aufgabe aufhalten ließen, so weigerten sie sich doch, die Transformation des Sozialismus und der Revolution in die Sklavenlager des Stalinismus, in seinen Despotismus und blinden Gehorsam zu akzeptieren. Sie waren davon überzeugt, dass die ursprünglichen bolschewistischen Ideale von der Befreiung der arbeitenden Klassen – durch selbstlosen Internationalismus, unabhängigen Klassenkampf, Selbstaktivität und Solidarität – aus dem furchtbaren Zusammenbruch der internationalen Arbeiterbewegung, wie er für diese Zeiten so bezeichnend war, gerettet werden mussten.

An dem ersten und einzigen Konferenztag wurde eine Flut von Resolutionen und Erklärungen produziert, längere und knappe – von Erklärungen gegen den kommenden Weltkrieg, die Unterdrückung durch den Stalinismus, den Faschismus und den US-amerikanischen Imperialismus bis zu konkreten Ratschlägen für die Organisierung und das interne Leben dieser oder jener Gruppe. Zu der Zuversicht der Ideen kamen sowohl zutreffende Prophezeiungen als auch unrealistische Voraussagen hinzu. Das Herangehen an die barbarische Bedeutung der Weltkriege, der stalinistischen Ausrottung der revolutionären MarxistInnen und der Arbeitermacht in der Sowjetunion sowie die Erhebung der kolonialen Welt war Teil der ersteren. Die Hoffnung auf den Zusammenbruch der alten Sozialdemokratie und der von Moskau geführten kommunistischen Parteien dank einer Volksrevolution (unter dem Banner der Vierten Internationale) nach dem Weltkrieg war Teil des Wunschdenkens.

Genau wie die polnischen Delegierten befürchtet hatten, schien die Proklamation des Jahres 1938 nichts als eine leere Geste zu sein. Unter dem Druck des Hitler-Stalin-Pakts, von dem neuen Weltkrieg ganz zu schweigen, spalteten sich mehrere der bereits winzigen Gruppierungen. Der Vorsitzende des Gründungskongresses, Max Shachtman, gehörte zu denen, die keine zwei Jahre später von der ganzen Idee Abstand nahmen, dass der Arbeiterstaat in der Sowjetunion trotz der Repression im kommenden Weltkrieg gegen den Imperialismus zu verteidigen sei. Die französischen AnhängerInnen spalteten sich in BefürworterInnen eines nationalen Verteidigungskriegs gegen die deutsche Invasion 1940 und BefürworterInnen der revolutionären Strategie des Ersten Weltkriegs mit dem Versuch, Verbrüderung über die Schützengräben hinweg zu schaffen. Die chinesischen „Trotzkisten” suchten an ihrem Plan der Organisierung der städtischen Arbeiterklasse im Untergrund festzuhalten, während die Gefolgsleute von Mao Zedong sich für den Aufbau einer nationalen Bauernarmee entschieden, die eines Tages nach Beijing, Nanjing und Shanghai einmarschieren und dort auf ihre Rivalen treffen sollte. Chen Duxiu, der Gründer der chinesischen kommunistischen Partei, der Trotzki gefolgt war, verzweifelte daran, dass die Bewegung „von der Welt abgeschlossen” dahinlebt und mit ihrer Fixierung auf das städtische Proletariat, das von Chiang Kai-shek und den japanischen Besatzern zerschlagen worden war, ihre Chancen verschläft; als er 1942 starb, stand er den chinesischen „trotzkistischen” Organisationen recht fern.

Viele AnhängerInnen von Trotzki wurden verhaftet oder sogar ermordet. Sein Sohn und engster Mitarbeiter Leo Sedow, seine früheren Sekretäre Rudolf Klement und Erwin Wolf wurden zu Ehrenvorsitzenden des Kongresses ernannt, nachdem sie im zurückliegenden Jahr von der sowjetischen GPU ermordet worden waren. „Mit unserem Jungen ist alles in uns, das noch jung war, gestorben”, schrieben Trotzki und seine Frau nach dem Tod ihres Sohns, ihm sollten nur noch zwei Jahre bleiben. Die „Trotzkisten”, die gegen die globalen Machtblöcke des Weltkriegs die bolschewistische revolutionäre Richtung aufrecht zu erhalten suchten, waren daher für alle Lager – die Faschisten, die Sowjetunion und die westlichen Verbündeten – Feinde, und sie zahlten in Form von Repression, Gefangenschaft, Hinrichtungen und Morden einen denkbar hohen Preis.

„In den nächsten zehn Jahren wird das Programm der Vierten Internationale für Millionen zur Richtschnur werden, und diese revolutionären Millionen werden es verstehen, den Himmel und die ganze Erde zu stürmen”, sagte Trotzki im Oktober 1938 in einer Rede über die Gründung der neuen Internationale voraus. Vielleicht tat er das hauptsächlich, um den kleinen Gruppen Mut zu machen, die mit einer mikroskopisch kleinen Chance, dieses Ziel zu erreichen, durch Blut und Feuer hindurch gehen sollten. In Bezug auf Einstellung und Temperament gab es nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen der Routine eines Gewerkschaftsvertreters oder Parteiangestellten und den „Bolschewiki-Leninisten” der Vierten Internationale.

