China – eine kapitalistische Supermacht?

In diesem kurzen Interview mit der niederländischen Zeitschrift „Grenzeloos“ erörtert Gilbert Achcar die Frage, ob es China gelingen wird, zu einer solchen Art von Supermacht zu werden, die für die Vereinigten Staaten eine Herausforderung wäre.

Gilbert Achcar

 Was hältst du von der Vorhersage, dass China in einigen Jahrzehnten eine Supermacht sein wird, die für die USA auf globaler Ebene eine Herausforderung wäre?

Diese Art von Vorhersagen stützen sich in der Regel auf eine Übertragung der gegenwärtigen Wachstumsraten Chinas auf später. Dabei ist es überhaupt nicht sicher, dass China diese Wachstumsraten über Jahrzehnte hinweg so hochhalten kann – ganz zu schweigen davon, dass niemand auf die soziale Stabilität des chinesischen Staates setzen kann in Zeiten, in denen eine zunehmende Ungleichheit zunehmende Spannungen hervorruft.

Außerdem wird der Abstand zwischen den Militärausgaben der USA und denen Chinas nicht weniger, sondern nimmt jedes Jahr noch zu, wobei die USA bei den Militärausgaben den Rest der Welt übertreffen. Mit dem Ziel, ihre „Dominanz auf ganzer Breite“ zu erhalten, behalten die USA alle ihre potentiellen Rivalen – auch China – scharf im Auge. Vorhersagen wie die, die du genannt hast, sind für Washington und das Pentagon sehr nützlich, da sie das riesige Militärbudget der USA rechtfertigen.

In Wahrheit aber gibt es heutzutage nur eine „Hypermacht“ (mit einer Menge Vasallenstaaten) und zwar die USA, die sich auf einem aggressiven, imperialistischen und für die gesamte Menschheit schädlichen Kurs befinden.

 Was für Auswirkungen hat Chinas Integration in die globale kapitalistische Ökonomie auf seine geopolitische Bedeutung?

Es gibt da mehrere Auswirkungen. Ich werde hier nur ein paar entscheidende nennen: Je mehr China einerseits eine Schlüsselrolle im kapitalistischen Weltmarkt spielt, desto abhängiger wird dieser Markt vom Zustand der chinesischen Wirtschaft und desto mehr wird der globale Kapitalismus ein Interesse an der Stabilität von China haben.

China ist sowohl zu einem großen Markt geworden als auch zu einem großen Exporteur: Daher gehört es zu einer völlig anderen Kategorie als zum Beispiel der Iran. Washington hätte nichts gegen eine Destabilisierung des Iran, welche sich nicht automatisch auf die iranischen Ölexporte auswirken würde. Ein ernsthaft destabilisiertes China dagegen würde den globalen Kapitalismus in eine sehr gefährliche Krise führen.

Andererseits, hängt China immer mehr nicht nur vom amerikanische Markt, sondern auch von einer gut funktionierenden amerikanischen Wirtschaft ab, da es schon jetzt eine bedeutende Menge an US-Dollars, Bürgschaften und Obligationen hält und anfängt, sich auf dem amerikanischen Aktienmarkt zu bewegen,

Das heißt aber auch, dass die chinesische Regierung immer mehr in Solidarität mit dem globalen kapitalistischen System handeln wird – ganz im Gegensatz zu den Illusionen derer, die glauben, dass China die Rolle einer UdSSR in einer neuen globalen Zweiteilung der Welt spielen wird. In Wahrheit aber würde es China viel mehr als Russland verdienen, beim G8-Gipfel der reichen Länder teilzunehmen.

 Welche Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den USA und China hat die zunehmende Präsenz der Vereinigten Staaten im Gebiet des Kaspischen Meeres und in Zentralasien?