Den russischen Bolschewiki hätte es seinerzeit gut gefallen, von einer zu Tode erschrockenen europäischen Bourgeoisie als „die Moslems des Sozialismus” verurteilt zu werden. Viele Bolschewiki zogen den Vergleich mit den Jakobinern der Französischen Revolution vor, und diese Ansicht wurde von denen geteilt, die die neue Weltbewegung aufbauen wollten.

Der Glaube in die Macht ihrer Ideen war nahezu grenzenlos: „Wir arbeiten mit den wirklichsten und mächtigsten Ideen auf der Welt, selbst wenn unsere zahlenmäßigen Kräfte und unsere materiellen Ressourcen nicht ausreichen”, erklärte Trotzki in einem persönlichen Brief an James P. Cannon. „Aber wirkliche Ideen gewinnen am Ende immer und erobern sich die notwendigen materiellen Mittel und Kräfte.”

      
Mehr dazu
Aufruf von RSB und isl: 75 Jahre IV. Internationale, Inprekorr Nr. 6/2013 (November/Dezember 2013)
W.A.: Vor 75 Jahren:
Die späte Gründung der IV. Internationale
, Inprekorr Nr. 6/2013 (November/Dezember 2013) (nur online)
Heinrich Neuhaus: Ein bedeutendes Erbe – das Übergangsprogramm von 1938, Inprekorr Nr. 6/2013 (November/Dezember 2013) (nur online)
François Sabado: IV. Internationale: Aus Anlass des 70. Jahrestags der Gründung, Inprekorr Nr. 444/445 (November/Dezember 2008)
 

Etwa ein Jahrzehnt nach dieser Prophezeiung war ein Weltkrieg geführt worden, der an die 60 Millionen Tote hinterlassen und die Ausrottung ganzer Völker eingeschlossen hatte. Eine Welle von Radikalismus und eine Stimmung von Erhebung schwappte, wie vorausgesagt, am Ende des Kriegs über die Schlachtfelder, und an viele Orten spielten „Trotzkisten” eine Rolle, von den großen Streiks bei Renault in Paris bis zum Widerstand gegen die französische Kolonialmacht in Indochina, unter Teearbeitern in Sri Lanka und Bergarbeitern in Bolivien.

Aber die Vierte Internationale als eine millionenstarke Armee der Weltrevolution gehörte in den Bereich der Träume aus einer anderen Zeit. Denn die Rote Armee der Realität war siegreich aus dem „Großen Patriotischen Krieg” hervorgegangen, und die Sozialdemokratie reihte sich in den Westblock ein.

Als die Welt 1948 in das „Gleichgewicht des Schreckens” zwischen dem West- und dem Ostblock eingefroren wurde, war die Bewegung, die entgegen aller Wahrscheinlichkeit überlebt hatte, mit wenigen Ausnahmen marginal geblieben. Und die Ideen fanden nur in Ausnahmefällen Träger, die sich nicht selten und unermüdlich untereinander zerfleischten, in vergeblichen Bemühungen, Wege zu realem Einfluss zu finden. Erbitterte Sekten und selbstbezogene zwanghafte Lügner waren Teil der Nachgeburt. Aber es gab auch lebendige und kreative Organismen, die in den neuen sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit eine Rolle spielen konnten, von den 1968er Protesten gegen Imperialismus und Krieg bis zum Eintreten für Arbeiter- und Frauenrechte in einer globalisierten Solidarität mit den Ohnmächtigen auf der Welt.

Dies ist nicht der Ort, diese spezielle Geschichte zu schreiben. Für diejenigen, die vor 70 Jahren in Périgny zusammengekommen waren, lag sie in einer unbekannten Zukunft. In einer Zeit, in der alles verloren schien, wollten sie die grundlegende Idee des Sozialismus retten – die Selbstemanzipation der arbeitenden Menschen. Vielleicht brauchen wir heute genau diesen nicht nachlassenden Mut.

Håkan Blomqvist, 1951 geboren, hat als Arbeiter, Journalist und in der Erwachsenenbildung gearbeitet, ist jetzt als Historiker mit den Schwerpunkten Arbeiterbewegung, Sozialismus, Rassismus und Antisemitismus an dem Institut für Zeitgeschichte einer Universität in Stockholm tätig und ist neben seiner universitären Tätigkeit u. a. mit Abendkursen an Bildungsarbeit für GewerkschafterInnen und andere in älteren und neueren sozialen Bewegungen Aktive beteiligt.

Aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Friedrich Dorn.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 444/445 (November/Dezember 2008). | Startseite | Impressum | Datenschutz