Die Entwicklung, die ich oben beschrieben habe, ist eigentlich nur durch eben dieses Verhalten der USA gefährdet: Die ChinesInnen haben einen sehr feinen Sinn für nationale Angelegenheiten und nehmen den USA die fortwährenden Übergriffe auf das, was sie als ihre Hoheitsrechte betrachten (Taiwan eingeschlossen), sehr übel.

Sie lehnen das Verhalten Washingtons als „hegemonial“ ab – und sie haben Recht damit. In China hat man das sehr berechtigte Gefühl, dass die USA dabei sind, sie einzukreisen: Seit dem Afghanistankrieg ist US-amerikanisches Militär in Zentralasien, also an Chinas Nordwestseite, präsent. Von Peking aus betrachtet, wirkt das wie die westliche Backe eines Schraubstocks, der China einklemmen möchte. Die amerikanischen Streitkräfte in Japan und Südkorea wären dann die östliche Backe.

Dazu kommt noch, dass die amerikanische Militärpräsenz in Zentralasien mitten im Zentrum der Landmasse steht, die Russlands europäischen Kern mit China verbindet. Sie verfolgt das klare Ziel, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion betriebene militärische Kooperation zwischen Peking und Moskau zu unterbinden.

Außerdem haben die USA durch ihre Präsenz im Gebiet des kaspischen Meeres die direkte Kontrolle über das Öl im arabisch-persischen Golf. Das sichert Washingtons Griff nach Chinas Hauptquellen von Kohlenwasserstoffen ab und vergrößert Chinas Verwundbarkeit hinsichtlich US-amerikanischer Dominanz.

 Wenn China sich zu einer kapitalistischen Macht mit (wenigstens regionalen) imperialistischen Ambitionen entwickelt, was für einen Unterschied macht das Ergebnis dieser amerikanisch-chinesischen Rivalität dann für internationalistische SozialistInnen?

Im Augenblick wäre es sehr falsch, China in dieselbe „imperialistische“ Kategorie zu stecken wie die USA, auch wenn man den chinesischen „Imperialismus“ auf eine regionale Ebene reduziert.

Im Wesentlichen betreffen die territorialen Ansprüche Chinas – zumindest in chinesischen Augen – Angelegenheiten der nationalen Souveränität: China blickt auf eine bittere Geschichte von Unterdrückung im 19. und 20. Jahrhundert durch westliche Mächte zurück. Es sieht sich selbst im Prozess der Aufarbeitung seiner Vergangenheit.

Was auch immer man über Taiwan denken mag und über das Recht seiner Bevölkerung auf Selbstbestimmung, so sollte es doch für jedeN SozialistIn offensichtlich sein, dass zwar einerseits das Recht Chinas, Anspruch auf die Insel zu erheben, diskutiert werden kann. Andererseits ist aber klar, dass diese Angelegenheit Washington sicher nichts angeht.

Sollte es wegen Taiwan zu einer Konfrontation zwischen China und den USA kommen, würde Peking aus der Überzeugung handeln, die Hoheit über sein besetztes Gebiet wiedererlangen zu wollen. Washington dagegen würde es darum gehen, seinen Anspruch auf globale imperiale Hegemonie zu bekräftigen. AntiimperialistInnen können in einem solchen Fall nicht neutral bleiben, sondern sollten ihre erste Priorität darauf setzen, die USA zu stoppen.

Gilbert Achcar lebte, bevor er nach Frankreich ging, viele Jahre im Libanon. Er lehrt Politik und International Relations an der Universität von Paris. G. Achcar schreibt regelmäßig Beiträge für „Le Monde Diplomatique“ und ist der Autor mehrerer Bücher über Politik. Besonders erwähnenswert sind „Der Kampf der Barbareien: Der 11. September und die neue Weltunordnung“ und, erst kürzlich, „Der Ost-Kessel“, beide in der Monthly Review Press veröffentlicht.

Übersetzung: S.Lustig



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 406/407 (September/Oktober 2005). | Startseite | Impressum | Datenschutz